Historie:Brandts Aufbruch

Vor 50 Jahren kam mit der sozialliberalen Koalition ein Politikwechsel - die SPD stellte erstmals den Kanzler.

Von Joachim Käppner

Willy Brandt, so notierte später im Rückblick der Schriftsteller Günter Grass im "Tagebuch einer Schnecke", sei ein Mann, "der seiner Melancholie Termine einräumt, dessen Ausflüchte versperrt sind, der sich nach vorwärts zurückzieht". In diesem Oktober 1969 jedoch wagte der Sozialdemokrat Brandt den großen Sprung, mit dem er Freund und Gegner gleichermaßen überraschte, und zog in der Folge als erster Sozialdemokrat ins Bundeskanzleramt ein. Die "Ära Brandt" genießt, im milden Weichzeichner der Verklärung, in der eher verzagten politischen Gegenwart den Ruf einer großen Zeit der Reformen und des Wandels zum Besseren.

Ausgerechnet Willy Brandt. Wie so oft bei großen Persönlichkeiten der Geschichte hob ihn erst die Nachwelt auf das Podest, das er verdiente. Ende der Sechzigerjahre war er von ikonischem Ruhm noch weit entfernt. Nicht wenige Deutsche hassten ihn inbrünstig, weil er, als linker Widerstandskämpfer und Emigrant während der Nazidiktatur, ihnen allein durch diese Vergangenheit den Spiegel eigener Mitschuld vorhielt. Seine Weggefährten und zugleich Widersacher in der SPD, vor allem Fraktionschef Helmut Schmidt und der stellvertretende Vorsitzende und erste Zuchtmeister der Partei, Herbert Wehner, vertrauten Brandts Fähigkeiten wenig. Sie sahen ihn, wie der Historiker Manfred Görtemaker es formulierte, "als ,Arbeiterkind-Intellektuellen' von proletarischer Herkunft, doch leichtlebig und großbürgerlich in seiner Lebensweise, ein Mann, der die Frauen liebte und das Leben genoss, zugleich Grübler und Individualist, jemand, der sich gern über den Dingen sah und ,Aktenkram', den Schmidt so wichtig fand, spöttelnd verachtete".

Sein Vorgänger Kurt Georg Kiesinger glaubte, die Wahl gewonnen zu haben

Aber Brandt war es, der den Machtwechsel von 1969 bewerkstelligte und Anfang Oktober das sozial-liberale Bündnis mit der FDP bewirkte - eine "Wahnsinnstat", so sein Vertrauter Horst Ehmke anerkennend. "Wenn du's machen willst, dann mach's doch", knurrte der überrumpelte Schmidt. Machtwechsel, das wurde zum geflügelten Wort, es klingt nach Zeitenwende, tiefem Einschnitt, völligem Neubeginn. Dabei war der Bruch zunächst nicht so groß, wie er heute erscheint. Der Zusammenschluss von SPD und FDP kam eher unerwartet, er galt im Wahlkampf 1969 nicht als ein "gesellschaftliches Projekt" wie jenes, zu dem sich 1998 Rote und Grüne verbanden. Vor allem war die SPD seit 1966 durch die erste Große Koalition mit der Union bereits das Mitregieren gewohnt, ihr Spitzenpersonal galt bereits als salonfähig in der Bonner Republik.

Schon damals diskutierten die Genossen über die Bürde der Macht, den der Pakt der großen Parteien ihnen auferlegte, so wie sie es heute tun, nur jetzt voller Verzweiflung und Existenzängste. Aber auch vor 50 Jahren waren sie in Sorge um die Identität der Partei. Erst recht ließ der Aufruhr von 1968, die Revolte der Jugend und der Studenten, in der SPD die Angst aufkommen, als mitschuldig an jener "Erstarrung der Verhältnisse" zu gelten, die der Liberale und Soziologe Ralf Dahrendorf angesichts der Übermacht der beiden Volksparteien im Bundestag diagnostizierte.

Die Große Koalition von 1966 bis 1969 hatte erfolgreich eine erste Wirtschaftskrise gemeistert, wofür im Legendenschatz der Bundesrepublik bis heute "Plisch und Plum" stehen, frei nach Wilhelm Busch der Spitzname für das höchst unterschiedliche, effizient arbeitende Duo, das Finanzminister Franz Josef Strauß (CSU) und Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) gebildet hatten. Dennoch war das Kapital, das die Koalitionäre an Gemeinsamkeiten aufwiesen, weit geringer als heute; in fast allen großen Fragen strebten sie auseinander: Sollte man, wie es die Union wollte, die DDR weiterhin als Paria behandeln und die Rückgabe der Ostgebiete fordern? Oder versuchen, die Deutschen in Ost und West zur Annäherung in kleinen Schritten zu führen? Und wie demokratisch sollte die Gesellschaft im Innern aufgestellt sein?

Historie: Kanzlerdämmerung: SZ-Karikatur von Ernst Maria Lang mit Willy Brandt und dem DDR-Spion Günter Guillaume, hier als kleiner Vampir.

Kanzlerdämmerung: SZ-Karikatur von Ernst Maria Lang mit Willy Brandt und dem DDR-Spion Günter Guillaume, hier als kleiner Vampir.

(Foto: Ernst Maria Lang/SZ)

Vor 50 Jahren begann der Machtwechsel, ohne dass man ihn zunächst bemerkte. Noch Tage nach der Bundestagswahl vom 28. September 1969 wähnte sich CDU-Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger als Gewinner. Die Union hatte stolze 46,1 Prozent erreicht, die SPD für heutige Verhältnisse paradiesische 42,7 und die FDP nur 5,8. Nicht ohne freundliche Herablassung bot Kiesinger den geschwächten Liberalen eine Koalition von seinen Gnaden an. Aber zu seiner Überraschung manövrierte ihn Brandt voller Risikobereitschaft aus. Er hatte erkannt, dass sich bei den Liberalen ein entscheidender Richtungswechsel andeutete, der dann 1971 mit den Freiburger Thesen offiziell werden sollte: Die FDP, in der lange der rechtsbürgerliche bis nationalistische Flügel den Ton angegeben hatte, bekannte sich zu mehr Freiheit und zu "sozialem Liberalismus", und das bedeutete: Die Linksliberalen gaben den Ton an.

Ein Bündnis hatte sich schon im März 1969 abgezeichnet, als der SPD-Moralist Gustav Heinemann, der sich in der Bekennenden Kirche den Nazis widersetzt hatte, auch mit den Stimmen der meisten FDP-Vertreter zum Bundespräsidenten gewählt worden war. Heinemann selbst sprach bereits von "einem Stück Machtwechsel". Aber als der Bundestag dann am 21. Oktober 1969 Brandt zum Kanzler wählte, bekam dieser nur eine sehr knappe Mehrheit von zwei Stimmen mehr, als nötig waren. Mehrere FDP-Abgeordnete des Stahlhelmflügels um Erich Mende, der hier sein letztes Gefecht gegen den Kurswechsel führte, versagten Brandt die Gefolgschaft.

In seiner Regierungserklärung gab Brandt seine berühmte Maxime aus: "Wir wollen mehr Demokratie wagen ... Mitbestimmung, Mitverantwortung wird eine bewegende Kraft der kommenden Jahre sein." Außerdem kündigte er an, "um ein weiteres Auseinanderleben der deutschen Nation zu verhindern", mit der DDR "über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen". So begann die "Neue Ostpolitik", eine Ära der innerdeutschen Entspannung, aber auch mit jenen kommunistischen Staaten Osteuropas, die Nazideutschland ab 1939 überfallen hatte. In diesem Werk der Aussöhnung liegt die wohl bleibende Leistung der sozial-liberalen Regierung. So wie zwanzig Jahre zuvor der CDU-Bundeskanzler Konrad Adenauer die junge Bundesrepublik fest an die westlichen Demokratien gebunden hatte, so baute die Regierung Brandt nun die Brücke in den bis dahin feindlichen Osten: "Wandel durch Annäherung" hieß das zweite berühmte Prinzip Brandts, es war das bei Weitem erfolgreichere.

Der Weg zur innerdeutschen Entspannung konnte nur über Moskau führen. In der SED, die sich ideologisch und ihre Bevölkerung buchstäblich eingemauert hatte, betrachtete man Brandt voller Argwohn. Das Misstrauen milderte sich im März 1970 keineswegs, als eine begeisterte Menge während des DDR-Besuchs des Kanzlers in Erfurt "Willy, Willy!" skandierte; und gemeint war gewiss nicht der SED-Ministerratsvorsitzende Willi Stoph, auch wenn dieser das nachher behauptete. Aber schon im Sommer 1970, nach intensiven Verhandlungen zwischen dem Ostbeauftragten Egon Bahr und dem sowjetischen Außenminister Andrej Gromyko, unterzeichnete Brandt den Moskauer Vertrag mit der Sowjetunion.

Historie: Die Neuen übernehmen die Macht: Willy Brandt, eingerahmt von Walter Scheel (links) und Herbert Wehner, überreicht dem Noch-Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) die Platzkarte.

Die Neuen übernehmen die Macht: Willy Brandt, eingerahmt von Walter Scheel (links) und Herbert Wehner, überreicht dem Noch-Kanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) die Platzkarte.

(Foto: Ernst Maria Lang)

Es war ein historisches Datum. Beide Seiten erklärten Gewaltverzicht und die Anerkennung bestehender Grenzen, auch der Oder-Neiße-Linie und der innerdeutschen Grenze. Ein Vertrag mit Polen folgte, das viele Deutsche geschichtsvergessen nicht als erstes Opfer des NS-Vernichtungskrieges betrachteten, sondern als Okkupanten der Ostgebiete. Auf diese Gebiete verzichtete die sozial-liberale Koalition nun, aber erst, als die Regierung Kohl 1990 dies endgültig bestätigte, verstummten die letzten Unentwegten in den Vertriebenenverbänden. 1971 kam das Berlin-Abkommen der vier Mächte, dazu Vereinbarungen mit der DDR selbst, die sich notabene öffnen musste; Symbol hierfür wurde der Sturz des alten SED-Hardliners Walter Ulbricht im selben Jahr.

Das alles ging so schnell, dass US-Außenminister Henry Kissinger über die Eigenständigkeit der westdeutschen Zöglinge murrte: "Die Regierung Brandt bat uns nicht um unseren Rat, sondern um unsere Zustimmung für einen Kurs, dessen Grundrichtung schon vorausbestimmt war." Die Bonner Regierung war für die Amerikaner dadurch aber auch ein Eisbrecher - eine neue Rolle für den Teilstaat, der sich bis dahin ängstlich an die Schutzmacht angelehnt hatte.

Für die Union aber begann eine dürre Ära der Selbstzweifel und des Anrennens gegen die Reformpolitik, das umso gestriger wirkte, je heftiger sie es versuchte. Besonders verbissen wehrten sich CDU und CSU gegen die Neue Ostpolitik; und oft klang ihre nationale Rhetorik so, als habe erst die SPD all das 1945 verlorene Land von Ostpreußen bis Breslau den Sowjets und Polen überlassen. Die Union verpasste den Zug der Zeit, die Westmächte hatten es längst deutlich gemacht: Eine Wiedervereinigung der Deutschen sei nur möglich innerhalb einer größeren Einigung Europas.

Brandt hatte dies früh erkannt, aber es trieben ihn auch viel direktere Motive. Der kluge Publizist Peter Bender schrieb dazu: "Willy Brandt und seine Freunde Egon Bahr, Heinrich Albertz und Klaus Schütz hatten im auseinandergemauerten Berlin gelernt, was man am Rhein nicht lernen konnte: Die menschliche Not war dringlicher als die Grundsätze der Einheit." Die starre Politik, die DDR niemals anzuerkennen und, ohne jede Aussicht auf Erfolg, auf staatlicher Einheit zu bestehen, hatte ihren Teil zum Auseinanderdriften der Nation beigetragen.

Historie: Gewagter Sprung: Ironimus, der Karikaturist der "Süddeutschen Zeitung", hatte offenkundig wenig Zutrauen zu dem Bündnis auf SPD und FDP (1969).

Gewagter Sprung: Ironimus, der Karikaturist der "Süddeutschen Zeitung", hatte offenkundig wenig Zutrauen zu dem Bündnis auf SPD und FDP (1969).

(Foto: Ironimus/SZ)

Brandts Entspannungspolitik lief auf das Gegenteil hinaus: zwei Staaten, eine Nation. Und die Union, in der man die SPD als "Anerkennungspartei" beschimpfte, wusste nichts Sinnvolles zu entgegnen, als ihr Brandt entgegenhielt: Die Nation sei "durch eigene Schuld, jedenfalls nicht ohne eigene Schuld" geteilt, und mit dem Verzicht auf die Ostgebiete werde nichts preisgegeben, "was nicht längst verspielt worden war, von einem verbrecherischen Regime, vom Nationalsozialismus".

Die Erinnerung an die sozial-liberale Zeit weckt bei vielen Genossen eine gewisse Nostalgie

Viele Konservative konnten sich den Zeitenwechsel nicht anders erklären als durch dunkle Mächte. Wie die Rechtspopulisten heute machten sie einen Schuldigen aus: die Medien, den Zeitgeist, Verschwörungen. So wie Thilo Sarrazin aktuell gerne gegen "Mainstreammedien" und eine angebliche Diktatur der politischen Korrektheit wettert, so schimpften Unionspolitiker über eine "Schweigespirale" linker Meinungsmacher oder über den "Rotfunk" WDR. Beim konstruktiven Misstrauensvotum gegen Brandt 1972 versuchte der glücklose CDU-Herausforderer Rainer Barzel, das Rad der Zeit zurückzudrehen, und scheiterte, die folgenden Bundestagswahlen bescherten der SPD mit 46 Prozent das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Die Union sollte ein Jahrzehnt in der Opposition brauchen, um sich neu auszurichten.

Die Erinnerung an die sozial-liberale Zeit weckt bei vielen Genossen bis heute eine gewisse Nostalgie. Auch wenn die innenpolitischen Ergebnisse des Versuchs, mehr Demokratie zu wagen, durchaus zwiespältig ausfielen. Die große Steuerreform kam nie, aber es gab mehr Bildungsgerechtigkeit und das Ende zahlreicher gesetzlicher Diskriminierungen der Frauen. Die Sozial-Liberalen verabschiedeten eindrucksvolle Justizreformen; doch in den Jahren des RAF-Terrors ab 1972 verhärtete sich der Staat in einer Weise, die in den Jubeltagen des Herbstes 1969 unvorstellbar gewesen wäre. Ein letztes Mal gelang es der Koalition 1980, ihre Anhängerschaft und die Intellektuellen gegen den Unionskanzlerkandidaten Franz Josef Strauß zu mobilisieren; dennoch zerbrach sie zwei Jahre später. Die SPD, zerrieben und mürbe geworden unter der Bürde der Macht, vermochte die Unzufriedenen und viele Junge nicht mehr einzubinden und verlor sie an die Grünen und die neuen sozialen Bewegungen - ein Prozess, der sich nun wie im Zeitraffer wiederholt. Die FDP, die 1982 wiederum die Seiten wechselte, fand nie zu ihrer klaren Identität eines freiheitlichen Liberalismus von 1969 zurück.

Brandt selbst trat 1974 wegen der Affäre um seinen als DDR-Spion entlarvten Mitarbeiter Günter Guillaume zurück und überließ Schmidt, dem Macher, das Kanzleramt. Peter Bender schrieb im Rückblick: "Brandt hatte den politischen Bürgerkrieg mit dem SED-Staat beendet und fiel als dessen letztes Opfer."

Heute gehört Willy Brandt in die Ahnengalerie des modernen Deutschlands. Für immer bleibt mit ihm ein Bild aus Warschau 1970 verbunden. Vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos sank der Kanzler auf die Knie. Hermann Schreiber schrieb im Spiegel: "Dann kniet er, der das nicht nötig hat, für alle, die es nötig haben, aber nicht knien - weil sie es nicht wagen oder nicht können oder nicht wagen können. Dann bekennt er sich zu einer Schuld, an der er selber nicht zu tragen hat, und bittet um eine Vergebung, derer er selber nicht bedarf. Dann kniet er da für Deutschland."

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