Das Halsweh hatte natürlich mit dem Geld zu tun, das hat Magdalena gleich geahnt. Am Morgen saß sie im Auto und hatte plötzlich Schmerzen beim Schlucken, "wie bei einer Angina". Sie hielt inne und dachte sich: Moment. Wo waren meine Gedanken gerade? "Dann wurde mir klar: Ah ja, die Sache mit dem Geld. Die stresst mich."
Deshalb steht Magdalena, eine weißhaarige Frau mit seidenweicher Stimme, jetzt vor einem Pavillonzelt in einem hübsch verwachsenen Park und wartet auf ihre Orakelsitzung. Sie will eine zweite Meinung zu ihrem Gefühl mit dem Geld. Am Zelt hängt eine Preisliste: Schamanische Pulsdiagnose - acht Euro. Orakelsitzung - neun Euro.
Magdalena, 59, ist Krankenschwester in Mittelfranken, aber im Nebenberuf Heilerin. Sie hilft Menschen durch Energieübertragung, sagt sie, speziell auf die Wirbelsäule. Funktioniere sogar bei Pferden. Aber ihre "Gabe", wie sie es nennt, quält sie auch: Wie viel soll sie Kunden für Geistheilung in Rechnung stellen? Und ist es in Ordnung, von wohlhabenden Menschen mehr zu verlangen?
Falafel und feuchtes Gras
Der Park, in dem das Pavillonzelt steht, gehört zu einer Gründerzeitvilla in Obing, nahe dem Chiemsee. Magdalena ist hier, um sich Vorträge anzuhören. Bei den "Heilertagen", einer Art Publikumsmesse der super-alternativen Gesundheitsbranche, treffen Engelsseher auf Prana-Lehrer, Handaufleger auf Klangtherapeuten. Und die wiederum auf ganz normale Menschen mit Faible für das Wort "ganzheitlich", das hier auf fast jedes Banner gedruckt ist. Es riecht nach Falafel und feuchtem Gras, ein Anbieter für spirituelle Sahara-Touren hat zwei Kamele mitgebracht.
Vor acht Jahren fand die Veranstaltung erstmals statt, eine Art Tag der offenen Tür der Heilerschule "San Esprit", die in der Villa residiert. Es kamen gleich 120 Leute. Im Jahr darauf öffnete man wegen des Andrangs den Park. Inzwischen rechnen die Veranstalter mit 5000 Menschen, die zwei Tage lang Vorträge zum energetischen Räuchern oder Einführungskurse im "Spirit-Trommelspiel Hand to Hand" besuchen.
Es sind Leute wie Martina und Helmut, die gerade in Richtung Shiatsu-Massage schlendern. Sie ist Altenpflegerin, er ist Gastronom, mit Schnauzer und Kettchen. Er sagt: "Ich glaub ja nicht an so Zeug", und lacht. "Aber die Martina!" Seit Jahren hat sie Schmerzen im Fußgelenk, das viele Stehen bei der Arbeit. Kein Arzt konnte helfen. Aus Neugier ging sie eines Tages zu einem Geistheiler im Nachbarort. "Und bevor ich überhaupt sagen konnte, was mein Problem ist, hat er schon gesagt: ,Das linke Fußgelenk, oder?' Einfach toll." Sie verließ den Heiler nach einer Stunde und, sagt sie: ohne Schmerzen.
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So erzählen es viele der Menschen, die hier in auffallend batikfreier Kleidung durch den Park und die Villa spazieren, beziehungsweise relativ häufig: humpeln. Sie hätten ein Erlebnis gehabt, das sie überzeugt hat. Der Weg zur Ganzheitlichkeit beginnt offenbar nicht selten mit einer chronischen Krankheit, einer unklaren Diagnose, einer erfolglosen Therapie. Und plötzlich hilft ein Geistheiler.
In den Pavillonzelten wird sichtbar, was seit Jahren im Schatten des deutschen Gesundheitswesens wächst, ohne dass man als Otto Normalversicherter viel davon mitbekäme: eine esoterische Parallelwelt, in der Menschen Trost finden, die oft von der Schulmedizin enttäuscht sind. Dass das immer mehr werden, weil immer mehr Menschen älter sind und chronisch krank, ist naheliegend. Aber seriöse Zahlen über die Branche gibt es nicht - Heiler darf sich jeder nennen.
Auch Annette Bokpe. Und sie nennt sich nicht nur Heilerin, sie ist auch Mitveranstalterin der Heilertage, gemeinsam mit Annette Müller, die die Schule in der Villa gegründet hat. Bokpe sitzt mit präzise frisiertem Pagenschnitt und einem Seidenschal um den Hals in der Villa und sagt mit einer Ironie, die man definitiv nur mit einem Berliner Akzent wie ihrem hinkriegt: "Energiiiie". Sie deutet ein Augenrollen an. "Wenn ich höre, dass jemand die Energiiie spürt und Farben sieht - ganz ehrlich, da muss ich selber noch schmunzeln."
"Ich wär' auch zu jemandem mit grüner Feder im Po gegangen"
Bis vor ein paar Jahren hat Bokpe ja selbst nicht dran geglaubt. Sie ist Theaterwissenschaftlerin, hat als Dramaturgin gearbeitet. Sie ist niemand, den man schon von Weitem als Esoteriker erkennen würde. Aber seit der Sache mit der Gürtelrose ist sie sicher, dass es Dinge gibt, von denen die Wissenschaft noch keine Ahnung hat.
Damals bekam sie einen fies entzündeten Hautausschlag, ausgerechnet am Tag vor ihrer ersten Premiere. Sie ging zu einem Geistheiler, der ihr die Hand auflegte - "ich war so verzweifelt, ich wär' auch zu jemandem mit grüner Feder im Po gegangen" - und am nächsten Tag war die Entzündung weg. "Es gibt heilende Kräfte, die man ohne Berührung übertragen kann", sagt Bokpe. "Wir können das nur noch nicht erklären. Aber vor 50 Jahren hätte uns auch jeder für verrückt erklärt, wenn wir erzählt hätten, dass man ohne Kabel telefonieren kann."
Irmhild Saake ist Medizinsoziologin an der LMU München und hat Erklärungen für das, was bei den Obinger Heilertagen passiert. Die Esoterik-Nische sei typisch für die "Demokratisierung der Medizin", sagt sie. "Die Leute akzeptieren immer weniger den Paternalismus der Schulmedizin." Heißt: Der Arzt im Kittel, der immer recht hat, passt immer weniger zum Wunsch nach Mitbestimmung, der in allen Bereichen der Gesellschaft wächst. "Bei einem Beinbruch hat die Schulmedizin natürlich immer noch die besten Antworten", sagt Saake, "aber schon bei Rückenschmerzen hat ein Arzt das Problem, dass es alle möglichen Ursachen dafür geben könnte." Fehlende Kausalität nennt sie das. Bloß hört das kein Patient gerne.
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In einem Seminarraum im ersten Stock der Villa steht ein Mann in roten Socken vor einer sitzenden Frau. Er bewegt seine Hände, als würde er einen unsichtbaren Gymnastikball auf dem Boden herumrollen. Er ist Prana-Heiler, eine Methode nach einem indischen Meister, und entnimmt gerade "negative Energie" aus der chronisch schmerzenden Hüfte der Frau. Nach zehn Minuten öffnet sie die Augen: "Danke. Es wurde sehr warm. Und ich habe weißes Licht gesehen." Der Mann nickt.
Geistheiler, sagt die Soziologin Saake, hätten einen entscheidenden Vorteil gegenüber Medizinern: Sie müssen nicht wissenschaftlich argumentieren. "Sie nutzen offensiver den Wunsch des Patienten, jemandem zu glauben, dass er geheilt werden kann." Eine Stunde Zuhören, Meditieren, Handauflegen helfe unter Umständen allein deshalb, weil der Patient es will. Übrigens verbringt ein Arzt in Deutschland, Stand 2010, im Schnitt acht Minuten mit jedem Patienten.
"Die Zellen verändern sich dadurch tatsächlich"
Dieter Melchart ist Professor an der TU München und forscht an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Heilkunde, der Komplementärmedizin. Die Geistheilung sei ein "sehr obskures Feld", sagt er gleich als Erstes, "aus wissenschaftlicher Sicht größtenteils Scharlatanerie". Aber er sagt auch, dass die Konzentration auf bestimmte Zellen durchaus helfen könne, die "Eigenheilung" zu aktivieren - etwa bei Krebspatienten.
Und es gebe Studien, sogar aus Harvard, die zeigten, wie Krebszellen auf eine Behandlung mit "äußerem Qi" reagierten, also eine geistige Heilmethode ohne Berührung zwischen Heiler und Patient. "Die Zellen verändern sich dadurch tatsächlich", sagt Melchart. Damit sei noch gar nichts bewiesen, "aber es gibt zumindest Wirkungen, die wir wissenschaftlich nicht direkt erklären können."
Magdalena tritt aus dem Zelt, ihre Orakelsitzung ist vorbei. Sie strahlt ein bisschen. Beim Thema Geld, hat die Schamanin ihr geraten, müsse sie künftig stärker ihren Kopf durchsetzen. Also feste Preise für ihre Heilsitzungen berechnen - egal, wie arm oder reich der jeweilige Kunde sei. "Genau das hatte ich mir schon gedacht", sagt Magdalena. "Gut, das noch mal von jemand anderem zu hören." Heilen sei schließlich ihr Job. Und die Halsschmerzen seien übrigens weg.