Drangsal macht süchtig. Václav Havel ist in diversen Haftjahren als politischer Gefangener zum Kettenraucher geworden. Für den legendären tschechischen Präsidenten hatten drei Italiener, ebenfalls haftbedingte Kettenraucher, beinahe den Rang von Heiligen. Tschechiens "Rückkehr nach Europa", die Rückkehr in den Wertekanon eines Kontinents, der frei und einig sein solle, das war Havels Postulat und Vermächtnis. Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni verkörperten für ihn dieses existenzielle Ziel: Sie haben das "Manifest von Ventotene" verfasst, haben schon im Jahr 1941 fundamentale, konkrete und praktische Vorschläge "für ein freies und vereinigtes Europa" fixiert; einen ersten Entwurf für Regeln und Institutionen, die heute als Kern dessen gelten, was Europa bislang an Einigung bewerkstelligt hat. Und als Partitur dessen, was die EU zu bilden und zu entwickeln bislang versäumt hat.
Das "Manifest von Ventotene" ist nun 78 Jahre alt. Es liest sich gerade jetzt vor den Europawahlen wie ein Gegengift gegen die Niedertracht und populistischen Irritationen unserer Tage. Es skizziert die epochalen Stärken der Einigung. Und es behandelt dort gültig, was an institutioneller Schwäche, an sozialen Defiziten, an mangelnder Akzeptanz unter den Bürgern auch heute debattiert wird. Seltsam, wie nahezu unbekannt zumindest bei den Deutschen dieses Urdokument des einigen Europa geblieben ist.
Havel hatte den Totalitarismus als den unerbittlichen Zugriff des Stalinismus erlebt. Die drei von Ventotene lehnten sich gegen den italienischen und den deutschen Faschismus auf. Sie taten dies in schwärzester Zeit mit einem unerschütterlichen Optimismus. Heute vermiesen Kleinlichkeit, Verdruss und Mäkelei die immensen Vorteile und Segnungen des holpernden, aber vielfach gelungenen Einigungs- und Friedenswerks. Die drei Männer damals verbreiteten inmitten einer Weltkatastrophe beinahe übermenschliche Zuversicht.
Unfreiheit und Hoffnungslosigkeit, Terror und die Wut der Waffen prägten das Jahr 1941. Nazi-Deutschland, das über weite Teile des eroberten Kontinents herrschte, kam sich im Verein mit faschistischen Vasallenstaaten wie Italien unbesiegbar vor. Es ging brutal um Herrschaft und Knechtschaft, um absolute Hegemonie und Vernichtung, um die Einteilung der Menschheit in Wertvolle und Wertlose, in Herren und geborene Sklaven. Trotz ihrer Ohnmacht vermochten Spinelli, Rossi und Colorni darüber hinauszuschauen auf das, was danach sein solle, nach dem Ende jener verbrecherischen Gewalttäter, die 1941 die dauerhaften Sieger zu sein schienen. Die drei Gefangenen hatten Nerven und Zuversicht, ganz selbstverständlich eine in Grundwerten wie Gleichheit und Solidarität verankerte Zukunft zu skizzieren und dem Irrwitz die radikale Therapie der Befriedung durch Einigkeit entgegenzusetzen.
Das "Manifest von Ventotene" ist in einem erstaunlich kühlen, eher analytischen Duktus verfasst. Es umreißt zunächst die Krise der Demokratie und des politischen Humanismus; es identifiziert Nationalismus als Brutkammer von Überlegenheitsmythen und rassistischem Hierarchiedenken, von Verachtung und Hass. Es fordert als Konsequenz nichts weniger als das Ende der nationalstaatlichen Ordnung und die Bildung übernationaler europäischer Institutionen, um die ethischen und zivilisatorischen Verheerungen von Faschismus, Stalinismus und Krieg zu heilen und in einer neuen kontinentalen Ordnung zu überwinden. Dies sogar unter der Prämisse, den Hauptübeltäter Deutschland vollwertig und befriedend in die neue Ordnung einzubeziehen.
Das Manifest wurde heimlich geschrieben - mit dem Ruß abgebrannter Streichhölzer
Als die drei Widersacher des Mussolini-Regimes ihr friedfertiges Europa entwarfen, saßen sie als politische Gefangene auf der Mittelmeerinsel Ventotene, etwa 60 Kilometer vom Festland entfernt. Schon in der Antike hatten römische Kaiser das dem südlichen Latium vorgelagerte vulkanische Ventotene als Insel für verbannte Bürger auserkoren. Spinelli, Rossi und Colorni waren mit Hunderten anderer dort interniert, auf dieser kargsten der Pontinischen Inseln im Tyrrhenischen Meer. Schicksalhaft aufgeladene Gestade sind das. Ventotene hat nicht die pittoreske Wucht des Circeo gegenüber am Ufer des Golfs von Gaeta, jenes Gebirgsstockes, der einst eine Insel war, auf der die Magierin Circe die Gefährten des Odysseus in Schweine verwandelte, um sich ungestört mit dem hellenischen Irrfahrer vergnügen zu können. Der Insel vorgelagert liegt noch das Felseneiland Santo Stefano, auf dem das Königreich Neapel den in seiner Zeit modernsten, gleichwohl schaurigsten Kerker des Kontinents gebaut hatte. Heute ist er ein beliebtes Ziel für Touristen. Das Großgefängnis wurde erst 1965 geschlossen. Dort sperrten die Faschisten so imposante Gegner wie den späteren Staatspräsidenten Sandro Pertini ein, der als Bürgerpräsident für das Nachkriegsitalien eine ebenso prägende Rolle spielte wie Gustav Heinemann für die Bundesrepublik.
Im alten Italien war die tiefe Spaltung der Linken, die Feindschaft zwischen Sozialisten und Kommunisten, auch einer der Gründe für Mussolinis Erfolg in den frühen Zwanzigerjahren. Der dreistimmige Chor der Gefangenen bewies im politischen Isolierraum Ventotene, dass auch das Gegenteil zu schaffen war. Die Männer kamen aus verfeindeten politischen Lagern, deren Protagonisten sonst oft einander das Leben zu vergiften trachteten, selbst unter der Knute faschistischer Verfolgung: Eugenio Colorni, der eher sozialreformerisch engagierte Philosoph und sozialistische Politiker; Ernesto Rossi, der einst national gesinnte Journalist, der sich zum liberalen Antifaschisten wandelte, nachdem er zunächst für Mussolinis Blatt Il Popolo d'Italia gearbeitet hatte; Altiero Spinelli, der einst kommunistische Widerständler, der zu einem aufgeklärten, antidogmatischen Linken wurde.
Was sie einte, war eine Überzeugung: Um wirklich friedfertig zu werden, müsse Europa den Nationalstaat überwinden und für ein respektables Maß an sozialer Gerechtigkeit sorgen.
Schreibzeug hatten die Faschisten den Verbannten bei Strafe untersagt. Die Legende erzählt, dass die drei Kettenraucher ihr "Manifest von Ventotene", ein immerhin vierzehnseitiges Manuskript, mit dem Ruß abgebrannter Streichhölzer auf winziges Zigarettenpapier geschrieben haben. Ursula Hirschmann, Colornis jüdische deutsche Ehefrau, hat als Besucherin die Kassiber aufs Festland geschmuggelt, wobei der Hauptteil im Bauch eines Brathuhns gereist sein soll, das als Mitbringsel für ihren Mann gedacht gewesen war, von den Wachen aber für zu luxuriös befunden und zurückgewiesen wurde.
Die Idee dieses großen Entwurfs der Europäischen Einigung ist die des inneren und äußeren Friedens. Beides kann nur gelingen, indem das Machtstreben der Nationalstaaten begrenzt wird. Und wieder fühlt man sich in den Diskurs dieser Tage versetzt: "Im kritischen Moment werden sie (die reaktionären Kräfte, Anm. d. Red.) sich geschickt zu verstellen wissen und beteuern, wie sehr ihnen die Freiheit, der Friede, der allgemeine Wohlstand der benachteiligten Klassen am Herzen liege. Vor allen Dingen werden sie die Wiederherstellung des Nationalstaates ins Feld führen. Sie gewinnen so jenes Volksempfinden für sich, das am weitesten verbreitet ist und am leichtesten zur Beute reaktionärer Manipulationen wird: das patriotische Gefühl."
Stammen diese Sätze wirklich aus dem Jahr 1941 und nicht vielleicht aus der Zeit des Brexit? Das Manifest mutet an wie der Kommentar auf die Reden heutiger Autokraten wie Wladimir Putin, Xi Jinping, Jair Bolsonaro, Recep Tayyip Erdoğan, Donald Trump, Matteo Salvini oder Viktor Orbán. Wohin die Verherrlichung des Nationalen in letzter Konsequenz führt, daran lässt das Manifest keinen Zweifel: Die Folge sei, "dass der Staat sich vom Beschützer der Freiheit seiner Bürger zum Herrn über geknechtete Untertanen entwickelt hat".
Einer der drei erlebte die Freiheit nicht mehr - 1944 wurde er in Rom erschossen
Die drei Autoren begnügen sich aber keinesfalls mit der kritischen Analyse, in dunkelster Zeit verkünden sie eine kraftvolle Vision. "Es gilt, einen Bundesstaat zu schaffen, der auf festen Füßen steht und anstelle nationaler Heere über eine europäische Streitmacht verfügt", fordern Spinelli, Rossi und Colorni. "Es braucht eine genügende Anzahl von Organen und Mitteln, um in den einzelnen Bundesstaaten die Beschlüsse durchzuführen, die zur Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung dienen." Sowie, ganz entscheidend: "Gleichzeitig soll den Staaten jene Autonomie belassen werden, die eine plastische Gliederung und die Entwicklung eines politischen Lebens gemäß den besonderen Wesensmerkmalen der verschiedenen Völker gestattet." Auch Präsident Emmanuel Macron, der heute ehrgeizigere Ziele beim europäischen Einigungsprojekt verfolgt als Angela Merkel, dürfte schon öfter in diesem Manifest geblättert haben.
Was das europäische Friedensprojekt angeht, hat die Geschichte den Visionären von Ventotene recht gegeben. Weniger erfolgreich ist Europa jedoch darin, so etwas wie eine gemeinsame Identität zu begründen, ein europäisches Grundgefühl. Zu intransparent, zu kompliziert und manchmal auch zu abstrakt erscheinen vielen Bürgern die Entscheidungsprozesse in Brüssel und Straßburg.
Was momentan oft zu kurz kommt, ist die Vision eines sozialen Europa, mit verpflichtenden Standards und einer umfassenden Solidarität auch in Krisenzeiten. Dabei hatten die drei Visionäre genau dieses Problem bereits im Auge. Sie erklären eine kraftvolle Sozialkomponente zur unentbehrlichen Säule des Einigungsprozesses. Allerdings unter Ausschluss aller staatsdoktrinären Vorgaben sowjetkommunistischer Prägung.
Colorni kam als Erster frei, sorgte noch 1941 für eine illegale Druckfassung des "Manifests von Ventotene" und von Rom aus für dessen Verbreitung. 1944 wurde er als Widerstandskämpfer in Rom erschossen, nur Tage vor der Befreiung der Stadt durch die Alliierten. Die beiden anderen haben noch erlebt, wie viele ihrer Vorschläge Wirklichkeit wurden. Spinelli war sogar an der Fortentwicklung der europäischen Idee nach dem Krieg wesentlich beteiligt. 1970 bis 1976 war er als Mitglied der Europäischen Kommission für Industriepolitik zuständig, 1979 wurde er ins Europäische Parlament gewählt. Die Bildung des Europäischen Rates der Staats- und Regierungschefs bekämpfte er als autoritär-rückschrittliche Gegenkraft zu den übernationalen demokratischen Institutionen wie dem Parlament in Straßburg. Ihm verdankt es seine heutigen Mitbestimmungsbefugnisse. Spinelli stritt früh für die Kompetenzen des Parlaments, um es aus den Hinterzimmern der Regierungschefs zu befreien, es näher am Volkswillen zu verankern und so den Einigungsprozess zu befeuern.
Altiero Spinelli liegt auf Ventotene begraben. Für Schulklassen aus ganz Italien gibt es heute Exkursionen auf die Verbannungsinsel, mit dem Ziel, die europäische Idee weiterzugeben an die nächste Generation. Glühende Europäer rufen zu einer Neuauflage des "Manifests von Ventotene" auf. Hätte dieses Dokument die Popularität, wie sie sich Václav Havel einst gewünscht hat, müsste man sich keine Sorgen um Europa machen: "Blickt man über den alten Erdteil hinweg auf alle Völker der Menschheit, muss man zugeben, dass die Europäische Föderation die einzig denkbare Garantie bietet, um die Beziehungen mit den asiatischen und amerikanischen Völkern auf eine Basis friedlicher Zusammenarbeit zu stellen, bis es so weit ist, dass die politische Einheit aller Völker des Erdballs erreicht werden kann."
Was für ein Bekenntnis aus einem Jahr, da die Welt im Krieg brannte.