Hauptstadt zwischen Hype und Hybris:17 Gründe, Berlin zu hassen

Kristjan Knall

Kristjan Knall ist natürlich ein Pseudonym. Seine wahre Identität will der Berlin-Hasser geheimhalten.

(Foto: Eulenspiegel-Verlag)

Berlin is over, heißt es in New York. Seitdem diskutiert die Stadt über ihren Hipness-Faktor. Gut so, findet Kristjan Knall, der als Autor unter Pseudonym schreibt - weil er Morddrohungen erhalten hat für sein Berlin-Hasser-Buch.

Von Ruth Schneeberger, Berlin

"Berlin is over" hieß es vor einigen Monaten aus New York - nachdem die New York Times und das Rolling Stone Magazine ihre Enttäuschung über den ein paar Jahre zuvor noch zum "besten Club der Welt" gekürten Berliner Tanztempel Berghain geäußert hatten. Seitdem diskutieren die Hauptstädter darüber, wieviel von ihrem Ruf als "coolste Stadt der Welt" noch übrig ist. In Zeitungen, sozialen Netzwerken und auf Podiumsdiskussionen.

Parallel dazu erscheinen monatlich Lobeshymnen in Magazinen auf die vergleichsweise immer noch entspannte deutsche Hauptstadt. Spätestens seit dem Aufkommen der Hipster und ihrer Inanspruchnahme Berlins ist Deutschland wieder gespalten: in Hauptstadtliebhaber und Hauptstadthasser.

Unfreundlich, verelendet, asozial

Ein solcher Berlinhasser ist Kristjan Knall. Der junge Mann lebt und schreibt in Berlin und will ansonsten unerkannt bleiben. Denn mit seinem unter diesem Pseudonym veröffentlichten Buch hat er sich viele Hauptstadtbewohner zum Feind gemacht - bis hin zu Morddrohungen. Weshalb er zu Lesungen und öffentlichen Auftritten vermummt erscheint. Dass er in der Verkleidung wie eine jüngere Ausgabe von Helge Schneider wirkt, war ihm nicht bewusst, ist ihm aber recht.

"Berlin zum Abkacken - Alle Arschlöcher nach Bezirken" lautet der gar nicht lustig gemeinte Titel, der deutlich die Marschrichtung vorgibt. In seinem Buch und bei einem Treffen lässt er sich über den Hype und über die angeblich so sexy verarmte Stadt aus. Zeigt seine Abscheu gegenüber stadtplanerischer Unfähigkeit und unsozialer Politik, über unfreundliche Hauptstadtbewohner ohne jegliche Manieren, soziale Verelendung und vorgeblich hippe Viertel, die kaum noch zu ertragen seien.

Eine Auswahl von Kristjan Knalls Hasstiraden:

"Alle Arschlöcher nach Bezirken"

Coolness:

"Der Coolnessfaktor setzt sich aus Kreativdefizit, Herdentrieb und Abgeschmacktheit zusammen. Auf Hipster wirkt er wie ein Magnet. Sie haben ihre Galerien und Bars aufgeschlagen und bieten sich zum Verkauf an. In der Weserstraße (Anm. d Redaktion: im hippen Neukölln) kann an jeder Ecke das Intimste einer verlorenen Seele teuer erstanden werden. Leider ist es trotz des Preises bahnbrechend uninteressant."

Hipster:

"Der Hipster ist ganz simpel sinnentleert. Niemand möchte Hipster genannt werden, weil diese Subkultur nicht mal einen identifikatorischen Kern hat, nur Show ist. Mussten Hippies noch an ihren Idealen oder Drogen scheitern, Punks von der Polizei weggeknüppelt oder von Modelabels absorbiert werden, so ist der Hipster von Anfang an identitätslos gewesen. Berlin ist die Welthauptstadt der Hipster. Es wird genauso leer und gesichtslos wie die Hipster selbst."

Industriewüsten:

"Schon mal in einem Atomkrieg gewesen? Leider nicht? Im Industriegebiet um die Josef-Orlopp-Straße in Lichtenberg kann man sich ansehen, wie das so aussähe. Es gibt in Berlin viele postindustriell verwüstete Enklaven, aber diese ist vielleicht die größte und bestimmt die trostloseste ihrer Art. Industriegebiet und Berlin, das ist schon ein Widerspruch in sich. Niemand hat hier Arbeit, weil es eben keine Industrie gibt. Nur die traurigen Ruinen von dem, was sich dafür hielt."

Prolls:

"Der Proll hat das Arschlochtum auf eine neue Stufe gehoben, indem er die Stadt zur permanenten Bürgerkriegszone gemacht hat. Wenn sich Flughafenstraße Ecke Hermannstraße die finstersten Exemplare versammeln, dann nicht nur um Drogen zu verkaufen. Wie bei der Polizei, die im Schrittempo mit verdunkelten Scheiben vorbeiblubbert, geht es darum, Präsenz zu zeigen."

Touristen:

"All das nicht bemerkend, shoppt der Berlintourist von der übelsten Sorte in der Gegend vom Brandenburger Tor und verseucht Berlin mit ländlicher Beschränktheit. Natürlich bringt er locker sitzendes, mit ehrlicher Arbeit verdientes Geld mit, weswegen der durchschnittliche Berliner ihn geil findet. Für das Fußvolk wird das tägliche Leben teurer und unlebenswerter, aber für die Wirtschaft verkauft der kapitalismusdomestizierte Berliner schon lange seine eigene Mutter. Das Stadtbild sowieso. Das Brandenburger Tor kann man also getrost als real gewordene Postkarte aus Berlin ausgliedern."

Charlottenburg:

"Charlottenburg strotzt vor Arroganz. Der Kaufrausch, in dem sich tagsüber die menschenähnlichen Gestalten kannibalisieren, hat dazu geführt, dass der Ku'damm und der Breitscheidplatz über Dekaden verramscht und architektonisch vergewaltigt wurden."

Friedrichshain:

"In den Neunzigern nach der Wende ging es wild zu in den vergessenen Altbauten. Die Kieze um Stalins Prachtallee verwandelten sich in Wespennester der Kreativität und Freiheit. Ein paar Jahre ging das gut, viele Leute hatten Spaß, Studenten bauten sich Saunas in ihre Wohnungen. Jetzt ist alles schön sauber und geordnet, die Kontrolle ist der Selbstkontrolle gewichen. Speziell die Simon-Dach-Straße entwickelte sich zu einem Hotspot der Gesichtslosigkeit und Abzocke. Busladung um Busladung wird Berechnung angekarrt."

Mitte:

"Mitte ist alles - was Berlin nicht ist. Geschäftig, reich, sauber, elitär, überschön, es will auf Augenhöhe mit den Metropolen der Welt sein. Wer Berlin sehen will, der geht woanders hin. Der Schlossbau steht symptomatisch für Mitte: verfehlter Weltmachtanspruch. Klar, für Berliner Verhältnisse glänzt und blitzt es. Aber verglichen mit Paris, London, New York ist Mitte armselig und provinziell."

Neukölln:

"Wieso ziehen Hipster aus aller Welt frenetisch in das eng bebaute Altbaugebiet zwischen Autobahnen und Stadtmitte, das mit seinen Feinstaubwerten Moskau Konkurrenz macht? Mal wieder sind es die bösen Spekulanten. Die haben Kreuzberg aufgekauft! Wer da gerne wohnen würde, wohnt jetzt in Neukölln. Das ist hässlicher, vollgepisster und stressiger als Kreuzberg. Dafür lebt es noch."

Prenzlauer Berg:

"Prenzlauer Berg ist so wenig Berlin wie nötig und so viel München wie möglich. Wer sein Geld verpulvern will, ist hier richtig. Aber bitte mit Stil. Hier kann man sich als guter Mensch fühlen, wenn man Biocidre aus regionaler Produktion kauft. Tausende verhungernder afrikanischer Kinder gratulieren im Geiste. Architektonisch hätte die Stadt den Bezirk sehr attraktiv gestalten können. Stattdessen wurde er zum Totsanieren freigegeben. Die Straßen sehen aus wie mit Photoshop bearbeitet. Prenzlauer Berg ist vom angesagtesten Bezirk der Nachwendezeit zu einem schwarzen Loch des Interesses mitten in Berlin verkommen."

Bei aller Überdeutlichkeit: Der Autor ist mit seiner Abscheu nicht alleine.

Was andere an Berlin hassen

Hauptstadt zwischen Hype und Hybris: Strahlende Hauptstadt oder elendes Drecksloch? Für die einen ist Berlin immer noch die coolste Stadt der Welt, für die anderen längst schon wieder out. Im Bild: Feier zum Mauerfall, 25 Jahre nach der Wende.

Strahlende Hauptstadt oder elendes Drecksloch? Für die einen ist Berlin immer noch die coolste Stadt der Welt, für die anderen längst schon wieder out. Im Bild: Feier zum Mauerfall, 25 Jahre nach der Wende.

(Foto: AFP)

Alt-Kommunisten: Mit seinem Hass auf Berlin ist Kristjan Knall bei weitem nicht der einzige. Besonders beliebt: Das Schimpfen auf kommunistische Ur-Anwohner. Das Problem: Nur weil die Mauer weg ist und sie keinen Job mehr haben, müssen sie ja nicht ihre Überzeugungen aufgeben. Man trifft sie im Ostteil der Stadt, wo sie als Rentner am Fenster aufpassen, auf Veranstaltungen der Linke, wo sie tüchtig über die neue Weltordnung schimpfen, oder in alten Kneipen, wo sie gar nicht mehr reden. Nicht mit allem liegen sie falsch.

Latte-Macchiato-Mamis:

Die taz veröffentlichte 2011 ein Kapitel aus dem Buch "Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter". Darin werden die besserverdienenden Mütter vom Prenzlauer Berg als "Rinder" bezeichnet, die den ganzen Tag in Cafes rumhängen, mit Kinderwagen anderen den Platz wegnehmen, unappetitlich öffentlich stillen und demonstrativ alle nerven, auch ihre eigenen Männer. Bis Anfang 2014 wurde der Artikel von Usern leidenschaftlich diskutiert, Tendenz: Endlich sagt das mal jemand.

Neonazis:

Die vielen Kundgebungen und Demos gegen Fremdenhass in der Stadt sind leider keine Luxuserscheinungen: Immer wieder kommt es zu Problemen mit Neonazis, ob als verdeckte Kampagne (durch aufwiegelnde Aufkleber in der ganzen Stadt) oder offene Angriffe (Läden werden verwüstet und Leute zusammengeschlagen, teilweise tödlich). Aktuell wiegeln Rechtsextreme in Marzahn Anwohner auf, um Stimmung gegen Flüchtlingscamps zu machen.

Partyszene:

Szeneclubbetreiber hingegen hassen inzwischen die europäische Partycrowd, die sich allwöchentlich per Billgflieger ankarren lässt, um besoffen über die einstigen Underground-Hotspots herzufallen. Untergrund, das war einmal.

Schulden:

Mit Geld hat der Hauptstadtbewohner es nicht so dicke: Mit 63 Milliarden Euro ist die Stadt verschuldet, macht im Schnitt 22 000 Euro pro Kopf - vergleichbar mit Detroit. 16,7 Prozent der Berliner sind auf Hartz IV angeweisen - im Vergleich: Bundesweit sind es 7,5 Prozent. Der nicht enden wollende Flughafenbau als bisheriges Milliardengrab ist da nur die abgehobene Spitze des Eisberges - und wird innerstädtisch im Gegensatz zum Rest von Deutschland eher müde belächelt.

Schwaben:

"Kauft nicht bei Schwab'n" sprühten Unbekannte 2013 auf eine Hauswand im Prenzlauer Berg - Höhepunkt des Berliner Schwabenhasses, für den es bei Wikipedia sogar einen eigenen Eintrag gibt. Der Spruch erinnert an unselige Zeiten. Harmlosere Gestalten bewarfen das Käthe-Kollwitz-Denkmal mit Spätzle. Hintergrund der Hass-Aktionen ist die Einschätzung vieler Berliner, die geschätzt etwa 300 000 schwäbischen Mitbürger in der Stadt würden die Gentrifizierung vorantreiben und Berlin durch Wohlstand, Fleiß und pedantisches Benehmen verspießbürgern.

Startups:

Berlin hat ein größeres Wirtschaftswachstum als der Rest der Republik (voraussichtlich 1,8 Prozent gegenüber 1,5 Prozent laut aktuellen Prognosen). Allerdings über den Tourismus vor allem im nicht gerade fürstlich bezahlten Dienstleistungssektor und in den sogenannten Zukunftsbranchen, also bei Start-ups, die meist ebenfalls nicht für großzügige Löhne bekannt sind. 1,27 Millionen Menschen arbeiten in Berlin. Darunter viele junge Menschen in unsicheren, unterbezahlten Jobs. Auch das trägt auf Dauer zu teils enttäuschten Hoffnungen und der berühmten Hassliebe auf die Hauptstadt bei.

Fazit:

Gehasst wird also aus Leibeskräften alles, was Berlin ausmacht - genauso, wie es von anderen geliebt wird. Das ist erstaunlicherweise auch beim obersten Berlinhasser Kristjan Knall der Fall. Trifft man sich mit ihm zum Interview beim Vietnamesen in einem Stadtteil, der ums Verrecken nicht verraten werden soll, wird schnell klar: Eigentlich steckt in diesem Dauermotzer (der seit dem Berlinhasserbuch inzwischen noch ein "Motzbuch" mit dem Titel "Stoppt die Klugscheißer" und aktuell ein Reisebuch mit dem Titel "Europa ist geil, nur hier nicht - Vorurteile fürs Handgepäck" im Eulenspiegel-Verlag hinterhergeschoben hat) ein verkappter Menschenfreund.

Unter den Hasstiraden verbirgt sich eine Sehnsucht nach einer anderen, besseren Welt. Zieht man die Abneigungen ab, bleibt der dringende Wunsch nach Toleranz, Freiheit, Friede, Freude, Miteinander, und nach Menschen, die sich gegenseitig die Butter auf dem Brot gönnen, kreativ denken und arbeiten und die Welt nicht ausbeuten.

Weshalb auch Kristjan Knall, wie so viele, trotz alledem nicht weg wollen oder können aus Berlin. Weil sie anderswo noch viel unzufriedener wären.

Sogar was Außenstehende oft als größtes Problem Berlins erachten, die Masse, relativiert sich in der Hauptstadt selbst: Ja, hier leben 3,5 Millionen Einwohner, und ja, davon sind fast 200 000 arbeitslos und alle mischen sich mit so vielen Touristen wie nie zuvor - mehr als elf Millionen im Jahr 2013. Aber Berlin ist auch sehr groß: fast 900 Quadratkilometer. Auf zwölf Bezirke und 96 Ortsteile verteilen sich zwar nicht alle gleichermaßen. Doch selbst in Mitte (tagsüber) und in Friedrichshain (nachts) wird nur in den seltensten Fällen gedrängelt. Der Berliner ist relaxt, was die Größenordnungen angeht, und er kann gut mit Masse umgehen. Das zeigte sich aktuell wieder bei der 25-Jahr-Feier zum Mauerfall: Die Straßen waren voll - aber voller Glückseligkeit.

Und nicht zuletzt: Ein ganz normaler Adventssamstag in der Münchner Innenstadt ist wesentlich anstregender als einer an einem beliebigen Ort in Berlin.

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