HIV-Patientin über das US-Gesundheitssystem:"Jemand will mir erzählen, dass ich Trump nicht überleben kann? Hell no!"

Shirlene Cooper; HIV

Diskrimierung aufgrund ihrer Krankheit? Shirlene Cooper sagt: "Ich habe nur zwei Hände. Mit einer kämpfe ich gegen HIV/Aids, mit der anderen gegen den Krebs. Ich habe keine dritte Hand, um gegen ignorante Menschen zu kämpfen."

(Foto: privat)

Shirlene Cooper lebt seit 21 Jahren mit HIV. Sie hat 43 Operationen und fünf verschiedene Krebserkrankungen überstanden. Jetzt hat sie Angst - vor Trumps Gesundheitsplänen.

Protokoll von Johanna Bruckner, New York

Als ich Shirlene Cooper das erste Mal begegne, bekommt sie von allen Rednern am meisten Applaus. Es ist ein Mittwoch im Juni, am darauffolgenden Tag soll Donald Trump abermals seine Gesundheitsreform dem Kongress präsentieren. (Auch dieser Termin wird am Ende platzen, erst an diesem Donnerstag präsentieren die Republikaner ihren finalen Entwurf.) Am Columbus Circle in New York, direkt am Eingang des Central Park, haben sich Gegner der präsidialen Pläne zu einer Mahnwache versammelt. Ärzte, Patienten, Angehörige. Sie sei enttäuscht, dass nur so wenige Leute gekommen seien, sagt Shirlene. Dann tritt sie ans Mikrofon. "Ich lebe seit 21 Jahren mit HIV. Ich habe fünf verschiedene Krebserkrankungen überstanden", ruft sie den versprengten Demonstranten zu. "Und jemand will mir erzählen, dass ich Trump nicht überleben kann? Hell no!" In ihrer Wohnung im Brooklyner Stadtteil Flatbush erzählt sie mir einige Tage später von ihrer Diagnose, ihrem Kampf für die Belange von HIV-Patienten und ihren Befürchtungen in Sachen "Trumpcare".

Hier ist ihre bewegende Geschichte:

Mein Name ist Shirlene Cooper. Bei mir wurde 1996 Aids diagnostiziert. Außerdem Tuberkulose, Syphilis und Gebärmutterhalskrebs. Damals war ich 34. Wie ich mich infiziert habe? Ich weiß es nicht. Ich war drogensüchtig, musste immer wieder ins Gefängnis, hatte wechselnde Partner. Ich habe alles falsch gemacht. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, kann ich mich nicht an eine Sache erinnern, die ich richtig gemacht habe. Mein Leben war so sehr aus der Bahn, dass mich nicht mal der Tod meines kleinen Sohnes aufgerüttelt hat: Im Jahr, bevor ich meine eigene Diagnose bekommen habe, ist er an den Folgen von HIV und Aids gestorben.

Als Keenan auf die Welt kam, war er dreieinhalb Kilo schwer und kerngesund. Ein süßer, glücklicher, kleiner Junge mit strahlend blauen Augen. Wissen Sie, sein Vater war weiß. Am Weihnachtsabend 1995 ist Keenan ins Koma gefallen und hat seine wunderschönen Augen nie mehr aufgemacht. Die Ärzte haben mir zwar gesagt, woran er gestorben ist, aber ich habe das gar nicht richtig registriert - geschweige denn daran gedacht, dass ich die Krankheit in mir getragen und an ihn weitergegeben haben muss. Nach seinem Tod dachte ich: "Warum ich? Warum passiert mir das?" Und dann habe ich mich mit Drogen zugedröhnt, um den Schmerz zu betäuben.

Ich bin überhaupt nur zum Arzt gegangen, weil ich sehr hohes Fieber hatte. Mir stand im wahrsten Sinne des Wortes Schaum vor dem Mund. Im Woodhull Hospital in Brooklyn haben die Ärzte zu mir gesagt: "Sie werden es nicht schaffen. Wir können nicht alle Ihre Krankheiten gleichzeitig behandeln. Die Medikamente, die Sie brauchen, haben Wechselwirkungen - sie würden Sie umbringen."

Weil ich eine sehr seltene Form von Tuberkulose hatte, wurde ich unter Quarantäne gestellt, acht Monate lang lag ich in einem winzigen Raum. Das Fieber verschlimmerte die Symptome meiner Tuberkulose: Meine Lymphknoten schwollen so sehr an, dass ich meine Arme nicht mehr anlegen konnte. Sie standen im 90-Grad-Winkel von meinem Körper ab. Und die Lymphknoten waren schlimm entzündet und feuerrot. Immer wieder platzten sie auf, Flüssigkeit floss heraus.

Ich bin eine spirituelle Person. In dieser Zeit habe ich jeden Tag um Erlösung gebetet und gefragt: "Gott, warum lässt du mich nur immer wieder aufwachen?" Alle haben gedacht, dass ich sterbe: die Ärzte, die Leute aus der HIV-Selbsthilfegruppe, die immer mal wieder vorbeikamen und sich nach mir erkundigt haben, sogar meine Schwestern. Ich bin das jüngste von sieben Mädchen. Meine älteren Schwestern hatten schon meine Beerdigung geplant. Aber wie durch ein Wunder bin ich nicht gestorben.

Nach acht Monaten haben mich die Stationsärzte nach Hause geschickt und gesagt: "Es tut uns leid, wir können nichts mehr für Sie tun." Sie hatten die Syphilis erfolgreich behandelt, aber das war auch schon alles. Aus lauter Verzweiflung bin ich zu dem Arzt gegangen, der meine Diagnose gestellt hatte, er hat im gleichen Krankenhaus gearbeitet, ein junger Doktor namens Yusuf Afacan. Ich habe ihm gesagt: "Was soll ich tun? Wenn mir niemand hilft, werde ich sterben." Dr. Afacan hat großartig reagiert: Er hat mir ein Taxi bezahlt und mich ins Krankenhaus nach Queens geschickt, wo ein Freund von ihm gearbeitet hat. In der Notaufnahme haben sie nur einen Blick auf mich geworfen und gesagt: "Oh mein Gott, Sie wurden in dem Zustand entlassen?" Sie haben mir sofort Morphium gegeben gegen die Schmerzen. Ich hatte solche Schmerzen!

Nach acht Tagen ist es endlich besser geworden und sie wollten mich überreden, dort im Krankenhaus zu bleiben, auf einer normalen Station. Aber ich bin ein Familienmensch, Loyalität ist mir wichtig. Meine Familie war in Brooklyn, genauso wie mein Arzt - ich wollte Dr. Afacan die Treue halten. Was sollte ich in Queens? Also bin ich zurück nach Hause, in meine Wohnung nach Brooklyn. Zwei Jahre lag ich dort im Bett. Und mein altes Leben hat mich eingeholt: Bevor ich in die Klinik kam, hatte ich einen Freund, der wie ich abhängig war. Er hatte mir im Krankenhaus erzählt, dass er regelmäßig nach meiner Post guckt - dabei hatte er sich längst in meiner Wohnung eingenistet. Als ich heimkam, sah das Apartment aus wie eine Müllhalde: leere Bierdosen auf dem Boden, Crack-Abfälle, gebrauchte Kondome ... Aber ich war bettlägerig, wie sollte ich ihn rausschmeißen?

Er hat mein Geld gestohlen. Er hat mich vergewaltigt, während ich hilflos im Bett lag. Ich war zu schwach, um mich zu wehren. Ich bin eigentlich eine starke Persönlichkeit, aber zu dieser Zeit war ich nicht in der Lage, gegen ihn anzukämpfen. Und wieder habe ich gebetet: "Bitte, lass es bald vorbei sein!" Aber es ging nicht bald vorbei. Es hat eine lange Zeit gedauert, bis ich ihn loswurde, und es hat eine lange Zeit gedauert, bis es mir besser ging.

Als ich das erste Mal von Aids hörte, Anfang der Achtziger, lange vor meiner Diagnose, wussten die Ärzte noch nicht richtig, womit sie es zu tun hatten. Es gab noch nicht mal einen Namen dafür. In meiner Nachbarschaft nannten sie die Krankheit: das Monster. Menschen, die daran litten, wurden sehr dünn, ihr Gesicht grau, irgendwann saßen sie im Rollstuhl. An einem Tag liefen sie dir noch über den Weg, am nächsten waren sie tot.

"Ich bin kein schwuler weißer Mann und ich hatte auch keinen Sex mit einem - was soll das?"

"Das soll ich haben?", fragte ich die Ärzte. Sie haben gesagt: "Es ist eine sexuell übertragbare Krankheit, die wir vor allem von schwulen Männern kennen." Ich habe gesagt: "Ich bin kein schwuler weißer Mann und ich hatte auch keinen Sex mit einem - was soll das?" Ich habe zwar Drogen genommen, aber mir nie welche gespritzt. Doch letztendlich spielte es keine Rolle, wie oder von wem ich es bekommen habe: Ich musste mich aufs Überleben konzentrieren.

Dr. Afacan hatte mich gezwungen, clean zu werden - andernfalls wollte er mich nicht behandeln. Er hat mir gesagt, wie und wann ich meine Medikamente nehmen muss. Am Anfang im Krankenhaus hat mir die Schwester einmal eine Dose mit 41 verschiedenen Tabletten gebracht. Dr. Afacan hat mir auch erklärt, wie mein Immunsystem funktioniert. Einer der wichtigsten Werte für HIV-Positive ist der Wert der T-Zellen: Liegt er unter 200, steigt das Risiko, an Aids zu erkranken. Ich habe mehr als drei Jahre gebraucht, um die Marke von 200 T-Zellen zu knacken. Danach habe ich mir ein neues Ziel gesetzt: 800 T-Zellen - das ist der Durchschnittswert eines gesunden Menschen. Nach sechs Jahren war es so weit. Im siebten Jahr war meine Viruslast nicht mehr nachweisbar. Seitdem arbeite ich jeden Tag daran, dass es so bleibt.

Als ich damals anfing, in die Klinik in Woodhull zu gehen, bin ich so vielen Menschen mit HIV begegnet - von diesen Leuten leben heute nur noch vier. Ich bin eine der Überlebenden. Ich war auf Dutzenden Beerdigungen. Natürlich fragst du dich da: Wann ist meine Zeit gekommen? Wenn du mit HIV und so vielen anderen Krankheiten lebst wie ich, hast du keine andere Wahl, als immer wieder die Kraft zu finden, weiterzumachen - sonst bist du weg vom Fenster. Ich halte heute Vorträge über das Leben mit HIV. Und ich sage meinen Zuhörern: "Egal, was du gerade rauchst, ob du einen Film schaust oder Sex hast - deine Pillen zu nehmen, dauert zwei Minuten. Wenn du rückfällig wirst und wieder Drogen nimmst: Vergiss trotzdem nicht deine Medikamente!"

Medicaid

Medicaid ist ein öffentliches Gesundheitsprogramm in den USA für bedürftige Menschen, die sonst ganz ohne Krankenversicherung dastünden. Es existiert seit 1965 und wurde vom damaligen Präsidenten Lyndon B. Johnson eingeführt. Medicaid springt auch Menschen mit Mittelschicht-Einkommen bei, die an chronischen Krankheiten leiden oder Behinderungen haben. Diese kommen häufig zunächst selbst für die Behandlungskosten auf - bis alle Ersparnisse weg sind. Nach dem gleichen Prinzip werden viele ältere Menschen über Medicaid versorgt. Schätzungen zufolge sind Zweidrittel aller Pflegeheimplätze über Medicaid finanziert. Aktuell sind 74 Millionen Amerikaner auf diese Unterstützung angewiesen. Im Jahr 2016 beliefen sich die Kosten auf 553 Milliarden US-Dollar. Etwa 349 Milliarden Dollar übernahm die Bundesregierung in Washington, für den Rest kamen die Bundesstaaten auf.

Aids ist eine Krankheit, an der vor allem die erkranken, die ohnehin schon ganz unten sind. Sie brauchen mehr als nur eine medizinische Versorgung. Wer in New York die Diagnose HIV bekommt, hat Anspruch auf ein Ein-Zimmer-Apartment. Er bekommt den Höchstsatz am Lebensmittelmarken - weil man etwas essen muss, um bestimmte Tabletten nehmen zu können. Außerdem schießen Stadt und Bundesstaat etwas dazu, damit man sich Kleidung kaufen kann. Denn bei vielen Menschen, die mit HIV/Aids und damit verbundenen Krankheiten leben, schwankt das Gewicht.

Dass heute Menschen mit HIV aus anderen Städten und Bundesstaaten nach New York kommen, weil sie gehört haben, dass die Versorgung hier so gut ist wie nirgendwo sonst - das habe ich mit erstritten. Wenn du aus einem sozialschwachen Milieu kommst, hast du nicht nur kein Geld, sondern dir fehlt auch das Wissen, wie du politisch etwas verändern kannst. Du weißt nicht, dass du an die Tür deines Gemeinderats klopfen und fordern kannst, dass bestimmte Dinge in ein Gesetz aufgenommen werden und dass über dieses Gesetz dann abgestimmt wird. Meine Lobbyarbeit hat mich mittlerweile in fremde Länder geführt, ich habe Vorträge in Thailand, Venezuela, Kenia, Guatemala und Mexiko gehalten. Ich habe Wahlkampf für Barack Obama gemacht.

Muss ich auf Dinge verzichten? Natürlich.

Vor Jahren hatte ich einen Flirt mit einem Sanitäter, einem Italiener, der mich jede Woche ins Krankenhaus nach Queens gefahren hat. Dort wurde ich wegen meiner Tuberkulose behandelt. Wir haben uns gut verstanden und eines Tages hat er im Auto Marvin Gaye angemacht. Da dachte ich: "Moment mal, der versucht doch, uns in Stimmung zu bringen!" Dann hat er mich gefragt, ob ich mit ihm ausgehen würde. Wir hatten einen wunderbaren Abend in einem hübschen italienischen Restaurant. Zum Abschied haben wir uns geküsst. Beim nächsten Treffen - wir saßen wieder im Krankenwagen - hat er mich gefragt, warum ich eigentlich in die Klinik muss. Da habe ich ihm von meiner HIV-Diagnose erzählt. Das nächste Mal, als mich der Krankenwagen abgeholt hat, saß ein anderer Fahrer am Steuer.

Sex ist für mich kein Thema mehr. Nicht weil ich Angst habe, meinen Partner anzustecken - sondern weil ich Angst habe, dass ich mich neu anstecke, mit einem anderen Virusstamm.

Dass ich heute noch lebe, verdanke ich auch Medicaid. Ich komme aus schwierigen Verhältnissen, bin früh auf die schiefe Bahn geraten. Einen richtigen Job und damit eine Krankenversicherung hatte ich nie. Momentan wissen wir nicht, welche konkreten Auswirkungen die Pläne der Regierung haben werden - deshalb haben alle Angst: chronisch Kranke, Alte, und eben auch die HIV-Community. Ich habe Angst. Dass Donald Trump Medicaid beschneidet, ist verheerend. Make America Great Again? Ich sage: Make America sick again!

Ich gehe seit 21 Jahren mindestens einmal im Monat zum Arzt. Im Moment ruhen meine Krebserkrankungen, aber eine Chemotherapie kann jederzeit wieder nötig sein. Was, wenn die Zahl der Arztbesuche plötzlich beschränkt würde? Das ist eine realistische Möglichkeit. Schon heute, mit Medicaid, gibt es Kostenobergrenzen für Krankheiten. Allerdings kann ein Arzt argumentieren, warum ein Patient über dieses Budget hinaus eine Behandlung braucht. Was, wenn das künftig nicht mehr möglich ist? Ich hatte bis heute 43 Operationen - ein Patient wie ich würde jedes Budget sprengen.

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