Homosexualität:"Ich habe nur halb gelebt"

Homosexualität: Er ist 74 Jahre alt, schwul und hat sich lange versteckt.

Er ist 74 Jahre alt, schwul und hat sich lange versteckt.

(Foto: Annette Cardinale)

Mit 18 kommt er ins Gefängnis, weil er sich mit Männern traf. Jetzt, mit 74, wird seine Strafe annulliert. Zu spät für sein Glück.

Von Benedikt Peters

Er versucht es mit seinen Augen. Wenn er einen sieht, der ihm gefällt, einen kräftigen, hübschen, dunkelhaarigen, schaut er ihn einfach an. Lächelt. Wie früher. Aber die Männer schauen heute meistens weg. Oder sie runzeln die Stirn und fragen: Was willst du? Ach, nix, sagt er dann. Geht nach Hause, macht die Glotze an, trinkt ein Glas Rotwein. "Zu viel in letzter Zeit", sagt er. 74 Jahre ist er alt, oft erschöpft, manchmal gerät das Herz aus dem Takt. Aber er ist immer noch ein attraktiver Mann. Ebenmäßige Gesichtszüge, dunkler Teint, graublaue Augen. Sein Name soll keine Rolle spielen. Zu intim, sagt er.

Manchmal sitzt er da in seiner Wohnung in seiner Heimatstadt in Süddeutschland und fragt sich, wie alles gekommen wäre, wenn er ein paar Jahrzehnte später geboren worden wäre. In den 1990ern, sagen wir, nicht in den 1940ern. Ob er dann auch im Alter da säße, allein, nach einer kaputten Ehe, unzähligen Versteckspielen und einer abgesessenen Gefängnisstrafe.

Er müsste ja eigentlich froh sein in diesen Zeiten, das sagt er selbst. Sie sind ja recht gut für alle, die so sind wie er. Schwule und Lesben dürfen seit 1. Oktober endlich heiraten. Und die Urteile aufgrund des Paragrafen 175, der Homosexualität unter Strafe stellte, wurden vor Kurzem aufgehoben. Es ist dieser Paragraf, der auch sein Leben bestimmt hat. Bis 1969 drohten in der Bundesrepublik Männern, die sich küssten oder Sex miteinander hatten, bis zu fünf Jahre Gefängnis. Danach wurde der Paragraf abgeschwächt und 1994 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Die Urteile aber blieben bis zu diesem Sommer gültig. Etwa 50 000 Männer wurden nach Angaben der Bundesregierung wegen ihrer Homosexualität schuldig gesprochen. Die meisten von ihnen starben als verurteilte Straftäter, heute leben nach Schätzungen noch etwa 5000 von ihnen. Sie sind fast alle über 70 oder noch älter, haben den Großteil des Lebens hinter sich - so wie er.

Er bekommt jetzt eine Entschädigung für seine Verurteilung und die Gefängnisstrafe damals, 4500 Euro. Er freut sich auf das Geld, sagt er, "das ist ein bisschen späte Gerechtigkeit". Und gleichzeitig macht ihn das Geld wehmütig, so wehmütig, dass er manchmal weinen muss. Denn die späte Gerechtigkeit, sagt er, habe auch etwas Bitteres. Was bringen schon 4500 Euro, jetzt wo er alt ist? Nach all den Beleidigungen, all den Versteckspielen? Für sein persönliches Glück kommt die Rehabilitierung zu spät. "Ich habe nur halb gelebt", sagt er.

Dass er schwul ist, ahnte er schon als kleiner Junge, mit sieben oder acht Jahren. Da war diese Geschichte mit Hansi. Sie badeten im See mit ein paar Kindern aus dem Dorf, und Hansi, der größte und kräftigste, packte die Kleineren und warf sie durch die Luft, meterweit. Hansi packte auch ihn, und ihn packte das Verlangen. "Nochmal! Nochmal!", schrie er, und jedes Mal drückte er sich fester an Hansi, spürte die warme, kräftige Haut.

Schulkameraden heiraten und gründen Familien - mit Frauen

Sein Weg ins Gefängnis beginnt ein paar Jahre später. Nach der Schule ist er allein zu Hause, die Mutter arbeitet sich krumm als Verkäuferin, der Vater ist im Krieg gefallen. Er macht die Hausarbeit der Familie, klopft Teppiche aus, putzt. Kocht das Essen für den Abend, wenn die Mutter nach Hause kommt. An den Nachmittagen lädt er sich Schulkameraden vom Jungengymnasium ein. Sie küssen sich, sie onanieren. Einer zeigt ihm, was Oralsex ist. Später werden die Schulkameraden heiraten und Familien gründen - mit Frauen natürlich.

Irgendwann in dieser Zeit fragt sich seine Mutter, warum immer Jungs bei ihm zu Hause sind. Und auch, warum immer Jungen oder junge Männer dabei sind, wenn er mit den Hunden im nahegelegenen Wald Gassi geht. Immer öfter gibt es Streit. Ob er schwul sei, das fragt die Mutter allerdings nie. "Darüber wurde nicht gesprochen", erzählt er. "Aber sie muss etwas geahnt haben."

Eines Tages stehen zwei Männer in Uniform vor seiner Tür. "Kriminalpolizei, Abteilung Sitte", sagt einer. Sie nehmen ihn mit zum Verhör. Fotografieren ihn, nehmen seine Fingerabdrücke. Ein Polizist sagt: "Gib es lieber zu, sonst müssen wir deinen Arbeitgeber informieren." Er macht gerade eine Lehre im örtlichen Kaufhof. "Es wäre doch schade, wenn du deine Stelle verlierst", sagt der Polizist. Jahrzehnte später, als seine Mutter gestorben ist, wird er bei ihr einen Brief ans Jugendamt finden. Es war sie, die ihn wegen seiner Homosexualität denunzierte. Das Jugendamt wiederum schickte die Sittenpolizei.

Die Anklageschrift kommt per Post am 21. Dezember 1961. Er wird beschuldigt, einem Mann im Kino "in wollüstiger Absicht" über den Oberschenkel gestreichelt zu haben. Mit weiteren Männern soll er "gegenseitig onaniert" und "den Mundverkehr ausgeübt" haben. Die Anklage beruft sich eben auf jenen Paragrafen 175, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte. Er bekommt zwei Jahre Haft auf Bewährung, und zusätzlich muss er drei Wochenenden im Gefängnis verbringen.

Sein eigentliches Verbrechen, sagt er, begeht er mit 22

1962 tritt er die Strafe an. "Da kommt das Schwein", sagt einer der Wärter als er das erste Wochenende ins Gefängnis muss. Sie stecken ihn in Isolationshaft, "damit du die anderen Häftlinge nicht verführst". Einmal darf er am Hofgang teilnehmen, aber er muss fünf Meter Abstand zu den anderen halten. In der Zelle hört er die Kirchturmuhr schlagen, jede Viertelstunde. Er vertreibt sich die Zeit mit Readers-Digest-Heften. Noch heute zuckt er zusammen, wenn er eines von ihnen herumliegen sieht, etwa beim Arzt im Wartezimmer.

Sein eigentliches Verbrechen wird er erst drei Jahre später begehen. So sieht er es zumindest. Mit 22 Jahren heiratet er das Nachbarsmädchen, das ihn seit Jahren anhimmelt. "Ich hätte ihr das niemals antun dürfen", sagt er. Seine Mutter ist damals begeistert. Dann geht das weg mit der Homosexualität, das war ihr Hintergedanke, sagt er. Sie bekommen zwei Kinder. "Mit dem Sex, das ging am Anfang irgendwie", sagt er. "Ich dachte eben: Das muss so sein. Aber maximal war es bestimmt nicht." Wenn er mit seiner Frau schläft, denkt er immer öfter an Männer.

Mit Mitte zwanzig wird er zum Ehebrecher. Am Wochenende geht er abends ins Theater, seine Frau interessiert das nicht so. Danach schleicht er sich rüber in den Park. Es gibt diesen Park noch heute: Ein breiter Sandweg, Parkbänke unter Kastanienbäumen. "Hier war damals die Parade", sagt er. "Man ging aneinander vorbei, und dann war die Frage: Wer bleibt stehen? Wer dreht sich zu einem hin?" Blieb einer bei ihm stehen, verschwanden sie im Gebüsch. Oder in einer Nische hinter dem Jugendstilschlösschen in der Mitte des Parks. Sie masturbieren, manchmal haben sie Oralsex. Das war's. "Analsex, das kannte ich überhaupt nicht", sagt er. "Woher auch?"

Mit Mitte 30 geht es nicht mehr, die Ehe zerbricht. Er zieht in eine kleine Wohnung am Stadtrand. Im ersten Jahr an Weihnachten sind die Töchter bei ihm, sie sind sechs und zwölf Jahre alt. Er denkt darüber nach, was er ihnen angetan hat. Wie es wohl ist für sie, mit einem schwulen Vater aufzuwachsen - im Deutschland der Siebzigerjahre. An Silvester betrinkt er sich. Fährt die dreizehn Stockwerke hoch. Steht am Rand der Dachterrasse, sieht die bunten Blitze der Silvesterraketen. "Jetzt springe ich", denkt er. Und fährt doch wieder in seine Wohnung.

Seine große Liebe Benedikt stirbt an Krebs

Mit der Liebe hätte es fast doch noch geklappt. In einem Einkaufszentrum lernt er einen Priesteramtskandidaten kennen, er ist nur ein paar Jahre jünger, sein Name: Benedikt. "Er war ein Gottesgeschenk für mich damals, an Güte, Liebe, Zuneigung, Verständnis." Beide wissen, was es heißt, sich zu verstecken. Sie reden viel, fassen den Plan, gemeinsam wegzugehen, weit weg. Dahin, wo sie niemand kennt. Einfach noch mal neu anfangen. Doch der Krebs kommt dazwischen. Benedikt ist unheilbar krank, stirbt nach ein paar Monaten. Eine zweite Beziehung geht später nach kurzer Zeit in die Brüche.

Er ist schon über vierzig, als er all die Heimlichkeiten und die Streifzüge durch die dunklen Parks nicht mehr aushält. Er weiß, dass es seit Längerem Gerede gibt, unter seinen Kollegen, seinen Freunden. Seine Vorlieben für klassische Musik, Kunst, Literatur. Die gepflegten Fingernägel. Seine Gesten, die manche "weibisch" finden. Eines Abends, er arbeitet zu dieser Zeit als Wirt in einer Kneipe, kommt ein bärtiger Typ an die Theke, kräftig, tiefe Stimme. "Sag mal... alle sagen's, aber niemand weiß es. Bist du nun schwul oder nicht?" Da bricht es aus ihm heraus: "Jawoll! Und wenn ihr es wissen wollt, kommt in mein Bett!"

Die Zurückweisung, vor der er sich all die Jahre gefürchtet hat, bleibt aus, zumindest an diesem Abend. Sein Chef in der Kneipe hat kein Problem damit, die Gäste kommen weiterhin. Einen Mann aber findet er trotzdem nicht. Er geht auf ein paar Parties in der örtlichen Schwulenszene, aber dort ist er nur "der Alte". Die Jüngeren tanzen zum Techno der frühen Neunzigerjahre, er kann damit nichts anfangen, steht am Rand, nippt an einem Glas Wein. Er geht und kommt nicht wieder.

"Wenn genau der Richtige käme, ich würde ihn heiraten"

Und so richtig, sagt er, haben die Diskriminierungen bis heute nicht aufgehört. Da war zum Beispiel der blonde Mann, der ihn auf der Straße beschimpft hat. "Du Schwein!", hat er ihm entgegengeschrien. Er kennt ihn noch von früher, hat ihn immer mal wieder gesehen, als er noch in den Park ging, er muss sich wohl daran erinnert haben. Oder neulich, in der Straßenbahn. Ein paar Schüler stiegen ein. "Du schwule Sau", sagte der eine zum anderen. Da ist er hingegangen. "Müsst ihr so was sagen? Wisst ihr, ich bin schwul. Mir tut das weh." Als er wegging, sah er, wie die Schüler sich hinter seinem Rücken über ihn lustig machten.

Vor drei Jahren wollte er endlich seine ganze Geschichte erzählen. Die Debatte um die Verurteilten nach dem Paragrafen 175 kochte mal wieder hoch, ein Journalist von der Lokalzeitung rief an. Er erzählte und erzählte, und am Ende sagte er: Das können sie alles veröffentlichen, gerne auch mit Namen." Als der Artikel erschienen war, klingelte bei seiner Ex-Frau und bei seinen beiden Töchtern das Telefon. Genaues will er dazu nicht sagen, nur eines: Die Anrufe waren sehr unangenehm.

Er hat den ganzen Tag erzählt, seine Stimme ist rau, der Blick müde. Ja, er sei zwar 74, sagt er, aber die Hoffnung auf die große Liebe habe er noch immer nicht aufgegeben. Deswegen werde er auch weiterhin auf die Straße gehen und die Männer anschauen. "Wenn genau der Richtige käme, ich würde ihn heiraten."

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