Herausforderung:Wie ein blinder Bergsteiger den Mount Everest bezwingen will

Herausforderung: Allein kann Andy Holzer, im Bild vorn, keinen Berg besteigen, er braucht immer einen Begleiter. Das Foto entstand 2015, als er bei der Besteigung des Mount Everest umkehren musste.

Allein kann Andy Holzer, im Bild vorn, keinen Berg besteigen, er braucht immer einen Begleiter. Das Foto entstand 2015, als er bei der Besteigung des Mount Everest umkehren musste.

(Foto: Andy Holzer, Dachsteinschuhe)

Riesige Gipfel auf sechs Kontinenten hat Andy Holzer schon geschafft, nur der höchste Berg der Welt fehlt ihm noch. Warum er dabei womöglich mehr wahrnimmt als sehende Menschen.

Von Titus Arnu

Unten im Tal ist es schon frühlingshaft warm, aber oben auf 2600 Meter liegt noch Pulverschnee. Andy Holzer steht abfahrbereit am höchsten Punkt des Schartenschartls, einer 40 Grad steilen Rinne in den Lienzer Dolomiten. "Okay, kann ich?", fragt Holzer seinen Begleiter Andreas Unterkreuter, den er Anda nennt. "Du kannst." "Volle Freigabe?" "Volle Freigabe." "Los?" "Los!" Anda lässt die Skier ein Stück geradeaus laufen, in die enge Felsrinne hinein, Andy hinterher, dann beginnen beide mit rhythmischen, kurzen Schwüngen. "Hopp! Hopp! Hopp!", ruft Anda bei jeder Kurve.

Die Kommandos hallen von den Felswänden wider, dazu pflügen die Tourenski durch den tiefen Schnee in der Scharte. Ab und zu kratzen sie über Eis. Auf der harschigen Altschnee-Unterlage hat sich am Vortag eine dicke Schicht Pulverschnee gesammelt, die Steine darunter sind nicht zu sehen. Für Andy Holzer sowieso nicht. Er fährt in der Spur seines Guides, rein nach Gehör und Gefühl. Holzer ist blind, von Geburt an, aufgrund der Netzhauterkrankung Retinitis pigmentosa.

Täglich absolviert Holzer in diesen Wochen eine Bergtour zu Fuß oder mit Ski, manchmal auch zwei, um möglichst viele Höhenmeter zu sammeln, bis zu 3000 am Tag. Auf 100 Touren kommt er pro Winter. Sein Ziel: der Mount Everest. Die höchsten Gipfel von sechs Kontinenten hat er bereits bestiegen, nur der höchste Berg der Welt fehlt ihm noch.

Wenn er es wie geplant im Mai auf den Gipfel schafft, wäre er der zweite Blinde, dem es gelingt, alle Seven Summits zu erklimmen. 2001 war der Amerikaner Erik Weihenmayer als erster Blinder auf dem Everest. Für Holzer ist es der dritte Versuch, nachdem ihn 2014 ein großes Lawinenunglück und 2015 ein Erdbeben zum Umkehren brachten.

Andy Holzer ist 50 Jahre alt, wiegt bei einer Größe von 1,76 Meter fast 85 Kilogramm und sieht auf den ersten Blick überhaupt nicht aus wie ein durchtrainierter Top-Athlet. Bei der Trainingstour auf das Schartenschartl fühlt er sich anfangs nicht besonders fit, da er in der Nacht zuvor schlecht geschlafen hat.

Zur besseren Akklimatisierung schläft er schon Wochen vor der Abreise in den Himalaja in einem Hypoxie-Zelt mit künstlicher Sauerstoffzufuhr, das bei ihm im Schlafzimmer auf seine Seite des Ehebettes montiert ist. Auf diese Weise simuliert man die Höhenluft. Das chinesische Basislager an der Nordseite des Everest liegt auf 5200 Meter, Holzers Wohnort Tristach auf 670 Meter.

Obwohl er seine Hausberge noch nie gesehen hat, kennt er jeden Stein

"Mein Schädel!", stöhnt Holzer und reibt sich die Stirn. Unter der Mütze kommen lange, aschblonde Haare zum Vorschein, die zum Pferdeschwanz gebunden sind. Er bleibt stehen, nimmt den Rucksack ab, zieht seine Trinkflasche heraus und nimmt erst mal einen Schluck Tee. Obwohl er seine Hausberge noch nie gesehen hat, kennt er jeden Stein hier, zeigt auf eine kleine Kapelle, weiß, wo der Wald aufhört und von welchem steilen Nordhang Lawinengefahr droht. Meistens genießt er seine Trainingseinheiten in der heimischen Natur, aber an diesem Tag fühlt es sich für ihn anfangs ein bisschen schwerer an. "Warum tut man sich das bloß alles an?" Ja, gute, Frage. Warum eigentlich?

Es ist schon schwer genug, als Sehender auf den Everest, den Mount McKinley oder den Montblanc zu steigen, in den Dolomiten eine schwere Kletterroute zu meistern oder mit Skiern eine steile Felsrinne hinunterzuwedeln. Wie hart muss das als Blinder sein? Und welchen Sinn hat es, ohne Augenlicht auf die höchsten Berge aller Kontinente zu klettern?

"Ich brauche den Berg nicht als Leistungsbeweis", sagt Andy Holzer. Ihm gehe es eher um die Emotionen und das Erlebnis zusammen mit seinen Kletterpartnern. "Wenn Leute das nicht verstehen, haben sie keine Fantasie", findet er. "Bergsteigen ohne Augenlicht hat ganz viel mit Denken zu tun." Weil ihm ein Sinn fehle, seien die anderen Sinne umso sensibler, sagt er, und offenbar hat er das fehlende Sehvermögen mit einem besonders starken Willen kompensiert. "Aufgrund meiner eingeschränkten Wahrnehmung sind bei mir einige Ressourcen im Gehirn frei", erklärt Holzer, "von sehenden Partnern höre ich oft: Darauf wäre ich jetzt gar nicht gekommen."

Er besuchte nie eine Blindenschule

Darauf, dass er mal auf den höchsten Gipfeln der Welt stehen und schwierige Klettertouren wie die Comici-Route an den Drei Zinnen meistern wird, wäre er früher allerdings selbst nicht gekommen. Seine Eltern auch nicht. Andy Holzer besuchte nie eine Blindenschule, er lernte nie die Brailleschrift, hatte nie einen Blindenhund und ging nicht mit Blindenstock und Blindenabzeichen spazieren. Einrichtungen für Blinde gab es während seiner Kindheit in Lienz nicht, der Junge hätte sein Heimatdorf und seine Familie verlassen müssen. "Die Ärzte sagten damals: Wenn der Andy nicht auf die Blindenschule geht, wird er ein Depp", erzählt Holzer, "und meine Eltern meinten: Du bleibst bei uns, auch wenn du ein Depp wirst."

Holzer kommt auch ohne die klassische Blinden-Ausbildung bestens zurecht. Bevor er Profi-Bergsteiger wurde, arbeitete er als Masseur und Musiker. Tagsüber stand er in einer Massagepraxis, abends sang er und spielte Gitarre in seiner eigenen Tanzkapelle. Mittlerweile kann er von Vorträgen und Seminaren leben, zu denen er weltweit als Redner eingeladen wird, er hat ein Buch geschrieben ("Balanceakt - blind auf die Gipfel der Welt"). Und als er beschloss, zusammen mit seiner Frau Sabine ein Haus in Tristach zu bauen, war für ihn klar, dass er vorher andere Häuser "anschauen" wollte. Er fragte befreundete Hausbesitzer, ob er bei ihnen aufs Dach steigen und das Haus erspüren könne. Seine Schwester ist ebenfalls blind, sie wohnt heute im Haus neben ihm.

Beim Klettern ertastet sich Andy Holzer die Landschaft. Ein sehender Bergsteiger kann eine Route zuerst anschauen, er sucht mit den Augen Griffe und Tritte und gibt dann seinen Händen und Füßen den Befehl zu klettern. Holzer macht es genau umgekehrt: Er tastet den Fels mit den Händen ab, sucht Griffe und Tritte, bis dadurch ein dreidimensionales Bild in seiner Vorstellung entsteht. Beim Skifahren kommt noch dazu, dass er bei der Abfahrt Hindernisse wie Bäume und Felsen nicht sieht und sich auf die Kommandos eines Sehenden verlassen muss. Steiles Bergabfahren wie im Schartenschartl ist für ihn einfacher als das Queren eines Hanges, weil er dann das Gelände kaum einschätzen kann: "Das ist für mich wie für einen Sehenden, wenn er in Nebel gerät."

"Wenn ich Angst hätte, wäre das wie ein schwarzes Tuch"

Am Everest wird Andy Holzer von zwei langjährigen Osttiroler Freunden begleitet, den Heeresbergführern Wolfgang Klocker und Klemens Bichler. "Einer geht mit mir, während der andere mein Back-up ist. Nach drei oder vier Stunden wird gewechselt", erklärt Holzer. Falls er den Gipfel "ohne Licht" erreicht, wie er sagt, ist er der erste Blinde, der den Everest über die Nordroute bestiegen hat. Er ist zuversichtlich, es diesmal zu schaffen "Das Vertrauen in Andy ist da", sagt Sabine, "wenn ich Angst hätte, wäre das wie ein schwarzes Tuch."

Nach der Skitour kehren Andy und Anda in der Dolomitenhütte ein, der Everest-Begleiter Wolfgang Klocker kommt auch vorbei. Bei der Brotzeit wird geratscht und gewitzelt. Alle kennen sich, alle wünschen Holzer nur das Beste für die bevorstehende Expedition. "Wie war der Schnee in der Rinne? Ging das gut zu fahren?", will ein anderer Tourengeher wissen. "Ging super!", ruft Andy Holzer zum Nachbartisch rüber. "Wir sind hervorragend gefahren. Zumindest hab ich keine besseren Skifahrer gesehen heute."

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