Süddeutsche Zeitung

Hell's Kitchen (CV):Schnee

Unser Kolumnist in New York macht sich gerade trotz aller Wetterwarnungen auf den Weg nach draußen, als ihm plötzlich ein lange zurückliegendes Interview einfällt, das eigentlich eher ein Selbstgespräch war.

Von Christian Zaschke

Anfang der Woche zog ein Schneesturm durch New York. Im Fernsehen hatten sie gewarnt, im Radio hatten sie gewarnt, hin und wieder erklangen auf allen in der Stadt registrierten Mobiltelefonen Warnsignale. Bürgermeister Bill de Blasio appellierte, keinesfalls das Haus zu verlassen, Gouverneur Andrew Cuomo sprach von einer "lebensbedrohlichen Situation".

Am Sonntagabend setzte der Schneefall ein. Es schneite den ganzen Montag. Hell's Kitchen lag unter einer weißen Decke, es war ein so friedlicher und freundlicher Anblick, dass es fahrlässig gewesen wäre, nicht nach draußen zu gehen. Ich blickte auf die Türme der Stadt, zwischen denen das Weiß nach oben wuchs, und ich dachte an Robert Frosts Gedicht "Innehaltend inmitten der Wälder an einem Schnee-Abend".

Meine dickste Winterjacke paarte ich mit meinen hässlichen Winterstiefeln, die zwar wirklich hässlich sind, aber bei weitem nicht so hässlich wie meine Turnschuhe von New Balance, die ich gekauft habe, weil Art Garfunkel sie mir empfohlen hat.

Apropos schamloses Namedropping: Vor Äonen führte ich ein Interview mit dem Regisseur Danny Boyle. Wobei, eigentlich müsste dieser Satz lauten: Vor Äonen führte ich ein Selbstgespräch mit dem Regisseur Danny Boyle. Er hatte gerade einen neuen Film abgedreht, ich hatte eine halbe Stunde allein mit ihm. Wir tranken Tee in einem Londoner Hotel, und ich fragte ihn, ob er Don Siegels Film "Telefon" von 1977 kenne. Boyle verneinte.

Ich dozierte, dass eine der Grundideen seines neuen Films exakt so schon in Siegels Film vorkam. Boyle sah mich ebenso fragend wie uninteressiert an. Daraufhin erzählte ich ihm die komplette Handlung des Films, zu der wesentlich gehört, dass in den USA lebende russische Schläfer mittels eines Telefonanrufs aktiviert werden. Der Anrufer zitiert die letzte Strophe des erwähnten Gedichts von Frost, und die Schläfer werden zu Killern.

An diesem Punkt hatte Boyles Desinteresse das Maximum erreicht, was mich nicht davon abhielt, diese letzte Strophe zu zitieren. In der Übersetzung von Paul Celan lautet sie so:

"Anheimelnd, dunkel, tief die Wälder, die ich traf. / Doch noch nicht eingelöst, was ich versprach. / Und Meilen, Meilen noch vorm Schlaf. / Und Meilen Wegs noch bis zum Schlaf."

Boyle blickte auf seine Uhr. "Oh", sagte er erfreut, "die Zeit ist leider schon rum."

Montagabend also, New York City, ich trat auf die verschneite Straße. Ich dachte an Garfunkel, Frost, an Boyle und an Celan, und es, nun ja, fröstelte mich bei dem Gedanken, dass ich, erstens, so ein miserabler Interviewer sein kann, und, zweitens, bei weitem noch nicht eingelöst ist, was ich versprach. Dann stapfte ich los, hoffend, wissend, dass Meilen Wegs zu gehen sind noch bis zum Schlaf.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5195490
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 06.02.2021
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.