Kolumne: Vor Gericht:Neun Minuten

Lesezeit: 2 Min.

Ein Drogenkonsument zieht im Druckraum in Frankfurt am Main Heroin in eine Spritze. (Foto: Boris Roessler/dpa)

Sehr kurzer Prozess: Über einen Heroinabhängigen, der im Schnellverfahren verurteilt wird.

Von Ronen Steinke

Der britische Romanautor Samuel Butler karikierte 1872 die viktorianische Gesellschaft in seinem Buch „Erewhon“ (nowhere, rückwärts gelesen) mit feinem angelsächsischem Sarkasmus. Besonders schön: In Erewhon werden Kranke wegen ihrer Krankheit verurteilt. Da steht beispielsweise ein junger Mann wegen Auszehrung vor Gericht. Er ist sogar rückfällig, weil er im Vorjahr Bronchitis hatte und schon früher an Kinderkrankheiten litt. Das wirkt strafverschärfend.

An diese Satire muss ich gelegentlich denken, wenn ich in Gerichtssälen bin, in denen Junkies angeklagt werden, wegen Besitzes oder Ankaufs zum Beispiel. Im Kriminalgericht in Berlin-Moabit gab es einmal einen eindrucksvollen Fall. Der Angeklagte war 44 Jahre alt, hatte dunkle Ringe um die Augen, sah abgemagert aus, die Jeans schmuddelig, die Zähne dunkel. Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft lautete, er habe zwei winzige Kügelchen Heroingemisch für 30 Euro am Berliner U-Bahnhof Schönleinstraße gekauft. Einmal 0,313 Gramm, einmal 0,922 Gramm. Zum Eigenkonsum.

Der Mann war offensichtlich schwer krank, abhängig von einem Zeug, das den Körper kaputtmacht. Der junge Richter sprach dann zunächst ganz einfühlsam mit ihm. „Sie waren abhängig von einer ganz harten Droge, das war die schlimme Zeit, da haben Sie sich Nachschub geholt.“ Der Richter lobte sogar: Inzwischen sei der Angeklagte in einer Therapie, die ja einigermaßen gut laufe, „und wir hoffen, dass Sie von dem Zeug wegkommen“.

Aber trotzdem, „da gibt’s kein Vertun“, sagte der Richter. Wer zum wiederholten Mal mit Heroin auffalle, der dürfe sich keine Einstellung des Verfahrens wegen geringer Schuld mehr erhoffen. Der Angeklagte hörte schweigend zu. Dann meldete sich sein Pflichtverteidiger zu Wort, ein junger Mann mit langen Haaren. Er sagte einen bemerkenswerten Satz. Der Rückfall in die Heroinsucht tue seinem Mandanten „leid“! Er sei sich seiner Schuld also vollkommen bewusst.

Der Richter im Roman-Land Erewhon bekommt immerhin noch die Ausrede des Angeklagten zu hören, er habe leider Eltern, die ihn erblich mit Krankheiten vorbelastet hätten. Da könne er nichts dafür. Aber der Richter lässt das nicht gelten, denn sonst käme man ja vom Hundertsten aufs Tausendste und könnte niemanden mehr verurteilen. Der Richter in Berlin-Moabit sagte: „Im Namen des Volkes“. Er erklärte, der Angeklagte, der niemandem etwas gestohlen, sondern nur sein eigenes, äußerst knappes Geld genutzt hatte, um Stoff zu kaufen für seine Sucht, von der er seit Jahren nicht loskam, verdiene eine Geldstrafe. 90 Tagessätze. Das bedeutet: das Nettoeinkommen von drei Monaten. Er durfte die Geldstrafe in Raten abbezahlen. Aber falls er mal eine Rate nicht schaffen sollte, könne es passieren, dass er ins Gefängnis müsse.

Das war der ganze Prozess. Er hatte nur neun Minuten gedauert.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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