Hamburg unter Tage:"Wir sind die letzten Kiezianer!"

Hamburg Reportage Elbschlosskeller Kiez Reeperbahn

Hier darf jeder so verrückt und kaputt sein, wie er gerade ist: der Gastraum des Elbschlosskellers.

(Foto: CP Krenkler ("Buy, Buy - St. Pauli"))

So sauber und aufgeräumt wie heute war Hamburg noch nie. Gibt es noch einen Platz für Menschen, die alles verloren haben? Zu Besuch im Elbschlosskeller auf der Reeperbahn.

Von Thomas Hahn, Hamburg

Draußen ist ein neuer Tag angebrochen. Aber davon bekommt Rima nichts mit, denn im Elbschlosskeller ist das Licht immer gleich. Sie hockt am Tresen zwischen den anderen, hat eine Bierflasche vor sich stehen und wirkt so, als träume sie von einem Leben, das man auch ohne Suff ertragen kann. Sie hat die Augen geschlossen. Frieden liegt über ihrem ausgezehrten Gesicht. Leise singt sie den Refrain des Liedes mit, das aus der Jukebox dröhnt. Clowns & Helden, alte Hamburger Band. "Ich liebe dich, ich liebe dich, oooh-oh." Sie steht auf. Sie tanzt auf dürren Beinen durchs Buntlicht. Sie lächelt. Trotz allem.

St. Pauli, Reeperbahn. Beim verrammelten Casino geht es rechts rein in die Straße Hamburger Berg. Kraftlos schimmert die Leuchtreklame des Elbschlosskellers in den grauen Morgen hinein. Drei Stufen führen hinunter zu einem schweren Vorhang - und dann steht man plötzlich mittendrin in der lärmenden Finsternis des Kellers, der nie zur Ruhe kommt, der immer voll ist mit Musik und Trunkenheit, jeden Tag, jede Nacht, 24 Stunden lang.

Die Leute verwechseln Härte mit Herzenskälte - und herzenskalt ist der Wirt nicht

In der Zeitung stand, der Elbschlosskeller sei die härteste Kneipe Hamburgs, und da ist was dran. Die Stimmung kippt hier schnell. Eine Kleinigkeit reicht, um die Berauschten aufzubringen, und wenn sie rausgeflogen sind, weil Gewalt im Keller verboten ist, geht es draußen oft weiter; vor dem Landgericht läuft gerade der Prozess um eine Schlägerei vor dem Elbschlosskeller, bei der ein Mann nach einem Schlag so unglücklich stürzte, dass er später starb. Aber das ist es nicht wirklich, was diesen Ort zu einer besonderen Bühne der Härten macht: Es sind die Stammgäste mit ihrem Schmerz, ihrem Wahn, ihren erlittenen Geschichten. Rima zum Beispiel. Sie hatte eine schöne Jugend in Klaipeda, Litauen. Sie schloss die Musikhochschule ab. Mit 17 wurde sie so brutal vergewaltigt, dass sie fast daran gestorben wäre. Mit 24 verkaufte sie der Vater nach Deutschland.

Härteste Kneipe. Daniel Schmidt, 33, mag das Image nicht. Er will auch nicht der "härteste Wirt" sein, wie ihn die Zeitungen auch schon genannt haben. Er ist Kampfsportler, ein gedrungener Mann mit Kraft, wenn es sein muss, wehrt er sich so, dass es dem Gegner anschließend nicht gut geht. Aber Härte verwechseln die Leute leicht mit Herzenskälte, und er mag ja vieles sein, rau, laut, zupackend, großflächig tätowiert - herzenskalt ist er nicht.

Der Elbschlosskeller ist sein schmuddeliger Stolz, ein Relikt aus der Zeit, als St. Pauli noch eine Oase für Außenseiter und bunte Vögel war, unverfälscht und ungentrifiziert. Damals, als sein Vater, die Kiez-Legende Lothar Schmidt, im Elbschlosskeller regierte, pulsierte an der Reeperbahn das Leben mit allen Freuden und Scheußlichkeiten. Keinem musste hier etwas peinlich sein, schon gar nicht den Armen ihre Armut oder den Irren ihr Irrsinn. Jetzt sieht Daniel Schmidt, wie zugereiste Neureiche, Billig-Kioske und steigende Mieten dieses Flair der großen Freiheit bedrängen. Die alten Kneipen sind bedroht, auch der Elbschlosskeller. Aber noch lebt er mit seiner Konzession von 1952, seinen versifften Toiletten und seinem veralteten Fluchtweg. Noch können hier jene feiern, die sonst niemand mehr reinlässt. Schmidt schaut auf sich und seine Stammgäste. Er sagt: "Wir sind die letzten Kiezianer!"

Rima, 40, ist nicht nur Stammgast im Elbschlosskeller, sie ist Bewohnerin. Sie hat ihre Sachen bei einem Bekannten, ab und zu kommt sie bei ihm unter. Aber meistens schläft sie auf der Ledercouch oder den Holzbänken im Kickerzimmer des Kellers. Duscht bei Freunden. Nutzt die Kostenlosangebote der Stadt. Und wenn jemand zuhört, erzählt sie in ihrem kantigen Litauen-Deutsch: 20 000 Euro betrugen die Spielschulden des Vaters, als er sie weggab. "Die Männer sagten zu ihm, entweder du bezahlst mit Haus oder ich nehme deine junge, schöne Tochter." Sie kam in einen Club bei Kassel. Sie musste tanzen.

Schmidt redet gern über seine Stammgäste, manchmal anschaulicher, als er sollte. Es gibt viele Geschichten vom Elbschlosskeller. Jene Gäste, die das Leben draußen ohne Tragödie meistern, sind deshalb etwas besorgt um den Ruf ihrer Kneipe. Schreib, dass hier auch normale Leute herkommen, sagen sie. Aber Schmidt hat keine Angst. Im Elbschlosskeller soll mal einer tagelang tot über dem Tresen gehangen haben. Und manche, heißt es, sitzen hier vier Tage, ohne auf die Toilette zu gehen. Stimmt alles, sagt Schmidt. Auch die Sache mit dem Toten? "Wir hatten damals schnellere Schichtwechsel, weil jemand krank war, und jeder dachte, der schläft da erst seit wenigen Stunden." Er mag die unverstellten Wahrheiten der Stadt, den Kontrast zur Wohlfühlgesellschaft. Seine Stammgäste ehrt er wie Helden des Scheiterns. "Die meisten sind hochintelligente, übersensible Menschen, denen ein Schicksalsschlag tiefe Verletzungen zugefügt hat. Sie empfinden zu viel. Wenn sie enttäuscht werden, bluten sie ein Leben lang."

Der Gastraum des Elbschlosskellers wirkt wie die Szenerie eines Endzeitfilms. Das Disco-Licht bricht sich im Qualm der Zigaretten. Im farbigen Nebel erkennt man die ausdruckslosen Mienen der Trinker, die matte Fröhlichkeit der Bedröhnten. Dazwischen Tanz, kehliger Gesang, die Stammgäste in Aktion. Christian, ein drahtiger Mann um die 50, ist kaum einzufangen, weil ihn wieder seine krankhafte Rastlosigkeit packt. Seit 31 Jahren geht er in den Elbschlosskeller. Warum? "Merkst du das nicht?", ruft er und zeigt ins Treiben vor dem Tresen, in dem jeder so verrückt und kaputt sein darf, wie er gerade ist.

"Immer wenn ich traurig bin, bin ich in meinem Keller."

An den Wochenenden wirkt der Elbschlosskeller fast wie eine normale Kneipe. Laufkundschaft kommt, auswärtiges Partyvolk. Die Stammgäste bekommen Gesellschaft. Viele meiden sie, andere sind gerade deshalb da. Am Tresen ist eine Frau in sich zusammengesunken, die Umstehenden unterhalten sich über sie hinweg. Irgendwann rappelt sie sich auf. Zwei müde Augen schauen aus einem zerknautschten Gesicht. "Ich bin Biggi", sagt Biggi.

Biggi ist 80 Jahre und sieben Monate alt, Rentnerin mit Grundsicherung und traurig. "Ich weine um den HSV." Sie wohnt in Schenefeld. Am Nachmittag hat sie Fußball im Radio gehört, das 0:6 in München. Danach ist sie mit dem Taxi in den Elbschlosskeller gefahren. Jetzt ist es Sonntagfrüh um vier und Biggi hat fünf doppelte Wodkas intus. Sie beginnt einen Monolog, der von Einsamkeit und Mut handelt. "Ich bin viel zu lebensbejahend, ich will unter junge Leute." Unter Ächzen lässt sie sich auf die Toilette bringen. Ihre Beine machen nicht mehr richtig mit. Später sagt sie: "Ich hab' mir mal überlegt, ob ich alle Tabletten nehmen soll, die ich habe." Sie schwankt zwischen Müdigkeit und Trotz. "Man sollte immer besoffen sein. Dann ist alles ein bisschen leicht." 100 Euro gibt sie heute aus, ein Vermögen. "Ich will leben", krächzt sie, "warum soll ich sparen?" Sie braucht die Kneipe. "Immer wenn ich traurig bin, bin ich in meinem Keller."

Die Kneipe zu halten, hat für Schmidt auch etwas mit sozialer Verantwortung zu tun. Christian, der Drahtige, hat ihm mal gesagt, der Keller habe ihn vor mehreren Aufenthalten in der Psychiatrie bewahrt. Er ist ein Schutzraum für Gleichgesinnte. Im Kickerzimmer schlafen Rima und andere Obdachlose abwechselnd, damit jeder mal liegen kann. Sie teilen ihr Frühstück. Sie tanzen und trinken zusammen.

Hamburg unter Tage: Der Wirt Daniel Schmidt.

Der Wirt Daniel Schmidt.

(Foto: CP Krenkler ("Buy, Buy - St. Pauli"))

Andere tragen ihren verblassten Ruhm in den Keller. Zum Beispiel Klaus Barkowsky, genannt der schöne Klaus, der in den Achtzigern einer der einflussreichsten Zuhälter der Reeperbahn war. Manchmal ist er so blau, dass er die Gardinen herunterreißt und aussieht wie der graue Geist des einstigen Glamour-Klaus. Ansonsten malt er Bilder und versucht, seinen Mythos zu vermarkten. Als er das Interesse an seiner Geschichte spürt, fragt er: "Kommt eigentlich auch ein bisschen Geld dabei rum?"

An einem anderen Werktagmorgen sitzt ein Mann mit weißem Zopf am Tresen: Alwin, einst Barkeeper der Kiezkneipe "Zum Silbersack". Früher war er eine Attraktion, beim Schlagermove saß er mit blinkendem Zylinder auf dem Festzugsbus seiner Wirtin, der seligen Erna. Er fingert ein abgegriffenes Passfoto aus seinem Geldbeutel. Er vor 18 Jahren. Dunkle Haare, fester Blick. "Ich habe mich nicht als Schönling gesehen, nur als Mensch, aber ich war es für viele", sagt er. Dicke Tränen rollen über seine Wangen, als er von dem Generationswechsel im Silbersack erzählt, den er nicht überstand. "Ich habe einfach aufgegeben, verstehst du." Er erzählt von seinem Kleiderschrank mit den feinen Sachen von früher. "Mir kommt's vor, als ob ich nicht mehr reinpasse in meine Anzüge." Aber irgendwann spielt die Juke-Box "Junge, komm bald wieder". Ein gutes Gefühl fliegt ihn an. Das Bier schmeckt. Und Alwin singt mit rosigem Vergnügen.

Tina ist jetzt nüchtern, weil sie nachher Dienst hinter dem Tresen hat. Aber ihre Geschichte wird nicht schöner.

Erzählen befreit, findet Daniel Schmidt. Er rät allen Stammgästen zu erzählen. Manche folgen, wie Nico, der junge Obdachlose, der die frühen Misshandlungen durch den Stiefvater nicht aus der Seele kriegt. Neulich haben sie ihn aus der Elbe gefischt. Suizidversuch. "Die Mischung aus Beruhigungsmittel und Schnaps bringt dich auf die bescheuertsten Gedanken", sagt er. Andere fürchten die eigene Geschichte. "Ich bin vom Heroin runter, da bin ich stolz drauf", sagt Cindy. Sie erinnert sich. Sie fängt an zu weinen. Daniel Schmidt nimmt sie in den Arm.

Später kommt Tina, die Mutter von Cindy. Als sie neulich in der verrauchten Mittwochmorgenluft des Kellers aus ihrem Leben berichtete, war sie ziemlich betrunken. Jetzt ist sie nüchtern, weil sie nachher Dienst hinter dem Tresen hat. Aber ihre Geschichte wird nicht schöner. Mit 14 ging sie anschaffen, um ihre Drogen zu finanzieren. Mit 17 wurde sie von einem Freier schwanger - Cindy kam, sie wuchs bei Adoptiveltern auf. Mit 22 saß Tina im Gefängnis und musste zum Entzug. Insgesamt hat Tina fünf Kinder, zwei von Freiern, zwei von dem Zuhälter, den sie liebte, eines von ihrem Vater, der sie als 19-Jährige vergewaltigte. Sie ist 51, sie wirkt etwas verbraucht. Wenn sie lächelt, sieht man ihre Zahnlücke. Aber sie scheint nicht wütend zu sein. "So ist mein Leben halt", sagt sie.

Rima lehnt am Tresen. Das Schummerlicht fällt auf ihre welke Schönheit. Sie hustet. Sie ist erschöpft. Aus dem Club bei Kassel befreite sie damals ein Gast. Er heiratete sie, aber das Glück hielt nicht. Ihr Vater lockte sie nach Litauen und nahm ihr Geld und Ausweis weg. Erst Monate später konnte sie nach Deutschland zurück. Sie spielte in einer Musikgruppe in Lübeck, sie kellnerte in Hamburg, sie war bei Zeitarbeitsfirmen. Sie bekam ihre Tochter, sie arbeitete weiter, sie wurde krank. Tuberkulose, Isolierstation. Als sie geheilt war, wollte der Vater ihrer Tochter sie nicht mehr. Das war im Juli 2016. Seither ist sie obdachlos. "Ich bräuchte eine Meldeadresse." Die Tochter hat sie seit Monaten nicht gesehen. Sie will auch nicht, dass die Kleine sie so sieht, so übermüdet, so blass. So betrunken? "Das Wort passt überhaupt nicht", sagt sie. Sie könne jederzeit nüchtern sein. "Ich will mein normales Leben zurück."

Daniel Schmidt wünschte, er könnte Rima retten. Aber gegen die Fliehkräfte des Absturzes ist er machtlos. Er hat schon viele Stammgäste verloren. "Du kannst niemandem helfen, der sich nicht helfen lässt", sagt er. Er kann nur seine Tür offen halten, und hoffen, dass seine Gäste von selbst wieder herausfinden aus der ewigen Nacht des Elbschlosskellers.

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