Süddeutsche Zeitung

Hell's Kitchen (XCIX):Überraschung

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Unser New Yorker Kolumnist war wild entschlossen, alleine Weihnachten zu feiern und sich Filme mit Knarren anzuschauen. Daraus wird nun allerdings nichts.

Von Christian Zaschke

Freitagabend, kurz nach sieben, es klingelte an der Haustür. Da ich niemanden erwartete, blieb ich am Wohnzimmertisch sitzen und tat so, als hätte ich nichts gehört. Vermutlich waren es Freunde der Nachbarn, dachte ich, die auch zu Corona-Zeiten Partys feiern, bei denen die Gäste in Mannschaftsstärke anrücken. Nachbar J. spielt seit Neuerem E-Gitarre und führt den Gästen regelmäßig seine, nun ja, Fortschritte vor. J. ist experimenteller Filmemacher aus Venezuela, und vielleicht ist es seinem Talent zum Dekonstruktivismus geschuldet, dass, was immer er spielt, exakt so klingt, als habe er das Blöken einer Schafherde in Angst über einen Toaster verstärkt.

Es klingelte erneut. Ich wuchtete mich aus dem Stuhl, schlurfte zur Gegensprechanlage und brummte: "Ja?"

"Überraschung!", rief eine Frauenstimme. Ich halte von Überraschungen so viel wie von Brechdurchfall.

"Wer ist da?", knurrte ich.

"Nun mach halt die verdammte Tür auf", rief eine andere Frauenstimme.

Ich schloss, dass es sich um Heidi P. und Susi handeln musste. Ich drückte auf den Summer.

Seit sich vor einigen Wochen abgezeichnet hatte, dass ich dieses Weihnachten nicht nach Deutschland reisen würde, um meine umfängliche und teils mehr, teils weniger durchgeknallte Sippe zu besuchen, betrieben Heidi P. und Susi Lobbyarbeit: Ich solle einen Weihnachtsbaum in meiner bescheidenen Bleibe aufstellen und an Heiligabend ein kleines Fest geben.

"Kommt nicht infrage", sagte ich, "mir kommt kein Baum in die Bude, und an Heiligabend schaue ich Filme mit Knarren. Und zwar allein." Für mich war die Sache damit erledigt.

Der Aufzug erreichte den 17. Stock. Als Erster entstieg ihm R., Heidis schottisch-philippinischer Freund, mit einem knapp zwei Meter hohen Baum. Es folgten Heidi und Susi, beladen mit Taschen, Kisten und Kartons.

"Baumschmückparty", rief Susi. Heidi drückte mir einen Stapel Kisten in die Hand. R. grinste. Ich sagte: "Ihr habt sie wohl nicht alle." Heidi sagte: "Das ist absolut richtig."

Susi setzte einen fassgroßen Topf auf den Herd; sie hatte ein Bœuf bourguignon vorbereitet. Heidi sägte den Baum so zurecht, dass er in den mitgebrachten Ständer passte. Aus den Kisten holte sie Lichterketten, Kugeln, Sterne, Schleifen und Engel, mit denen wir den Baum behängten, über und über. Am Ende wickelte Heidi eine rund drei Kilometer lange, silberne Lamettagirlande um das Ensemble.

"Licht aus, Baum an", rief sie.

R. schaltete das Licht aus, ich schaltete den Baum an, und so standen wir, Heidi, Susi und R. und ich, im glitzernden Schein des kitschigsten Weihnachtsbaums, den ich je gesehen hatte.

"Ist das nicht ganz wunderbar?", fragte Susi.

"Ja", sagte ich wahrheitsgemäß, "das ist tatsächlich ganz wunderbar."

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Quelle:
SZ vom 24.12.2020
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