Süddeutsche Zeitung

Hell's Kitchen (LXXI):Numerator

Unser Kolumnist in New York verfügt seit einiger Zeit über Superkräfte. Seitdem zieht er nachts durch die Straßen und tut das, was er am besten kann: er zählt Menschen. Als dann in New York die Krawalle losgehen, spürt er eine große Enge in der Brust.

Von Christian Zaschke

In der vergangenen Woche habe ich an dieser Stelle von einem neuen Superhelden berichtet, der in Hell's Kitchen für Ordnung sorgt. Schon lange passen Daredevil, Jessica Jones und der Punisher auf die Bewohner des Viertels auf. Kürzlich hat sich der Numerator ungefragt zu diesem Trio gesellt, und ich trete ihm hoffentlich nicht zu nahe, wenn ich verrate, dass es sich beim Numerator um einen mittelalten, etwas zu wohlgenährten Mann handelt, der, wie so viele der führenden Superhelden, zur Tarnung als Journalist arbeitet. Seine Superkraft, wenn man sie so nennen möchte, besteht darin, dass er gerne zählt.

Der Numerator patrouilliert in der Regel zwischen dem Times Square, der südlich seiner für einen Superhelden arg bescheidenen Residenz liegt, und dem Central Park, wo er, wenn er sich eine Pause vom Superheldentum erlaubt, oft links hinter der Bow Bridge auf einer Bank sitzt und eine Selbstgedrehte raucht. An der Bow Bridge steht an 365 Tagen im Jahr ein von den Teufeln gesandter Saxofonist, der "Careless Whisper" von Wham! spielt. In Schaltjahren, betont der Numerator, sind es 366 Tage.

Anfang der Woche war der Numerator wie so oft des Nachts auf den Straßen unterwegs. Er prüfte die Lage am Times Square, wo sich Hunderte Demonstranten versammelt hatten, um gegen Polizeigewalt zu protestieren. Sie rannten wild durcheinander, was seine Arbeit unnötig erschwerte, aber der Numerator zählte sie. Als die Polizei ihn fragte, was er da mache, zeigte er seinen Presseausweis. Die Polizei sagte, er solle sich verpissen. Der Numerator lächelte ein feines Lächeln und verzog sich in eine Seitenstraße, von wo aus er unauffällig weiterzählte.

Er war stolz darauf, wie gut er das hingekriegt hatte. Im Grunde, dachte er, gab es zwischen ihm und Daredevil nicht den geringsten Unterschied. Außer vielleicht, dass Daredevil wirklich über Superkräfte verfügte.

Der Numerator folgte den Demonstranten, sie zogen nach Osten. Ein Jogger lief ungerührt durch das Treiben. Der Numerator zählte ihn. Wenig später fand er sich auf der 5th Avenue wieder, wo Scheiben eingeschlagen und Läden geplündert wurden, wo Feuerwerkskörper flogen und die Polizei mit Pfefferspray und Plastikgeschossen versuchte, Herr eines jugendlichen und vorwiegend weißen Mobs zu werden, der die zuvor friedlichen Proteste gekapert hatte. Der Numerator spürte eine Enge in seiner Brust. Er zählte die Sekunden. Eine Sekunde. Zwei Sekunden. Fünf Sekunden. Die Enge war immer noch da.

Er überquerte die 6th Avenue, die 7th Avenue, schneller und schneller, er überquerte den Broadway und die 8th Avenue. Nie würde er es jemandem verraten. Aber der Numerator war zurück nach Hause geeilt, nach Hell's Kitchen, weil er inmitten der Krawalle plötzlich eine Scheißangst hatte.

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Quelle:
SZ vom 06.06.2020
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