Süddeutsche Zeitung

Historie:Überlebensgroß

Hanni Lévy war 19, als sie den Entschluss fasste, als Jüdin in Berlin unterzutauchen. Mithilfe einiger Retter überlebte sie den NS-Terror. Ein Treffen in Paris, wo die 94-Jährige eine neue Heimat gefunden hat.

Von Hilmar Klute

Vor einem Jahr saß Hanni Lévy in der Talkshow von Markus Lanz, um dort ihre Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die von einem neunzehnjährigen Mädchen handelt, das im Jahr 1943 einen Entschluss fasst, den sie in einem einzigen Satz bündelt: "Ich gehe nicht weg!" Die Gestapo hatte an der Tür jener Wohnung gehämmert, in der sich Hanni Lévy damals versteckt hatte. An diesem Tag hatte sie sich den Finger verletzt und war nicht in die Nähfabrik gegangen. Der Arzt, der sie operiert hatte, sagte ihr, sie solle zu Hause bleiben, die Gestapo werde alle Juden aus Berlin verschleppen.

"Wenn jemand klopft", sagt Hanni Lévy heute, "dann macht man auf. Ich habe nicht aufgemacht." Sie hat sich stattdessen auf den Boden geworfen und ist ins Schlafzimmer gekrochen; sie hat dort vorsichtig den Kleiderschrank geöffnet, den Wintermantel rausgefischt und die Wohnung heimlich verlassen, als die Gestapo wieder weg war. Es war Februar, ein fürchterlich kalter Winter, als Hanni Lévy beschloss, alles zu tun, damit die Gestapo sie nicht als Jüdin erkennen und nach Theresienstadt deportieren konnte, wie sie es mit ihrer Großmutter getan hatten. Ihre Eltern waren bereits in den Jahren zuvor gestorben. "Ich war mutterseelenallein", sagt sie. Das ist der Anfang ihrer Geschichte, die sie bei Markus Lanz erzählte. Ein paar Tage nach der Talkshow bekam Hanni Lévy einen Brief von der Polizei. Sie müsse Anzeige erstatten, denn ein Mann hatte Hanni Lévy auf Facebook beschimpft. Den Satz weiß sie auswendig: "Die Judensau sollte besser am Baum hängen."

Sie gehört zu den letzten Zeitzeugen, die die Pogromnacht am 9. November 1938 erlebten

Der Mann musste eine Geldstrafe zahlen, 300 Euro. "Er wird seine Meinung nicht geändert haben", sagt Hanni Lévy. "Aber er wurde immerhin bestraft."

Ein noch warmer Herbsttag im 9. Pariser Arrondissement, oberhalb der langen Rue de Blanche liegt die Place Pigalle. Die Touristen bleiben eher dort oben, wo die olle rote Mühle steht und wo die letzten Schummer-Kneipen und Eros-Center zu finden sind. Hanni Lévy wohnt in einem der wie fest in die Straße geschmiedeten alten Bürgerhäuser mit altfränkisch gepflegtem Hausflur und karg grüßenden Nachbarn. Sie kennt die meisten Leute hier nicht, sagt sie. Das habe auch damit zu tun, dass die Franzosen nicht sehr gesprächig seien, die Erfahrung hat sie schon ziemlich früh gemacht, als sie nach dem Krieg nach Paris kam und hier ein neues Leben anfing. Das Leben einer Französin, die aus Deutschland kommt, dem Land des Erbfeinds, und aus dem sie, die Berliner Jüdin, um ein Haar in den Tod geschickt worden wäre, in die Gaskammern von Auschwitz.

Hanni Lévy ist heute 94 Jahre alt, eine kleine, quirlige Frau im orangefarbenen Kostüm, die seit ein paar Jahren ein drittes Leben angefangen hat: das der Zeitzeugin, weil sie eine der wenigen noch lebenden Zeugen des Holocaust ist. Als der Filmemacher Claus Räfle sie 2009 für seinen dokumentarischen Spielfilm "Die Unsichtbaren" interviewte, war es das erste Mal, dass sie die Geschichte ihrer Verfolgung, ihrer plötzlichen Courage und ihrer Rettung öffentlich erzählte. Sie hatte es schon ein paarmal versucht, in Frankreich, aber es hatte niemanden groß interessiert.

"Es war selbstverständlich, dass ich die Menschen, die mich gerettet haben, nicht plötzlich vergesse."

"Es ist mir wichtig zu betonen, dass nicht alle Deutschen Mörder waren", sagt Hanni Lévy. Als sie an jenem Februartag beschloss, sich in Berlin zu verstecken, waren es zwei nichtjüdische Familien, die ihr halfen zu überleben. Die Familie der Kinokartenabreißerin Viktoria Kolzer sowie die Geschwister Elfriede und Grete Most. Sieben Jahre nach dem Ende des Krieges, Weihnachten 1952, ist sie mit ihrem Ehemann und dem halbjährigen Sohn nach Berlin geflogen - das erste Mal wieder, seitdem sie aus dem Luftschutzbunker in die zerstörte Stadt hinausgetreten war. "Es war selbstverständlich, dass ich die Menschen, die mich gerettet haben, nicht plötzlich vergesse", sagt Hanni Lévy. Sie hat später dafür gesorgt, dass ihrer Retter für immer gedacht wird und dass sie einen Ehrenplatz im Gedächtnis der Menschheit erhalten - 1978 wurden Viktoria Kolzer sowie Grete und Elfriede Most in Yad Vashem unter die "Gerechten der Völker" aufgenommen. Auch in Berlin wird der Familie Kolzer gedacht. An der Fassade des Hauses in der Nollendorfstraße, wo die Kolzers die junge Hanni Lévy bis zum Kriegsende versteckt hielt, erinnert seit dem Sommer eine Tafel an die Retter.

Es ist in diesem Jahr 80 Jahre her, dass der nationalsozialistische Staat zum ersten Mal geplant und konzertiert Gewalt gegen Juden und gegen jüdische Einrichtungen ausübte - dies geschah, nachdem der 17 Jahre alte Herschel Grynszpan den deutschen Legationssekretär in Paris, Ernst vom Rath, in dessen Büro erschossen hatte. Und es geschah, wie man heute weiß, unter dem Beifall vieler Deutscher. Jüdische Geschäfte, Wohnungen und Büros wurden verwüstet und geplündert, Synagogen im gesamten Reichsgebiet in Brand gesetzt.

Als Hanni Lévy am Morgen des 10. November mit der Straßenbahn von Kreuzberg in die Joachimsthaler Straße fuhr, wo ihre Schule war, kam sie wie immer auch am Kurfürstendamm vorbei. Sie sah die Verwüstungen, die eingeschlagenen Fensterscheiben, das Glas auf dem Trottoir. "Es war so etwas Unglaubliches", sagt Hanni Lévy heute in ihrer Pariser Wohnung. "Wir sind in der Schule angekommen und gleich nach Hause geschickt worden. Ich glaube, dass auch meine Eltern das alles unerklärlich fanden." Hanni Lévy hieß damals noch Hanni Weißenberg und war gerade 14. "Wenn man damals 14 war", sagt sie, "dann war man ein dummes Ding." Ihre Eltern taten alles, um sie zu schützen. Ja, sie habe gewusst, dass sie Jüdin sei und deshalb aufpassen müsse. Aber die Eltern hatten ihr auch eingeschärft, dass sie sich wehren müsse, wenn sie angegriffen werde. "Aber das Wort Pogrom", sagt sie, "das haben wir damals überhaupt nicht gekannt."

Waren die Mahnungen und Ermutigungen der Eltern ein Rüstzeug für die schlimmen Monate und Jahre, die vor ihr lagen? Wie kann ein junger Mensch, der in einfachen, aber behüteten Verhältnissen aufwuchs, den Mut aufbringen, ein Leben im Untergrund zu führen? "Ich bin von einem Tag auf den anderen erwachsen geworden", sagt Hanni Lévy. Sie hatte kein Geld, keine Pläne und keine Beziehungen, wie sie sagt. Mit der Hilfe von Bekannten ließ sie sich die Haare blond färben. "Das dauert eine Weile, wenn man dunkelhaarig ist." Sie hat sich also als blonde junge Frau durch jenes Berlin bewegt, das der Reichspropagandaminister Joseph Goebbels im Juni 1943 als "judenfrei" ausrief.

Im Film von Claus Räfle sieht man die Schauspielerin Alice Dwyer Hanni Lévys Schicksal nachspielen. Räfle hat vier Zeitzeugen des Holocaust ihre persönliche Geschichte erzählen lassen und Szenen daraus in Spielfilmmanier nachstellen lassen. Die Berichte gehen direkt ins Spielgeschehen über, so entsteht ein ergreifendes Stück Geschichtsschreibung, das Dokumentation und Filmkunst addiert. Der Filmemacher hat lange nach einem Verleih suchen müssen, er sei betteln gegangen, sagt er. Niemand wollte noch einen Film über den Holocaust haben.

Jetzt wird "Die Unsichtbaren - Wir wollen leben" sogar in China gezeigt, am 7. Dezember finden Premieren in Nordamerika und Kanada statt. Die Zeiten haben sich eben geändert - inzwischen ist Donald Trump Präsident, und die AfD sitzt im Bundestag. Räfles "Die Unsichtbaren" ist plötzlich der Film der Stunde: "Ich merke, dass hier ein Zeitdokument entstanden ist durch die Aussagen der vier Menschen, die miterzählen, dass Rettung möglich war, weil es Hilfe gab von Deutschen, die auch miterzählen."

Claus Räfle weiß auch, dass sein Film vermutlich der letzte sein wird, in dem Überlebende des Holocaust ihre Geschichte beschreiben. Es sind Geschichten, die vom Mut der Verzweiflung handeln, von der Geschicklichkeit und der Kühnheit, zu der jemand sich aufschwingt, der außer dem sicheren Tod nichts zu erwarten hat. Der damals 20-jährige Cioma Schönhaus rettete nicht nur sein eigenes Leben, sondern auch das vieler anderer Verfolgter, indem er, der gelernte Grafiker, für sie Pässe fälschte. Eugen Friede schloss sich, nachdem er untergetaucht war, einer Widerstandsgruppe an, die Flugblätter gegen das Nazi-Regime verteile. Außer Hanni Lévy ist von den Menschen, die Räfle vor die Kamera holte, heute keiner mehr am Leben.

Der Kanzlerin war es ein Anliegen, Hanni Lévy persönlich zu treffen

Hanni Lévy gehört deshalb zu den sehr raren Zeugen jener Jahre, deren Unfassbarkeiten uns lange eher als abstraktes historisches Beispiel dafür diente, wie eine Gesellschaft in Barbarei und Terror abgleitet.

Heute hört man ihre Berichte mit dem klammen Wissen, dass völkische Gesinnung, Rassenhass und die Verachtung eigenständig Denkender wieder hohe Konjunktur haben. "Es ist im Moment eine sehr böse Wolke über uns", sagt Hanni Lévy. Sie hat ein paar Tropfen aus dieser Wolke nach ihrem Talkshow-Auftritt mitbekommen, als ein Zuschauer ihr die Hassmail schrieb. Sie bekommt auch mit, dass in Frankreich die Zahl antisemitischer Vorfälle wächst. Und dass Übergriffe auf Juden zunehmen, von der Pöbelei auf der Straße bis hin zur tätlichen Gewalt, ja sogar bis hin zum Mord wie im vergangenen Jahr an der jüdischen Ärztin Sarah Halimi und zuletzt an Mireille Knoll, einer 85 Jahre alten französischen Jüdin, die den Holocaust überlebt hatte. Ein junger islamistischer Fanatiker hatte die alte Frau in ihrer Wohnung erstochen.

Hanni Lévy weiß um diese Vorfälle, aber sie selbst hat dergleichen nicht erfahren. Für sie ist Frankreich das Land, in dem sie ein neues Leben beginnen konnte. Sie ist hier eine französische Staatsbürgerin geworden, das Land hat ihr eine neue Lebenschance geboten, sie betont das ausdrücklich. Ihre Kinder sind mit der deutschen Kultur aufgewachsen, gleichwohl waren die ersten Jahre, die sie in Paris zugebracht hat, nicht leicht. Ein Onkel hatte ihren Namen auf einer Liste von Überlebenden des Holocaust entdeckt und seine junge Nichte zu sich ins 16. Arrondissement geholt.

"Ich habe hier zum ersten Mal verstanden, dass Balzac und Maupassant keine Deutschen sind", sagt sie. Bis dahin kannte sie deren Werke ja nur in deutschen Übersetzungen. Sie lernte hier 1947 ihren Ehemann kennen, baute mit ihm einen Malerbetrieb auf und lebte sich mühsam in die französische Sprache ein. Wie bedrückend grotesk ihre Lage damals war! Einerseits kam sie als Deutsche in das Land, das ihre Landsleute besetzt und geknechtet hatten. Gleichzeitig war sie als Jüdin selbst den Deutschen und ihrer Mordgier nur knapp entkommen. "Ich sprach ein bisschen Englisch, und es war wichtig, auf der Straße nicht deutsch zu sprechen." Alles war neu, und alles was vorher war, galt hier nicht mehr für sie. "Ich musste eine andere werden", sagt Hanni Lévy. "Dabei wusste ich ja gar nicht, wer ich überhaupt war."

An der Wand ihrer Wohnung hängt eine Fotografie, die Hanni Lévy im Kreise ihrer sehr großen Familie zeigt. Sie alle wissen, dass sie ihre Existenz dem Mut der jetzt 94-jährigen Hanni Lévy verdanken, die von einem auf den anderen Tag kein naives Mädchen mehr sein konnte, sondern eine junge Frau, die sich mit Mut und Geschick dem tödlichen Zugriff der Gestapo entzogen hatte.

Wenn sie heute nach Deutschland fährt, dann tut sie dies nicht nur als Zeugin einer vergangenen Epoche, sondern auch als wache Zeitgenossin. Anfang des Jahres redete sie auf dem Bundesparteitag der Grünen und sagte den Delegierten: "Früher waren die Juden an allem schuld. Heute sind es die Flüchtlinge."

Dieser Satz dürfte auch der Bundeskanzlerin ganz gut gefallen haben. Angela Merkel hat sich eine halbe Stunde Zeit genommen, um mit Hanni Lévy zu sprechen. "Es war ihr ein tiefes Anliegen, auch deshalb, weil ihre Flüchtlingspolitik so hart angegangen wurde", sagt Claus Räfle, der Hanni Lévy an diesem Tag in Berlin begleitet hat.

Die Stadt, in der sie sich einst vor ihren Verfolgern verstecken musste, ist für sie heute vor allem die Stadt jener Menschen, die ihr das Leben gerettet haben. Sie fährt nach Berlin, um die Nachkommen der Familie Kolzer zu treffen, um Ehrungen entgegenzunehmen und um die jungen Leute daran zu erinnern, dass Demokratie und Freiheit keine Gratisbeigaben sind, sondern tägliche Eroberungen.

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Quelle:
SZ vom 03.11.2018
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