Der Hamburger Hauptbahnhof ist der meistfrequentierte Bahnhof Deutschlands, ein ständiges Kommen und Gehen mit mehr als 800 Fern- und Nahverkehrszügen und 1200 S-Bahnen. Es gibt Restaurants und Geschäfte, Feinkostläden und Reisebüros, einen Flughafenshuttle und eine eigene Polizeiwache. Und es gibt ein paar Bettler und Obdachlose, die inmitten dieses ganzen Trubels Zuflucht suchen. Vor allem bei Kälte.
Mittlerweile wird das häufig zur Strafsache. Die Bahn erstattet Anzeige. Ein 32-jähriger Obdachloser zum Beispiel, Paul Viktor M., hat gebettelt. Mal stumm auf dem Boden sitzend, ein andermal hat er Passanten angesprochen und sie nach Kleingeld gefragt. Manche werden genervt reagiert haben, andere großzügig, wieder andere gleichgültig. Die wenigsten aber werden eine Vorstellung davon gehabt haben, was Paul Viktor M. in seinem erst kurzen Leben schon durchgemacht hat.
Man kann es im Urteil nachlesen: "Der Angeklagte wurde (...) in Künzelsau geboren", schreibt die Richterin des Amtsgerichts Hamburg-St. Georg. "Er besuchte die Schule, verließ diese jedoch ohne einen Schulabschluss", so heißt es da. "Sein Vater war alkohol- und drogenabhängig und verprügelte den Angeklagten. Infolgedessen fiel der Angeklagte in der Schule durch schwere Verhaltensstörungen auf. Deshalb wurde er auf eine Schule für schwererziehbare Kinder und Jugendliche umgeschult."
Und weiter: "Im Alter von 12 Jahren kam der Angeklagte in ein Erziehungshilfeheim für schwererziehbare Jugendliche. Damals wurde bei ihm ADHS diagnostiziert, und er wurde mit Ritalin behandelt." Es kam dann zum Streit mit den Erziehern, so liest man weiter in dem Urteil, das Kind flog raus, floh in den Alkohol. "Schon früh hatte der Angeklagte das Gefühl, dass man ihn abgeschrieben habe, und in der Folge war ihm schlicht alles egal." Das Strafurteil fährt dann noch fort mit einigen Begriffen aus der Welt der Medizin. Sie beschreiben ein Leben, das sich liest wie eine einzige, höllische Strafe: "Drogenindizierte Hepatitis C", "suizidale Absicht", "emotional instabile Persönlichkeitsstörung (CD10F60.3)", "Desinfektionsmittel getrunken", "Rettungswagen".
Völlig monoton, schließlich, listet das Urteil noch auf, wie oft man diesen kranken, kaputten Menschen, in der Ecke liegend, nun nachts im Hamburger Hauptbahnhof aufgefunden hat, aus Sicht der Deutschen Bahn: ein Hausfriedensbruch. Hier die Pendler, die durch den Shopping-Bahnhof eilen, dort der stumm Schlafende. Fast könnte man meinen, von ihm würde eine Form von wortloser Frechheit ausgehen gegen die Menschen, die an ihm vorbei zur Arbeit eilen. So, als würde er ihnen etwas wegnehmen.
84 "Tathandlungen" das Schlafens im Bahnhof stellt das Urteil fest. Angemessen, so schreibt es die Richterin, sei eine Geldstrafe von 540 Euro angesichts von verminderter Schuldfähigkeit. Bezahlbar in Raten.