Zweiter Weltkrieg:Der längste Tag

U.S. MILITARY

Originalfoto von der Invasion US-amerikanischer Truppen in der Normandie 1944.

(Foto: AP)

Berichte von Augenzeugen, Originalfotos und berühmte Spielfilmszenen: In der Erinnerung an den D-Day und die Befreiung Frankreichs von den Nazis mischt sich Geschichte unauflöslich.

Von Kurt Kister

Kann man sich an ein Ereignis erinnern, bei dem man nicht dabei war? Oder, anders herum gefragt, wie und warum werden Bilder, die man gesehen hat, Assoziationen, die so ähnlich sind wie Erinnerungen?

Der 6. Juni 1944. Einige, die diese Zeilen lesen, werden vielleicht noch Erinnerungen an den Juni 1944 haben, den sie als Kinder oder junge Erwachsene in Deutschland oder anderswo erlebt haben. Die Wahrscheinlichkeit, dass unter diesen alten Lesern nun ein Mann oder eine Frau ist, der oder die am 6. Juni vor 75 Jahren justament in der Normandie war, irgendwo zwischen Sainte-Mère-Église und Caen, ist allerdings sehr gering.

Gäbe es so jemanden - einen damals jungen Infanteristen, eine Nachrichtenhelferin, einen Angehörigen der Organisation Todt - wäre er oder sie das, was Historiker mit ebenso viel Interesse wie Skepsis betrachten: ein Augenzeuge jener Tage, an denen die Alliierten in der Normandie landeten und Fuß fassten auf dem Kontinent.

Augenzeugen haben Dinge gesehen, die man später in Büchern liest, im Netz aufruft oder im Film sieht. Gleichzeitig aber haben Augenzeugen immer nur ihren eigenen kleinen Ausschnitt erlebt.

Dies kann sie, daher die Skepsis etlicher Historiker, zu Schlüssen über das große Ganze bringen, von denen manche, die selbst nicht dabei waren, aber sich intensiv damit beschäftigt haben, sagen, dass es anders gewesen sein muss, als es der Augenzeuge erlebt zu haben glaubt.

Seit etwa 120 Jahren, seitdem mit der Fotografie die allgemeine Zugänglichkeit von zuerst statischen, später bewegten Bildern begonnen hat, gibt es so etwas wie primäre Augenzeugen (die waren dabei) und sekundäre Augenzeugen (die haben es auf Fotos oder auf Filmen gesehen).

Sekundäre Augenzeugen sind wir alle. Im Zeitalter der digitalisierten Bilder, in dem jeder ein Herstellungs- und gleichzeitig Abspielgerät in Form eines Smartphone in der Tasche trägt, ist der Status des sekundären Augenzeugen für nahezu alles die Normalität geworden.

Der D-Day war schon vor der Digital-Ära in den USA und in Teilen (West-) Europas eines jener Ereignisse, bei denen viele Augenzeugen in immer neuen Varianten von Texten und Filmen dazu beitrugen, dass ihre Erzählungen selbst schon wieder Teil des Ereignisses wurden.

Der Status des "Zeitzeugen" ist durch zahllose Dokumentationen, die bis heute in Mediatheken, auf Youtube und anderswo im Netz abzurufen sind, fast eine Art Beruf geworden.

Wer immer zum Beispiel bis Anfang des neuen Jahrhunderts eine Doku über das deutsche Schlachtschiff Bismarck machen wollte, der suchte den ehemaligen Kapitänleutnant und späteren Diplomaten Burkard Freiherr von Müllenheim-Rechberg auf, der im Juni 2003 starb, aber im Mai 1941 als einer von 115 Männern den Untergang der Bismarck überlebt hatte (2104 Besatzungsmitglieder kamen damals ums Leben). Der Kaleu war einer der Zeitzeugen par excellence.

Bei der Invasion 1944 war vielleicht der Zeitzeuge par excellence ein Fotograf. Robert Capa, 1913 in Budapest geboren, hatte sich einen Namen als Kriegs- und Menschenfotograf schon in den Dreißigerjahren erworben. Weltberühmt wurde sein kontroverses Bild aus dem spanischen Bürgerkrieg, das er 1936 von einem mutmaßlich tödlich getroffenen Soldaten machte.

Jan 1 2011 Corporal Upham JEREMY DAVIES with no combat experience finds himself thrust into

Kein anderer Film zeigte den D-Day in so realistischer Härte wie Steven Spielbergs "Saving Private Ryan" (Filmszene, 1998).

(Foto: imago/ZUMA Press)

Capa ging am 6. Juni 1944 am Omaha-Strand in der ersten Stunde der Invasion mit dem 16. US-Infanterieregiment und zwei Contax-Kameras an Land. Er sagte später, er habe an diesem blutigen Morgen 106 Aufnahmen gemacht, im Wasser und auf dem Strand, unter gelegentlichem Beschuss, neben Verwundeten und Toten, in Lebensgefahr.

Von den vier Rollen des schwarz-weißen 35-Millimeter-Films wurden allerdings lediglich elf Bilder entwickelt. Es ist umstritten, wie die anderen Fotos beim Entwickeln zerstört wurden und ob es vielleicht auch gar nicht so viele Aufnahmen vom Omaha-Strand gab. Die zwei Handvoll Fotos aber, die existieren, sind die bis heute wohl am häufigsten veröffentlichten Bilder der Invasion, festgehaltenes Augenzeugentum.

Sie sind zum Teil verwackelt, etwas grau-dunstig, aber ungeheuer dramatisch. Nichts anderes hat das Bild des D-Day in der Erinnerung sehr vieler Menschen so sehr geprägt wie Capas Fotos. Robert Capa übrigens wurde nicht alt. Er starb 1954 in Frankreichs Vietnamkrieg, als er auf eine Mine trat.

Private Steele blieb mit dem Fallschirm am Kirchturm hängen und wurde zur Legende

Amerikaner und Briten haben ein grundsätzlich anderes Verhältnis zu Kriegen und Schlachten und zum Umgang mit Militärgeschichte, als dies in Deutschland der Fall ist.

Zweiter Weltkrieg: Sean Connery als britischer Soldat in „Der längste Tag“.

Sean Connery als britischer Soldat in „Der längste Tag“.

(Foto: imago)

Ja, das hängt natürlich damit zusammen, dass Deutschland von 1939 an einen großen Teil der Welt mit Krieg überzogen hat und dass die Verherrlichung des Militärs seit den deutschen Einigungskriegen von 1866 und 1870/71 das ebenso blutige wie autoritäre Wesen des Deutschen Reichs geprägt hat.

In den USA zum Beispiel sind nahezu jedes Schlachtfeld des Bürgerkriegs sowie viele Stätten kleinerer Scharmützel mehr oder weniger museal aufbereitet; Kleinstädte wie Gettysburg oder Harpers Ferry leben 150 Jahre danach von Geschichtstouristen. In der Normandie spiegelt sich das an jenen Orten wider, die durch Augenzeugen, Fotos und Filme zu Mythen der Invasionsschlacht wurden.

Beispiel Sainte-Mère-Église. Das Zweieinhalbtausend-Einwohner-Städtchen liegt auf der Cotentin-Halbinsel; es ist ein Knotenpunkt mehrerer Landstraßen, von denen ein paar auf die zehn Kilometer entfernte Kanalküste zulaufen. Weil Sainte-Mère-Église da liegt, wo es liegt, war es in der Nacht zum 6. Juni 1944 eines der frühen Ziele der Luftlandoperation.

Zwei US-Fallschirmjäger-Divisionen sowie eine Airborne-Division der Briten sprangen im Hinterland der Invasionsstrände ab; sie sollten Brücken sichern, Zugangswege für deutsche Gegenoffensiven sperren und jene Räume besetzen, in die am Tag dann die angelandeten Verbände vordringen sollten. An der nahen Küste gegenüber von Sainte-Mère-Église war einer der beiden amerikanischen Landungsstrände, der Utah Beach.

Die Eroberung des Städtchens ist eine jener amerikanischen Heldengeschichten, die zu den zentralen Szenen eines Films gehören, der wiederum erheblich am Mythos D-Day mitgewirkt hat. "Der längste Tag" war ein wirklich monumentaler Schwarz-Weiß-Film, der 1962 in die Kinos kam und die Invasion aus der Perspektive von Amerikanern, Briten und Deutschen zeigte.

Fünf Regisseure, darunter Darryl F. Zanuck und Bernhard Wicki, schufen mit Dutzenden (männlichen) Star-Schauspielern das für die sekundäre Augenzeugenschaft auf Jahrzehnte hinaus wichtigste Werk.

Viele, die den "Längsten Tag" in den Sechziger- oder Siebzigerjahren gesehen haben, egal ob in London, Philadelphia oder Düsseldorf, haben noch lange danach das Gefühl gehabt: So war die Invasion. Die Schauspieler lieferten die nötigen Bilder für den Kopf und die Erinnerung.

Dazu gehörten Heinz Reincke, der als der Jagdflieger Priller mit seinem Rottenkameraden in zwei Flugzeugen einen der Strände angriff ("das war der große Augenblick der deutschen Luftwaffe"); John Wayne als Fallschirmjäger-Oberst; Sean Connery als britischer Soldat ("come on out, you dirty slobs") oder Gert Fröbe als übergewichtiger Wehrmachtssoldat, der von der Invasion überrascht wird.

Spielbergs Film macht dem Zuschauer Gänsehaut, als sei er selbst dabei

Und es gab Red Buttons, der den Fallschirmjäger John Steele spielte. Der echte Steele war 1912 in Illinois geboren worden; er diente im Krieg in der 82. US-Fallschirmjäger-Division. Steele hatte bereits 1943 auf Sizilien und dann bei Neapel zwei Fallschirmeinsätze absolviert; in der Nacht zum 6. Juni sprang er über Sainte-Mère-Église ab. Im Ort wurde gekämpft, ein in Brand geratenes Haus beleuchtete die Szenerie.

Der Fallschirm von Steele verfing sich am Turm der Kirche, und Steele hing zwei Stunden lang etliche Meter über dem Boden am Schirm. Danach nahmen ihn die Deutschen gefangen, allerdings gelang ihm später die Flucht.

Er kämpfte noch in der Operation Market Garden im September 1944 in Holland sowie in der Ardennenschlacht im Dezember 1944. Steele überlebte den Krieg und starb 1969 an Krebs.

1957 spürte der Autor Cornelius Ryan bei den Recherchen für sein Buch "The Longest Day" Steele auf. In Ryans Buch wird Steeles Geschichte auf ein paar Zeilen erzählt. Im Film, der nach Ryans Buch gedreht wurde, sind die Kämpfe um Sainte-Mère-Église ein wichtiger Angelpunkt; sie werden zum Teil gleichsam durch die Augen des am Kirchturm hängenden Private Steele gezeigt.

Aus dem zufällig an einen Autor geratenen Schicksal eines der mehr als Hunderttausend an diesem Tag eingesetzten US-Soldaten wurden erst ein Absatz in einem Buch und daraus dann wiederum vier Minuten Film.

Diese vier Minuten Film machten aus John Steele eine öffentliche Person und, in der Wahrnehmung vieler, eine Person von historischer Bedeutung. Am Kirchturm von Sainte-Mère-Église hängt seit langer Zeit und heute noch eine mannsgroße Puppe in Uniform am Fallschirm; wahrscheinlich ist dies eines der meistfotografierten Motive in der Normandie.

Im Ort gibt es ein größeres Museum der Luftlandetruppen, das von ziemlich vielen Menschen, Amerikanern, Deutschen, Briten, Franzosen, besucht wird. Seit dem Film kommen wenige seriöse Darstellungen der Kämpfe um den 6. Juni herum ohne eine Erwähnung des Private Steele aus; in der Vielzahl der nicht ganz so seriösen Bücher, Podcasts, Comics, Broschüren, Reiseführer etc. gibt es Sainte-Mère-Église ohne John Steele nicht.

Wenn man auf dem Marktplatz von Sainte-Mère-Église steht, weiß man nicht so genau, ob man da ist, weil man den Schauplatz von ein paar Stunden Geschichte sehen möchte, oder ob man überprüfen will, inwieweit das, was man da sieht, mit der erinnerten Wirklichkeit, also dem Film, übereinstimmt.

Eine ähnliche Wirkung, wenn auch nicht bei so vielen und eher jüngeren Leuten, hatte wohl ein Teil des Films "Saving Private Ryan" von Steven Spielberg.

Er lief 1998 an und erzählte vor dem Hintergrund der Schlacht in der Normandie ein Kommando-Unternehmen, dessen Ziel darin besteht, den letzten Überlebenden von mehreren Brüdern zu finden und ihn aus dem Kriegseinsatz herauszuholen.

Der größere Teil des Films beschäftigt sich zwar mit den Fährnissen der kleinen, von Tom Hanks geführten Ranger-Einheit und erinnert, zumindest von den dramaturgischen Mustern her, manchmal ein wenig an einen Western, nur dass die Indianer Deutsche sind.

In den ersten zehn Minuten aber konfrontiert Spielberg die Zuschauer, eindeutig inspiriert von Capas Fotos, mit einer manchmal grausam realistischen Darstellung der Landung am Omaha Beach. Die eine oder andere Szene verursacht Gänsehaut, auch weil man durch die Kameraführung das Gefühl hat, selbst im Wasser neben dem Captain John H. Miller an Land zu stolpern.

"Saving Private Ryan" ist "Der längste Tag" gemacht für ein Zeitalter, in denen auch solche Filme viel direkte, brutale Action zeigen und zeigen müssen. Die Gegend um die Landungsstrände in der Normandie jedenfalls sind in den letzten zwanzig Jahren mehr und mehr auch zu einer Art historischem Theme Park geworden. Vielleicht ist der Zweite Weltkrieg nun lange genug her, um auch Gegenstand des gemäßigten Bildungstourismus der mittleren und älteren Generation zu sein.

Busse auf Battlefield Tour

Es gibt in der Normandie jedenfalls so viele Museen der verschiedensten Art und Qualität wie niemals zuvor. Nicht nur jedes Jahr um den 6. Juni herum begegnet man kleinen und größeren Bussen, die auf Battlefield Tour sind.

Immer wieder bewegen sich Autos und Wohnmobile mit eher Schleichgeschwindigkeit durch das Hinterland der Hecken und Alleen, stets auf dem Ausguck nach Denkmälern, Hinweisen oder der Abzweigung, die auf das Feld führt, das auch Lord Lovats britische Kommandosoldaten am 6. Juni überquerten.

Und übrigens zählt die Normandie unzweifelhaft zu jenen Regionen in Europa, in denen gerade die Briten sehen und spüren, wie europäisch sie eigentlich sind. Man denke nur daran, dass die beiden der englischen Krone unterstehenden Inseln Jersey und Guernsey, die vor der normannischen Küste liegen, die letzten Überreste des einst englischen Herzogtums Normandie sind.

Und um eine Stadt wie Caen haben die Engländer 1944 gekämpft - aber auch schon 1346 im Hundertjährigen Krieg. An den allerdings gibt es keine Erinnerungen mehr.

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