Historie:Der Staat, der keiner war

Vor 200 Jahren entstand im Grenzgebiet zwischen Deutschland und Belgien die Mikronation Neutral-Moresnet. Das winzige Gebiet war ein einzigartiges Kuriosum - und ein Paradies für Schmuggler.

Von Thomas Kirchner

Das schönste Zeichen der Vergangenheit von Kelmis leuchtet gelb, den ganzen Sommer über. Es sind Galmeiveilchen, die auf einem Erdhügel mitten in der ostbelgischen Stadt wachsen. Nur in dieser Gegend kommen sie vor, auf der metallsatten Erde im Dreiländereck zwischen Deutschland, Belgien und den Niederlanden. Hier, an der Hauptstraße, die von Lüttich ins nahe gelegene Aachen führt, wurde einst das Erz gefördert, aus dem sich Zink gewinnen lässt. Ohne diese Grube, eine der lukrativsten ihrer Zeit, wäre Neutral-Moresnet nicht entstanden.

"Etwas Verrückteres hat es ja nie gegeben", sagt der Historiker Herbert Ruland - mit leichter Übertreibung, wie sie die Rheinländer mögen. Der geborene Dürener, der im belgischen Limbourg wohnt und sich inzwischen mehr als Belgier versteht, studiert seit Jahrzehnten die deutsch-belgische Grenzgeschichte. In diesen Monaten erhält der Mann mit dem grauen Kinnbart und dem schulterlangen Haar oft Besuch, denn Neutral-Moresnet ist 200 Jahre alt geworden - und Roland hat über dieses "historische Kuriosum" im Kelmiser Museum eine Ausstellung erarbeitet.

In dem Gebiet lebten anfangs nur 256 Menschen

Im Sommer 1816 setzen es Preußen und die Niederlande mit dem Vertrag von Aachen in die Welt, nicht ahnend, dass die als Provisorium gedachte Lösung mehr als hundert Jahre überdauern würde. Auf dem Wiener Kongress hatten die beiden Mächte fast alle Ansprüche auf das Gebiet geklärt, das von den Franzosen fast 20 Jahre lang besetzt worden war, doch über einen winzigen Zipfel werden sie sich nicht einig. Keine Seite will auf das Galmeivorkommen in Altenberg, wie Kelmis damals hieß, verzichten. Das bläulich-weiße Metall, das zusammen mit Kupfer zur Legierung von Messing diente, wurde hier seit der Römerzeit abgebaut und war über die Jahrhunderte Gegenstand vieler Streitigkeiten.

Nach einem halben Jahr Verhandlungen einigen sich die beiden Länder auf einen Kompromiss. Die Preußen erhalten den östlichen Teil des umstrittenen Fleckens, die Niederländer den Westen, während das schmale Tortenstück dazwischen "unbestimmt" bleibt, "da die beiden Kommissionen sich nicht über die Weise einig wurden, wie die Grenzziehung ... vorzunehmen sei". Man vereinbart, das 3,4 Quadratkilometer große Gebiet, bestehend aus 50 Häusern mit 256 Bewohnern und dem angrenzenden Preusswald, vorerst gemeinsam zu verwalten. Auch dürfe es "von den beiden Mächten nicht militärisch besetzt werden", daher der Name "Neutral"-Moresnet. Ein Gebiet mit zwei souveränen Staatsoberhäuptern an der Spitze, als würden sich Merkel und Hollande die Aufsicht über das Elsass teilen? "Das gab's nur einmal", sagt Ruland, der sich aber noch mehr an dem Vierländereck ergötzt, das an der Nordspitze des Territoriums auf dem Vaalserberg entstand, als sich 1830 Belgien von den Niederlanden löste. Auch das sei einzigartig, sagt er - wobei er nicht vergisst hinzuzufügen, dass auch heute noch vier Gebietskörperschaften aneinanderstoßen, schließlich verläuft hier die Grenze zwischen der Wallonie und der Deutschsprachigen Gemeinschaft Belgiens.

Was da entstanden ist, passt staatsrechtlich in keine Schublade: Mikronation, Kondominium, autonomes Gebiet? Von einem "Staatsmissgebilde" spricht der Journalist Otto Spoo 1896. Die Aufsicht über das Territorium erhalten je ein preußischer und niederländischer (nach der Revolution von 1830 belgischer) Kommissar. De facto liegt die Verwaltung in Händen des von Preußen eingesetzten Bürgermeisters, dem kein Verwaltungsgericht und bis 1854 auch kein Gemeinderat hineinreden darf. In wesentlichen Fragen spricht auch die Bergbaugesellschaft mit. Die Societé de la Vieille Montagne ist der bei Weitem größte Arbeitgeber und deshalb eine Macht im Ort, sie bietet Mitarbeitern Rundumversorgung mit eigenen Wohnungen, Ärzten, Läden, Wohlfahrtskassen. Allerdings nur, solange niemand aufmuckt. Gewerkschaften sind unerwünscht; wer doch eintritt, wird entlassen. Ruland spricht von einer "nahezu vollständigen Beherrschung des öffentlichen Lebens" durch das Unternehmen, das die katholische und evangelische Gemeinde bezuschusst und mit Geselligkeits- und Schützenvereinen verbunden ist.

Zinc ore, Neutral Moresnet, 1855.

Die Zinkgrube war das größte Unternehmen in Neutral-Moresnet. Die Bergbaugesellschaft versorgte ihre Arbeiter mit eigenen Wohnungen, Ärzten und Läden. Aber Gewerkschaften waren verboten.

(Foto: Getty Images)

Die Zinkgrube war 1805 Jean-Jacques Daniel Dony in Konzession gegeben worden. Aus Dankbarkeit schenkte der Belgier Napoleon eine Zink-Badewanne, die der Kaiser auf allen Feldzügen benutzte. Der Lütticher Chemiker hatte den Zinkofen erfunden, eine neue Methode, aus dem Zink-Erz reines und vor allem walzbares Metall-Zink in Industriemengen zu gewinnen. Donys Hoffnung, damit reich zu werden, erfüllt sich jedoch nicht. Mangels potenter Investoren und nach diversen Streitigkeiten geht er 1819 bankrott. Die Verwaltung wird an einen Pariser Bankier übertragen, dessen Gesellschaft und Erben in der Folge das große Geld machen, die Societé wird zum ertragreichsten Zink-Unternehmen seiner Zeit. Nachdem die Altenberger Grube 1885 erschöpft ist, verarbeitet die Vieille Montagne noch einige Jahrzehnte lang das Erz aus umliegenden Vorkommen.

Vier legale und noch mehr illegale Destillen produzierten jährlich 67 000 Liter Schnaps

Die Zahl der Einwohner steigt nach der Gründung von Neutral-Moresnet rasch. Es gibt ja Arbeit in Fülle, außerdem spricht sich bei jungen Männern herum, dass man im Niemandsland nicht zum Militär eingezogen wird. Erst 1847 führt Belgien auch für seine im Ausland lebenden Landsleute die Dienstpflicht ein, Preußen zieht später nach. Verschont bleiben von 1874 an nur noch die echten Neutral-Einwohner. Eine Schulpflicht existiert nicht, und es lebt sich auch recht günstig in dem Gebiet. Die wenigen Steuern, die erhoben werden, bleiben dauerhaft niedrig, einfach weil niemand sie erhöht. Die Mine muss weder Körperschaft- noch Gewinnsteuer zahlen; Brot, Zucker, Salz und andere Lebensmittel sind billig. Noch dazu fällt beim Import von Gütern aus Deutschland und Belgien kein Zoll an, weil beide Staaten das Gebiet in dieser Hinsicht als Inland bezeichnen.

Für den Warenfluss in umgekehrter Richtung gilt dies nicht. Theoretisch müsste also Zoll gezahlt werden auf die beträchtlichen Mengen Schnaps, die NeutralMoresnet ins Ausland exportiert. Vier legale und noch mehr illegale Destillen produzieren jährlich 67 000 Liter. Ein Teil davon wird über die Grenze geschmuggelt, vor allem in die Niederlande und nach Preußen, der Rest in Altenberg konsumiert. Und zwar in einem Ausmaß, das der Bergwerksgesellschaft Sorgen macht. Sie holt Rotwein aus Italien, um den "Branntweinmissbrauch" zu bekämpfen.

1894 existieren 60 Cafés oder Kneipen im Ort, es gibt mehrere Bordelle, zwielichtige Gestalten mischen sich unter die ehrbaren Bergleute. In den Hinterzimmern wird illegal um Geld gespielt, sogar ein Kasino entsteht beinahe. Die Zahl der Kneipen lässt sich nicht beschränken wegen eines französischen Gesetzes zur Handelsfreiheit aus dem Jahr 1791.

Weil sich Preußen und die Niederlande in dieser Frage nicht verständigen können, gilt in Neutral-Moresnet weiterhin das Recht der ehemaligen Besatzer, also etwa Napoleons Code Civil von 1804 und der Code Pénal von 1810, die nirgends sonst mehr in Kraft sind. Selbst auf kleinere Vergehen stehen daher drastische Strafen, die von Gerichten in Verviers oder Aachen ausgesprochen werden. So erhält etwa ein Schreinergeselle, der sich in Altenberg in einem Privathaus "einen Pfennig" erbettelt hatte, im Jahr 1902 sechs Monate Gefängnis. Zwei Handwerker, die eine Flasche Schnaps gestohlen haben, werden 1914 zu sieben Jahren Haft verurteilt. Per Gnadengesuch an den preußischen oder belgischen König seien diese Strafen allerdings in der Regel in das inzwischen übliche Maß umgewandelt worden, sagt Herbert Ruland. Eine weitere Folge des Code Civil: Die zehn Mitglieder des Gemeinderates, den es später dann doch noch gibt, werden nicht etwa gewählt, sondern von den Kommissaren aus einer Vorschlagsliste des Bürgermeisters ernannt. Nach zehn Jahren wird die Hälfte von ihnen per Losverfahren ausgewechselt.

Ein bisschen verwirrend ist das Leben in Neutral-Moresnet, zumindest aus heutiger Sicht, wo alles genau geregelt, nichts im Ungefähren gelassen wird. Innerhalb weniger Meter gehen die Uhren anders, die Belgier sind eine Stunde hinter den Preußen, die Niederländer weichen von 1909 an noch einmal 20 Minuten ab. Offiziell ist der französische Franc die Währung im Neutral-Gebiet geblieben; praktisch aber wird preußisches und belgisches Geld benutzt. Ebenso kümmern sich Preußen und Belgien um das Postgeschäft. Je nach Adresse kleben die Einwohner Wertzeichen des einen oder des anderen Landes auf ihre Briefe. Es gilt der Inlandstarif; für Sendungen ins Ausland wählen die Einwohner das jeweils günstigere Porto.

Historie: Ein Tortenstück, eingeklemmt zwischen Belgien und Deutschland: Eine Postkarte aus dem späten 19. Jahrhundert zeigt die Lage des Gebiets.

Ein Tortenstück, eingeklemmt zwischen Belgien und Deutschland: Eine Postkarte aus dem späten 19. Jahrhundert zeigt die Lage des Gebiets.

(Foto: Sammlung Ruland)

Sogar eigene Briefmarken erhält Neutral-Moresnet, acht verschiedene, deutsch und französisch beschriftet, herausgegeben im Oktober 1886 von Philatelisten, die sich des sofort entstehenden Sammlerwerts wohl bewusst sind. Schon nach 14 Tagen erlassen die beiden königlichen Kommissare ein Verbot, schließlich sei der Postdienst ein Staatsmonopol. Hinter der Idee steckt Wilhelm Molly, eine der bekanntesten und umtriebigsten Figuren in diesem Zwergreich. Der Oberarzt der Vieille Montagne hat später noch eine andere Idee, die Neutral-Moresnet für kurze Zeit international berühmt macht. 1906 trifft er den Franzosen Gustave Roy, wie er selbst ein großer Freund des Esperanto. Die beiden beschließen, die Kunstsprache, die Völker verbinden soll, in Neutral-Moresnet einzuführen. In Dresden kann sich 1908 der vierte internationale Esperantisten-Kongress für das Projekt begeistern. Man beschließt, die Hauptstadt des Esperanto-Staates Amikejo zu nennen, den Ort der Freundschaft. Die Welt nimmt Notiz, der New York Times erscheint die Wahl Neutral-Moresnets als logisch, schließlich kreuzten sich ganz in der Nähe die transkontinentalen Eisenbahnlinien "von Konstantinopel nach Ostende und London und von Madrid nach St. Petersburg". In Altenberg bricht Euphorie aus, an manchem Restaurant prangt das Schild "Tie ĉi oni parolas Esperanton", hier spricht man Esperanto. Ein "Amikejo-Marsch" wird komponiert.

Dann kommt der Große Krieg. Am 4. August 1914, um neun Uhr deutscher, acht Uhr belgischer Zeit, marschieren deutsche Soldaten ins neutrale Belgien ein. In Altenberg reißt die Rekrutierung Familien und Freunde auseinander: Die einen müssen mit den Angreifern kämpfen, die anderen mit den Verteidigern. Der Versailler Vertrag macht Neutral-Moresnet schließlich nach dem Ersten Weltkrieg ein Ende, Deutschland muss die Hoheit Belgiens über das Gebiet anerkennen. Es entsteht die heutige Gemeinde Kelmis (französisch La Calamine). Im Ort herrscht Freude, kurz nach dem Waffenstillstand 1918 heißt es auf Plakaten: "Einwohner von Neutral-Moresnet! Ziert die Häuser! Steckt die Fahnen auf! Böllerschießen hat euch soeben verkündet, daß der FRIEDE gezeichnet ist."

Preußen hat gegen Ende des 19. Jahrhunderts mehrmals versucht, das Provisorium zu seinen Gunsten aufzulösen. Aber die Einwohner haben sich längst entschieden, zu wem sie gehören wollen. Schon 1897 ersuchen sie den König in Brüssel um Anschluss an Belgien. "Dort hattest du mehr Möglichkeiten, dich durchzupfuschen", sagt Ruland. Es gibt weder Sozialgesetze noch eine Krankenversicherung wie in Preußen, es lebt sich günstiger in Belgien. Die Preußen sind auch nie richtig angekommen in dieser Gegend. Mindestens bis 1866 seien sie in der Rheinprovinz als "landfremde Besatzungsmacht" empfunden worden, sagt Ruland. "Auf der Kirmes verprügelten die Arbeiter regelmäßig preußische Soldaten."

Kelmis, mit seinen fast 11 000 Einwohnern, ist nun eine der neun Gemeinden, die Belgiens deutschsprachige Ostkantone bilden. Ein paar Restaurants, Kneipen, wenige Geschäfte: ein sehr beschaulicher Ort. Manche Beschilderung ist auf Französisch, aber die Menschen reden Deutsch miteinander oder gerne auch Kelmiser Platt, ein rheinischer Dialekt, den Hochdeutschsprecher eher erraten als verstehen können.

Noch immer treffen sich regelmäßig Einwohner, um Esperanto zu sprechen

Vom "Kuriosum" selbst ist wenig geblieben außer kleinen Resten, die sich noch sehen, fühlen und hören lassen. Wer auf den Aussichtsturm am Dreiländereck steigt, erkennt Richtung Süden das Tortenstück - die Konturen des Neutral-Gebiets - als Linien im Wald. Am Rand des Weges hinunter nach Kelmis finden sich stark verwitterte Grenzsteine von damals. An der Stelle der Gaststätte Bergerhoff, in der sich die Esperantisten damals trafen, steht heute das "Select". Jeden dritten Freitag im Monat kommen in dem Restaurant eine Handvoll Menschen zusammen, um die Kunstsprache zu erlernen und zu praktizieren.

Die Zinkgrube ist verschüttet, der Eingang nahe der Rochus-Kapelle zugewachsen. Das frühere Direktionsgebäude, mit einem Dach aus Zink natürlich, dominiert die Talsohle an der Lütticher Straße. Nach der laufenden Renovierung soll es ein Museum werden. Schräg gegenüber liegt der Casinoweiher, 1861 angelegt, als man ein Wasserreservoir für die Wäsche der Galmei-Erze brauchte. Heute ist er Naturschutzgebiet, umgeben von einem Gürtel aus Schilf, Bänken für Ruhesuchende. Und den gelb blühenden Veilchen.

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