Süddeutsche Zeitung

Historie:Die Welt vergessen

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Hameln und das Weserbergland: Wo Märchen wichtiger sind als die Geschichte. Folge 15 der SZ-Reihe "Deutschlandreise" auf den Spuren alter Reiseführer.

Von Cord Aschenbrenner

Die Weser, "deutschester aller Ströme". An ihrem Ufer in Hameln stand der Autor als Sechsjähriger und fand, dass der Fluss seiner Heimatstadt sehr, sehr breit sei. Viel breiter als der Rhein, an dem er kurz zuvor eine geliebte Tante besucht hatte. Und schöner sowieso. Unstrittig war immerhin, und so lernte man es in Heimatkunde, dass sich die Weser, anders als der Rhein, anders auch als Oder, Elbe und Donau, auf ihrem Weg nicht mit fremden Ländern einlässt. Auch mündet sie brav in deutschem Seegebiet - in der Deutschen Bucht. Wie vor mehr als hundert Jahren der Historiker und Schriftsteller Paul Sakolowski andächtig schrieb, ist es nur die Weser, die "von allen deutschen Strömen allein von der Quelle bis zur Mündung durchaus nur deutsche Gaue durchfließt". Zur Bekräftigung zitiert er in seinem handlichen Reiseführer "Die Weser von Münden bis Hameln" die Inschrift des "Wesersteins" in Hannoversch-Münden, dort, wo der Fluss entsteht. Auch heute, in postnationalen Zeiten, ist sie noch zu lesen und dabei nicht ganz unerträglich:

"Wo Werra sich und Fulda küssen,

Sie ihren Namen büßen müssen,

Und es entsteht durch diesen Kuß

Deutsch bis zum Meer der Weserfluss."

Gut 130 niedersächsische Flusskilometer weiter nordwestlich - die Weser schlägt unterwegs behäbige Bögen, vorbei an tiefgrünen Weiden und Auen, vorbei am noch nicht abgeschalteten Atomkraftwerk Grohnde - liegt Hameln, "die Rattenfängerstadt", wie sie sich heute nennt. Eine solche Stadtmarketing-Erfindung war Sakolowski natürlich noch fremd. Mag aber sein, dass sie dem Schriftsteller gefallen hätte, denn, wie er klagte, gehörten "die Schönheiten des Weserstroms leider noch so gar nicht zu den ersehnten Reisezielen der Deutschen".

Kurz vor der Stadt erhebt sich auf dem linken Ufer der Klüt. Knapp 260 Meter hoch, bestanden von hohen Buchen und alten Eichen, zwingt er die Weser auf die alte Stadt zu. Dem Berg schräg gegenüber, auf dem rechten Ufer des Flusses, errichteten Mönche kurz nach dem Jahr 800 eine Kirche, aus der das Münster St. Bonifatius erwuchs. Nach Norden zu entstand die Stadt Hameln. Und an der breit dahinfließenden Weser, nicht weit von St. Bonifatius, machten sich die Menschen schon bald die erhebliche Strömung zunutze und bauten ein Stauwehr, "ein sehr bedeutendes Bauwerk", wie Paul Sakolowski betont, das jahrhundertelang dazu diente, mit dem gestauten Wasser "die auf einer Insel im Strom liegende gewaltige Wesermühle" zu betreiben.

Hier, beim Weserwehr, kommt Franz von Dingelstedt ins Spiel, der "bekannte jungdeutsche Poet und spätere Direktor des Leipziger Stadttheaters und des Wiener Hofburgtheaters", schreibt Sakolowski nicht ohne Ehrfurcht. Also einer wie Heinrich Heine oder August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, die zum liberalen "Vormärz" in Deutschland zählten und im steten Kampf mit der Zensur lagen. Dingelstedt hatte 1835 den Klüt erklommen und darüber ein Gedicht geschrieben, das ein anderer dann vertonte: das Weserlied. Weithin bekannt wurde Dingelstedt durch seine "Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters". Das Weserlied geht so:

"Hier hab ich so manches liebe Mal

Mit meiner Laute gesessen,

Hinunterblickend ins weite Tal,

Mein selbst und der Welt vergessen!

Und um mich klang es so froh und hehr

Und über mir tagt es so helle,

Und unten brauset das ferne Wehr

Und der Weser blitzende Welle."

Fährt man mit Sakolowskis schmalem Büchlein in der Hand auf den aus Kindertagen vertrauten Klüt und klettert oben auf den Klütturm, letztes Überbleibsel einer von Napoleons Truppen geschleiften Festung, so sieht man weit unten das Wehr brausen. Vor allem aber braust der Verkehr: eine gewaltige neue Brücke führt über die Weser, ein unablässiger Strom von Autos wird so auf das Ostufer geleitet, vorbei am Stadtkern. Sakolowskis Idyll - "jene prachtvolle Stelle, die wirklich in dem verwöhntesten Naturfreund einen überwältigenden Eindruck hervorrufen muss" - ist angesichts der ausfransenden Stadt doch arg verblasst. Zwar steigen unverrückbar die Höhenzüge des Weserberglands rings um Hameln auf. Aber von der einstigen Schönheit der zu Sakolowskis Zeit mit 20 000 Einwohnern noch überschaubaren, an die Biegung der Weser geschmiegten, mittelalterlichen Stadt Hameln ist höchstens noch etwas zu erahnen.

So wie von dem Jahrhunderte währenden jüdischen Leben in der Stadt, das schon 1938 fast erloschen war, noch vor der von den Nazis hämisch so genannten "Reichskristallnacht" am 9. November. Dass dies nicht vergessen wird, dass Stolpersteine im Straßenpflaster liegen und Gedenktafeln an Häusern hängen, aber dass in Hameln auch an die 700 Jahre vor der Schoah erinnert wird, ist vor allem einem kultivierten älteren Herrn mit Wanderjacke und Gazelle-Fahrrad zu verdanken. Damit kurvt Bernhard Gelderblom, pensionierter Studienrat für Geschichte und Politik, souverän durch die Gässchen und Straßen der alten Stadt und weiß zu jeder etwas zu sagen. Gelderblom ist eine Institution in Hameln und ringsum; von sanfter Beharrlichkeit, das personifizierte historische Gewissen einer Stadt, die einen "nicht sehr tief gehenden Umgang mit der Geschichte" pflegt, wie er bemerkt.

Beharrlichkeit ist wohl nötig an einem Ort, der sich der Rattenfängersage ohne jeden Vorbehalt ausgeliefert hat, was einerseits ja verständlich ist. Den Ortsnamen Hameln kann man in La Paz, Kapstadt oder Tucson, Arizona nennen und ziemlich sicher wird das Gegenüber etwas mit "Rattenfänger" erwidern - was die Stadt weidlich nutzt. Ihre Bäcker, Wirte und andere Geschäftsleute haben der Ratte als solcher, einem andernorts ja nicht unumstrittenen Tier, in den vergangenen Jahrzehnten zu einer gewissen stadtspezifischen Dignität verholfen. Weithin bekannt war die Sage auch schon früher, spätestens durch die Brüder Grimm; so erwähnt sie etwa der große englische Reiseschriftsteller Patrick Leigh Fermor mit feinem Spott in seinem Buch "Die Zeit der Gaben" über seine Wanderung durch Europa im Jahr 1934: "Nager spielen eine große Rolle im deutschen Volksgut."

Bernhard Gelderblom hingegen sieht die Geschichte der Stadt, in der er seit 40 Jahren lebt, nicht nur vom Jahr 1284 her. Damals, so geht ja die alte Sage, lockte ein rachsüchtiger Flötenspieler die Kinder Hamelns aus der Stadt hinaus und für immer davon. Zuvor waren die Hamelner Ratten seinem Flötenspiel in die Weser gefolgt, wofür ihm der Rat der Stadt den versprochenen Lohn verweigerte. Gelderblom weiß, dass diese Geschichte über viele Jahre der Nachkriegszeit auch dazu diente, die nicht ganz so alte Geschichte zu überdecken - jene, von der viele Hamelner aus eigenem Erleben noch wussten und über die sie schwiegen: der erzwungene Auszug der jüdischen Bürger aus Hameln, ihre Vertreibung ins Exil oder in den Tod in den Vernichtungslagern.

Geht man mit ihm durch die Fußgängerzone der Altstadt, vorbei an den schönen alten Weser-Renaissancehäusern, die zwar vom Krieg meistens verschont geblieben sind, deren Fassaden jetzt aber vielfach von erstaunlich geschmacklosen Werbeschildern und Leuchtreklamen dominiert werden, so stößt man rasch auf Gebäude, in denen bis in die Dreißigerjahre jüdische Geschäftsleute ihre Läden hatten. Vor einem Café am Pferdemarkt, in der NS-Zeit ein sogenanntes Judenhaus, in dem von 1939 bis 1942 Menschen auf ihre Deportation warten mussten, sind vier Stolpersteine verlegt. Sie sind aber kaum zu bemerken, weil mal wieder Stühle und Tische darauf stehen. So sei es eben, sagt Gelderblom, und auch Bitten nützten nicht viel.

Vorne Renaissance-Fassaden, hinten Kunststoff-Fenster. Und im "Rattenkrug" wird bayerisch gekocht

Vom Pferdemarkt sind es nur ein paar Schritte vorbei an der Marktkirche, deren Turm in den letzten Kriegstagen bombardiert wurde, zusammenstürzte und dabei das alte Rathaus unter sich begrub; vorbei auch an einer Einkaufspassage, die sich in die historische Bausubstanz ringsum allenfalls mäßig einfügt, bis man vor dem Hochzeitshaus steht, einem der bedeutendsten Bauwerke der Stadt. Als "giebelreich prächtig" beschrieb es Paul Sakolowski und "eine der schönsten Schöpfungen der deutschen Renaissance". Damals war das Gebäude, in dem einst die Ratswaage, eine Weinstube und eine Apotheke zu finden waren und das dem Stadtbürgertum für seine Feste diente, noch nicht entkernt. An eine Ausstellung über die "Erlebniswelt Renaissance", die vor einigen Jahren kläglich an fehlendem Interesse scheiterte, dachte auch niemand.

Nun steht das alte Haus fast leer. Gelderbloms leicht resignierter Satz "Das ist mal wieder typisch Hameln" würde auch hier passen. Er sagt ihn aber beim Anblick von gewiss nicht denkmalschutzgerechten Kunststofffenstern an der Rückseite eines gotischen Hauses. Vorne hingegen prangt an einer stilechten Renaissancefassade ein schmiedeeisernes Wirtshausschild: "Im Rattenkrug". Tiefer verwurzelt ist der Geist des Ortes jedoch nicht, gekocht wird bemerkenswerterweise bayerisch.

So leidet Gelderblom manchmal an der berühmten Stadt, die hier und da an eine sehr alte Dame denken lässt, die ihre Schönheit zwar überwiegend über die Zeiten gerettet hat, aber bei ihren Kleidern zu oft den Einflüsterungen geschmackloser Verehrer erlegen ist. Er kennt die verborgenen Kostbarkeiten Hamelns und hat ihnen in vielen Büchern zu ihrem historischen Recht verholfen - etwa dem alten jüdischen Friedhof jenseits des einst malerischen Kastanienwalls oder einigen schönen Bauten aus den Fünfzigerjahren wie dem Stadttheater.

Noch in den Sechzigerjahren gehörte der mit Briketts beladene Wagen eines schwarz bestäubten Kohlenhändlers, gezogen von schweren Brauereigäulen, zum Straßenbild. Dort, wo der Kastanienwall auf den Ostertorwall stößt, hat man, als noch bedingungslos ans Auto geglaubt wurde, einen Fußgängertunnel gebaut, der das Schicksal all solcher Röhren teilt: Er ist hässlich und riecht nicht gut. An dieser Stelle, wo das Ostertor stand, soll der Rattenfänger mit den Hamelner Kindern aus der Stadt gezogen sein. Gelderblom hat vorgeschlagen, den Tunnel zuzuschütten. Die Hamelner waren dagegen.

So bleibt manches, wohl eher aus Gewohnheit als aus guten Gründen. Etwa die Straßennamen aus der Kaiserzeit: Sedan-, Bismarck-, Kaiserstraße. Und der 164er Ring, der so heißt nach den "zwei Bataillonen Infanterie Nr. 164", die bereits Sakolowski als für die Garnisonsstadt Hameln unerlässlich erwähnte. Nicht erwähnt hat Sakolowski hingegen die gewaltige alte Anlage des Gefängnisses am Weserufer, unweit des Münsters. Hunderte von politischen Gefangenen, auch Widerstandskämpfer aus besetzten Ländern, saßen während der Nazizeit im Hamelner Zuchthaus ein, mehr als 300 von ihnen starben. Eine leicht zu übersehende Tafel am Ufer erinnert an sie. Nach dem Krieg ließ die britische Besatzungsmacht im - nicht mehr existierenden Westflügel - rund 200 zum Tode Verurteilte hinrichten; die meisten waren KZ-Aufseher und Kriegsverbrecher. Der Henker Albert Pierrepoint wurde eigens aus London eingeflogen.

Heute ist die einstige Strafanstalt ein Hotel. Daneben liegt das städtische Veranstaltungszentrum. Es heißt, wie sollte es anders sein, Rattenfänger-Halle.

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Quelle:
SZ vom 12.11.2016
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