Historie:Die Tour und der Tod

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1919 führte ein Radrennen über die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs. Es endete im Desaster.

Von Sebastian Herrmann

Langsam breitete sich Unruhe im Gefechtsstand der Rennleitung aus, noch immer keine Nachricht von den Männern draußen. Die Anführer dieser Operation hatten sich in Amiens im Café de L'Est verschanzt, damals am Abend des 2. Mai 1919. Draußen toste ein Sturm über die Landschaft, in der kaum mehr ein Baum stand, kaum eine Hecke übrig war, die dem Wind etwas Wucht nehmen konnten. Schneeregen weichte die zerpflügte, zerschossene, blutgetränkte Landschaft auf, in der Abertausende Menschen krepiert waren. In dieser Gegend hatten sich in den Jahren zuvor die Armeen des Ersten Weltkriegs eingegraben und in Ypern, in Cambrai, an der Somme und anderen Orten des Grauens den Tod aufeinander regnen lassen. Ein halbes Jahr nach Beginn des Waffenstillstandes vom November 1918 lagen noch immer Leichen auf den Schlachtfeldern der einstigen Westfront.

Landschaft und Straßen waren von Granattrichtern übersät, Dörfer und Städte zerschossen, eine Wüste aus Schlamm, Schutt und stählernem Schrott. Dort draußen in dieser höllischen Gegend, über die nun der Sturm fegte, waren irgendwo Radrennfahrer unterwegs, von denen die Rennleitung im Café de L'Est seit Stunden keine Nachricht erhalten hatte. Die Böen hatten Telegrafenmasten umgerissen und alle Verbindungen unterbrochen. Niemand wusste, ob die Männer noch unterwegs waren, ob sie vor Erschöpfung aufgegeben hatten oder auf den schlammigen Straßen gestürzt und nun auf Hilfe angewiesen waren. Um 20 Uhr war noch nicht einmal das erste Begleitauto in Amiens aufgetaucht, dabei wurden zu dieser Uhrzeit eigentlich die ersten Rennfahrer im Ziel der Etappe erwartet, die über 330 Kilometer von Brüssel entlang der ehemaligen Frontlinien durch die Kampfzonen bis nach Amiens verlief.

Um 20.30 Uhr fuhr endlich das erste Begleitfahrzeug über die Ziellinie nahe der Brücke über die Somme am Boulevard de Beauville. Stunden später, um 22.58 Uhr, 18 Stunden und 28 Minuten nach dem Start in Brüssel, erreichte Charles Deruyter das Ziel. Er schlingerte auf den Felgen, die Reifen an seinem Rad waren beide platt, vorne und hinten. Vielleicht hatte er keine Ersatzteile mehr, um die Panne zu beheben, vielleicht war auch seine Erschöpfung zu tief, um irgendwo im Schneeregen an seinem Rad zu schrauben. Im Ziel war der Belgier nicht in der Lage, den Stift zu halten, mit dem er der Rennleitung seine Ankunft quittieren sollte.

Selbst gute Straßen waren nichts anderes als schlammige Schotterpisten. (Foto: Public Domain)

"Es war fast elf Uhr", schrieb die Zeitung L'Auto. "Aus den Tiefen der Nacht tauchte eine unbeschreibbare Matschgestalt im flackernden Licht des Café de L'Est auf, sie zitterte vor Kälte, sie stöhnte, sie weinte und sie heulte angesichts all der Torturen, die sie hatte ertragen müssen. Es ist Deruyter, erschöpft und fast nicht wiederzuerkennen." Eineinhalb Stunden später erreichte der zweite Fahrer das Ziel, der Franzose Paul Duboc. Offenbar verfügte er noch über die Kraft, die Rennleitung zu beschimpfen, die diesen Wahnsinn geplant hatte. Der letzte Fahrer, Louis Ellner, erreichte das Ziel der Etappe erst spät am nächsten Nachmittag um 17 Uhr. Er hatte 36 Stunden, 26 Minuten und 15 Sekunden auf den zerstörten Straßen des französischen Nordostens gekämpft, um im Rennen und am Leben zu bleiben.

"Seit Anbeginn aller Zeiten", schrieb die Zeitung L'Auto, "mussten Rennfahrer keinen so schweren Kurs bewältigen." Allem Pathos zum Trotz: Das war keine Übertreibung. Die armen Gestalten um Deruyter, Duboc und Ellner nahmen am Circuit des Champs de Bataille teil, der Rundfahrt der Schlachtfelder. Das Rennen wurde vom 28. April bis zum 11. Mai 1919 ausgetragen und führte von Straßburg in sieben Etappen entlang des ehemaligen Frontverlaufs des Ersten Weltkriegs zurück nach Straßburg. Die meisten Etappen waren um die 300 Kilometer lang und führten über Schotter- und Kopfsteinstraßen, die vor den Kämpfen in sehr schlechtem Zustand gewesen und nach vier Jahren Krieg weitgehend unpassierbar waren. Die Wege waren zerschossen, sie waren zerpflügt, weil Armeen sie vier Jahre lang als Nachschublinien nutzten und tonnenschweres Kriegsgerät darüber transportierten. Im Vergleich zur der Schlachtfeldrundfahrt gleichen die Etappen der Tour de France einem Wellness-Ausflug mit leichter Sportanimation.

Die auf dem Rad gestählten Männer sollten der nationalen Verteidigung dienen

Die einmalig ausgetragene Rundfahrt der Schlachtfelder ist heute weitgehend vergessen und wenn überhaupt, wird ihre Geschichte als die des härtesten Etappenrennens aller Zeiten erzählt. Gerade hat der britische Journalist Tom Isitt ein Buch über diese Tortur veröffentlicht ("Riding in the Zone Rouge. The Tour of the Battlefields 1919. Cycling's Toughest-Ever Stage Race", Weidenfeld & Nicolson). Wer diese Mischung aus historischer Erzählung und manchmal arg nerdigem Bericht der eigenen Radtour des Autors über die einstigen Routen liest, möchte dem Rennen einen anderen Titel verleihen. Was Idee und Organisation angehen, war dies sicher das lächerlichste Radrennen aller Zeiten. Was die Qualen der Sportler angeht, handelte es sich wohl um das unbarmherzigste Radrennen aller Zeiten.

In jedem Fall zeugt die Geschichte des Circuit des Champs de Bataille davon, wie Sport seit jeher als Werbeinstrument missbraucht und als national-pathetisches Rührstück inszeniert wird. Die Rundfahrt zeigt, wie wenig sich Funktionäre um das Wohl der Athleten scheren, und dass es im Sport immer darum geht, eine noch üblere, noch zehrendere, noch unmenschlichere Prüfung zu organisieren und diese zu vermarkten. Selten aber endete der Versuch der heldischen Überhöhung in einem derartigen Fiasko wie im Frühjahr 1919. Auf eine Art lieferten die Organisatoren mit ihrem Rennen ein Abbild des Verlaufs des Ersten Weltkriegs: Nach verlustreichem Beginn eskalierten Leid und Entbehrung mit jeder Etappe, bis nur mehr eine Handvoll versehrter Fahrer übrig blieb. Am Ende stand die vollkommene Erschöpfung.

Anderswo an der ehemaligen Westfront sah es noch übler aus. Durch solche Landschaften kämpften sich die Fahrer. (Foto: Library of Congress)

Idee und Konzept für den Schmerzensritt durch die verwüsteten Landschaften der Westfront wurden immer wieder aufgewärmt. In den Anfangsjahren des Radsports organisierten Zeitungen die großen Rennen. Eine praktische Sache: Die Publikationen richteten eine Werbemaßnahme aus, berichteten auch gleich selbst darüber und schrieben die Geschichte nach ihrem eigenen Drehbuch. Die Tour de France zum Beispiel wurde 1903 erstmals von der Zeitung L'Auto ausgerichtet. Le Petit Journal, Ende des 19. Jahrhunderts mit einer Auflage von weit mehr als einer Million Exemplaren die größte Zeitung Frankreichs, setzte 1891 auf die Idee und organisierte das monströse Rennen Paris - Brest - Paris, ein Wettbewerb über mehr als 1200 Kilometer. Die Distanz stellte damals alles in den Schatten, was es je gegeben hatte, das sollte das Publikum elektrisieren. Dazu würzten die Verantwortlichen kräftig nationales Pathos in die Sache: Pierre Giffard von Le Petit Journal schwadronierte 1891 über den überlegenen Charakter der französischen Rennfahrer und davon, dass das Fahrrad und die darauf gestählten Männer unverzichtbarer Teil der nationalen Verteidigung werden würden.

Ähnliche Motive trieben Marcel Allain von Le Petit Journal, 1919 den Wahnwitz auf Rädern auszurichten. Seine Zeitung war schon vor dem Krieg in Bedrängnis geraten und hatte stark an Auflage eingebüßt. Im Dezember 1918, einen Monat nach Beginn des Waffenstillstandes, rief die Zeitung also ein Osterfestival des Sports aus, zu dessen Höhepunkt die Tour der Schlachtfelder auserkoren wurde. Die Route werde "durch all die Orte verlaufen, deren Ketten durch den Sieg gesprengt worden sind", so die Ankündigung. Das Radrennen war als Triumphzug geplant, ein Fest der Überlegenheit der Siegernationen, allen voran Frankreichs. Start und Ziel nach Straßburg zu legen, folgte dieser Symbolik. Nach der Demütigung des Krieges von 1870/71 und des Verlustes des Elsass und Lothringens an das Deutsche Reich hatte die französische Nation die Regionen zurückgeholt.

Deutschen, Österreichern und Ungarn war die Teilnahme ausdrücklich verboten. "Die Preise sollen unseren Männern vorbehalten bleiben, den Radrennfahrern Frankreichs und seiner Freunde und Verbündeten", hieß es im Le Petit Journal. Viele Radrennfahrer der Vorkriegszeit waren jedoch gefallen. Die meisten Überlebenden dienten noch in der Armee, die Streitkräfte blieben in Bereitschaft, die Soldaten im Dienst. Schließlich herrschte nur ein Waffenstillstand, noch war kein Frieden besiegelt. Obwohl die Organisatoren fantastische Preisgelder auslobten, tröpfelten die Anmeldungen nur spärlich, die Organisatoren wurden zunehmend nervös. Am Ende standen 87 Fahrer am Start, darunter einige große Namen wie der Belgier Charles Deruyter, der Schweizer Bahnradstar Oscar Egg, der Tunesier Ali Neffati, der in Rennen stets einen traditionellen Fes auf dem Kopf trug, sowie die Franzosen Paul Duboc und Jean Alavoine, vor dem Krieg Sieger zahlreicher Tour-de-France-Etappen.

Die Rennleiter schickten die Fahrer ins Ungewisse. Sie hatten keinen Schimmer, in welchem Zustand die Straßen waren. Marcel Allain hatte sich für die Streckenplanung die Dienste von Alphonse Steinès gesichert, der einen Ruf als Lügner und Sadist genoss. Berühmt ist er heute vor allem dafür, dass er 1910 Henri Desgrange erfolgreich bequatschte, die Tour de France über den wegen Schnee eigentlich unpassierbaren Col de Tourmalet in den Pyrenäen zu schicken. Seinen Auftraggebern von Le Petit Journal hatte er im März 1919 per Telegramm Folgendes mitzuteilen: "Die Straßen sind befahrbar, auch wenn es hart wird. Das Fahrrad des Siegers wird eine Maschine von besonderem Format sein." Das war nicht direkt eine Lüge, aber wenigstens eine grandiose Untertreibung. Um einen Eindruck vom erbärmlichen Zustand der Straßen zu bekommen, führt Tom Isitt in seinem Buch eine Zahl aus dem April 1919 an: Da wurde im Nordosten Frankreichs das Rennen Paris - Roubaix ausgetragen. Von den 40 motorisierten Begleitfahrzeugen schafften es nur fünf bis ins Ziel. Alle anderen blieben unterwegs auf den zerschossenen Straßen liegen.

Ein Fest des Lebens nach vier Jahren Krieg? Für die Fahrer war das ein Hohn

Morgens um sechs Uhr am 28. April 1919 feuerte Marcel Allain in Straßburg die Startpistole ab. 87 Fahrer brachen auf, nachdem sie zuvor noch tüchtig Alkohol getrunken und gewiss noch ein paar ihrer Pillen geschluckt hatten, die damals alle ganz selbstverständlich dabei hatten und öffentlich einnahmen. Die erste Etappe führte über 275 Kilometer nach Luxemburg. Das Wetter war grauenhaft, es regnete, die Temperaturen lagen nur knapp über null Grad und schon in Metz, nach 187 Kilometern, waren 14 Starter ausgeschieden. Oscar Egg stürzte, als ihm ein Hund vor das Rad lief, sofort nutzten seine Konkurrenten die Gelegenheit und attackierten. Weil sie sich aber verfuhren - die Strecke war mies ausgeschildert, natürlich! -, überholte Egg sie bald wieder, ohne es zu merken, und gewann die Etappe.

Das Wetter verschlechterte sich in den folgenden Tagen. Es schneite, ein Fahrer nach dem anderen stürzte, verletzte sich oder musste aufgeben, weil sein Rad kaputtging. Und dann auf dem Weg von Brüssel nach Amiens trübten sich die Bedingungen erst richtig ein. 51 Fahrer versuchten sich noch an der dritten Etappe. Dass es überhaupt so viele waren, gleicht angesichts der Bedingungen und des verfügbaren Materials einem Wunder.

Für die Männer muss es sich angefühlt haben, als ließe die Rennleitung sie wie in einer Simulation Fronterlebnisse nachempfinden. Der Radsport wimmelt ja ohnehin von Kriegsmetaphern, es wird attackiert, der Kampf gegen Konkurrenten und die eigene Schwäche beschworen, von Triumphen oder Niederlagen gesprochen, von Tapferkeit und von der Poesie des Leidens. Aber das hier, das war etwas ganz anderes. Auf der Straße zwischen Ypern und Menen in Flandern glitschten die Fahrer bei Wind und Schneeregen durch eine Mondlandschaft aus Schlamm, Matsch, Kriegsgerät und Stacheldraht.

In Lille passierten Charles Deruyter und die anderen einen der größten Explosionskrater des Erstens Weltkriegs. 1916 war hier ein deutsches Munitionsdepot in die Luft geflogen und hatte ein Loch von 30 Meter Tiefe und 150 Meter Durchmesser hinterlassen. Wahrscheinlich hörten die Fahrer immer wieder Explosionen. Millionen Blindgänger lagen in der zerwühlten Erde und wurden von Räumtrupps oft vor Ort zur Explosion gebracht. Manche übernachteten aus Not in alten Unterständen und Resten von Schützengräben, weil sie nachts erschöpft und ohne Licht nicht mehr weiterkamen. Andere stürzten in Granattrichter, weil sie trotz Dunkelheit weiterfuhren.

Der Belgier Charles Deruyter schaffte es letztlich als Erster ins Ziel. (Foto: Public Domain)

In Amiens im Café de L'Est warteten derweil die Organisatoren und sorgten sich, dass die ganze Sache zu einer gigantischen Blamage für Le Petit Journal werden würde. Für das nächste Etappenziel in Paris waren bereits 20 000 Eintrittskarten im Parc de Princes verkauft und die wenigen Fahrer, die es wie Charles Deruyter irgendwann und irgendwie bis Amiens geschafft hatten, waren in einem erbärmlichen Zustand. Das Rennen, schrieb Marcel Allain unverdrossen, "war eine Lehrstunde der Energie, ein Fest des Lebens nach vier Jahren voller Tod". Übler konnte man die Fahrer kaum verhöhnen.

Und dann, nach vier Etappen unvorstellbarer Strapazen, grätschte der Vertrag von Versailles in den Plan der Organisatoren. Die verhandelten Friedensbedingungen wurden öffentlich, und nicht einmal Le Petit Journal hatte noch nennenswerten Platz im Blatt, um Geschichten über das eigene Rennen zu drucken und die Deutungshoheit über das Spektakel zu verteidigen. Stattdessen berichteten vor allem belgische Sportzeitungen über die letzten Etappen, die vorbei an Verdun, über den tief verschneiten Ballon D'Alsace in den Vogesen und zurück nach Straßburg führten. Je nach Quelle erreichten 13 bis 21 Fahrer das Ziel, die ersten drei Plätze belegten Belgier, der Sieger hieß Charles Deruyter.

Was für ein wahnwitziges Unternehmen. Doch Le Petit Journal, L'Auto und andere Zeitungen hatten unverdrossen von der Überlegenheit der Franzosen geschwatzt, die Teilnehmer als "heroische Überlebende" gefeiert und die belgischen Sieger als "Giganten des Mutes und des Willens" gepriesen. Ein Fest des Lebens nach vier Jahren Tod? Die Tour der Schlachtfelder wurde ein Mal ausgetragen und dann unter Schweigen begraben.

© SZ vom 17.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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