Hamburg:Ein Szeneviertel stirbt

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St. Pauli ist eine Mischung aus Rotlicht und Musikklub. Aber eines Tages wird die Reeperbahn aussehen wie jede andere Hauptstraße der Stadt.

Jens Schneider

Hamburg, im Juli - Auf der Reeperbahn tags um halb eins hat ein Bummel noch nie viel Freude gemacht. Die Straße ist für die Nacht gemacht. In der Mittagsstunde kommt alles zum Vorschein, was die Dunkelheit verbirgt und die Leuchtreklame der Bars und Varietes nicht ins Licht rückt. Der Dreck, die billigen Bauten, schäbige Sexshops. So war das immer. Aber jetzt ist eine Veränderung eingetreten, und die lässt sich am besten bei Tag erkennen, wenn nicht Scharen von Touristen über den Gehsteig ziehen. Andi Schmidt nennt diese Veränderungen "Zeichen eines schleichenden Todes".

Jahrzehntelang sind auf der Reeperbahn neue Trends entstanden. Bald gibt es dafür keinen Platz mehr. (Foto: Foto: dpa)

"Es fängt gleich da drüben an", sagt der kräftige Mann mit den markanten dunklen Koteletten, als er an diesem trüben Sommertag am Spielbudenplatz im Eingang seines Klubs steht. Noch existiert der letzte von seinem Inhaber geführte Klub für Livemusik, der international einen Namen hat, auf der Reeperbahn. Aber das Molotow hat nur noch eine Galgenfrist. Schmidt will durch das Vergnügungsviertel am Hafen führen und zeigen, warum sein Klub keine Zukunft hat. Es sind nur ein paar Schritte vom Molotow, vorbei am Operettenhaus, hin zum früheren China-Restaurant "Mandarin".

Es ist ein alter, trostloser Betonbau an der Ecke zum Heiligengeistfeld, schräg gegenüber steht das Stadion des FCSt.Pauli. Lange müsste Schmidt davor nicht im Wind stehen bleiben. Es gibt nicht viel zu sehen. Alte Gardinen, verblasste chinesische Schriftzeichen. Nichts mehr los hier, das Lokal ist geschlossen. Aber Schmidt bleibt stehen, weil es so viel zu erzählen gibt. "War mal ein guter Chinese. Vielleicht der beste", sagt er.

Aber darum geht es nicht, China-Restaurants gibt es genug. Schmidt breitet die Arme aus, um eine große Vergangenheit zu beschwören. Er erzählt, wie hier vor wenigen Jahren der "Mojo-Club" pulsierte. "Der war, vorsichtig ausgedrückt, international bekannt." Genauer gesagt: "Der hat eine weltweite Welle losgetreten mit seinem Dance Floor Jazz." Er übertreibt nicht, der Mojo-Club ist für Musikfans eine Legende. "Davor stand oft 'ne Riesenschlange, nun ist alles tot." Als es vor Jahren hieß, das Gebäude solle Bürohäusern weichen, zogen die Betreiber sich zurück. Noch wird auf den Abriss gewartet, so veranstalten sie ab und zu Dance-Partys. "Ist aber", sagt Schmidt, "nie geworden wie früher."

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Auf der Reeperbahn
:Hamburger Kiez-Szenen: St. Pauli

Fußballkult und Matrosenromantik prägen das Viertel genauso wie die obligatorischen Sexshops.

Das Ende des Mojo markiert für ihn den Anfang einer Serie von Abschieden. "Hier stirbt ein weltbekanntes Szeneviertel", sagt er, "einfach so." Im Zeitraffer erinnert er an Rock-Karrieren und Musiktrends, die in Hamburger Klubs anfingen. An eine Zeit, als die Reeperbahn mehr wurde als eine schillernde Touristenattraktion und eine Jugendszene aufblühte, in der neue Trends gediehen. Da waren, natürlich, die Beatles. Später der Dancefloor-Jazz, HipHop, oder "die Hamburger Schule" mit Bands wie Tocotronic und Blumfeld. Schmidt nennt deutsche, englische und amerikanische Bands der Independent-Szene, die von hier aus ihr Publikum in Europa eroberten.

Dann dreht er ab, springt schnell über die Reeperbahn, auf der jetzt die Autos rasen wie auf einer Schnellstraße. Es geht zur anderen Seite, Richtung Fischmarkt, vorbei an Pornoshops und Imbissläden. Er stoppt vor einem Supermarkt. Mit beiden Armen zeigt er auf den mit Sonderangeboten zugeklebten Eingang: "Das ist ein ganz krasser Sündenfall." Hier war früher das "Bayrisch Zell", eine St. Pauli-Institution, in der zu scheppernder Blasmusik jeden Abend Touristen-Gaudi abging. Manchmal machten die Jugen auf ihrer Tour hier Station, das war hip. Blaskapellen sind nicht Andi Schmidts Favoriten. Aber das "Bayrisch Zell" gehörte für ihn zur Reeperbahn in ihren lebendigen, urwüchsigen Zeiten, als sie einen Charme hatte, den Discounter nicht erzeugen.

Nach dem Supermarkt macht Schmidt nur selten Stop. Wo er gern noch was zeigen möchte, gibt es nichts mehr zu sehen, höchstens eine verrammelte Tür. Ihm bleibt stets nur der gleiche Satz, er kommt einer Todesanzeige gleich: Dort war die "Tanzhalle", da drüben war das "KDW", hier die "Weltbühne" - Live-Klubs mit eigenem Musikprofil.

Schmidt ist 45 und selbst leidenschaftlicher Rockmusiker, er singt, und er spielt Gitarre. Vor 18 Jahren gründete er das Molotow als Klub für kleine Konzerte. Als sein Rundgang nun wieder dort endet, erzählt er, wie versessen Musiker aus England, den USA oder Kanada auf Hamburg sind. Egal, welchen Stil sie selbst spielen: Für alle klingt "St. Pauli" und "Reeperbahn" nach einem Mythos, an dem sie teilhaben wollen. "Alle wollen sehen, wo die Beatles früher spielten." Und dann auch in dieser Stadt spielen.

Nur könnte hier bald nichts mehr sein. Zwar gibt es große Konzerthallen, aber die Klubs, in denen Bands ihr erstes Publikum finden oder ihr Stammpublikum immer wieder, werden bald fehlen: Treffs für Bands und Zuhörer, die sich in der Welt des musikalischen Massengeschmacks nicht wohlfühlen. Schmidt hat jetzt angekündigt, dass er sein Molotow schließen muss.

Es ist ein Keller-Klub, dessen Charme aus der Intimität entsteht. Sehr eng gedrängt passen 350 Besucher rein. Da ist kein Platz für Distanz zwischen Gästen und den Bands auf der kleinen Bühne. Hier ist kein Ort für easy listening nach Art heutiger Radiosender. Das Molotow war eine wichtige Tür zum deutschen Publikum für Bands, die nicht in Hitparaden auftauchen, aber für Kenner Größen sind - Namen wie The Hives, Maximo Park oder The White Stripes prangen über dem Eingang.

Was weg ist, ist weg

Aber Schmidt kann sich den Betrieb nicht mehr leisten. Er leidet nicht an Zuschauerschwund. Doch der Getränkeumsatz ist dramatisch eingebrochen, und nur durch den hat er den Klub zuletzt noch halten können. Der Umsatzeinbruch mag damit zu tun haben, dass die Leute weniger Geld haben. Schmidt erklärt sich die Misere anders. Als auf der Reeperbahn noch viele Live-Klubs existierten, kamen die Leute nicht nur für ein Konzert, um danach wieder heimzufahren. "Sie zogen von Klub zu Klub", sagt er. Ließen sich von einer Band überraschen, machten in einer skurilen Eckkneipe eine Pause, hörten im nächsten Klub beim Bier andere Musik.

Anders als heute setzte Schmidt damals selten Karten im Vorverkauf ab, die Leute kamen einfach vorbei: "Man ging auf die Reeperbahn." Sie war Hamburgs Szeneviertel, zog Leute aus den Vorstädten an, auch von weiter her. Dann begann das Sterben der Klubs, weil Geld fehlte, enge Auflagen ihr Leben schwer machten, die Mieten zu hoch waren - vor allem aber, weil die Gebäude, in denen sie untergebracht waren, neuen Bürohäusern oder Parkplätzen weichen mussten. Und mit jedem Untergang verlor die Reeperbahn für die Szene an Anziehung. Die Musicals seien doch eh für Touristen, sagt Schmidt, "für Supermärkte und Burger-Ketten kommt keiner her."

Heute würde man aus Braunschweig wohl eher nach Berlin fahren, sagt ein Kollege Schmidts, der mit seinem Klub in einen Nachbarstadtteil gezogen ist. Viele aus Musikszene klagen, dass die Stadt lange nicht verstanden habe, wie sehr ihr internationales Ansehen seit den Beatles durch ihre Musikszene geprägt wurde. "Wenn Hamburg seine Kreativen nicht stützt, ist es bald vorbei", sagt Andrea Rothaug, Sprecherin des "Club-Kombinats" der Hamburger Klub-Betreiber. Schon lange wüssten die Politiker um die Misere. Doch sie nähmen in Kauf, dass die Szene verfalle.

Seit Andi Schmidt das Ende des Molotow ankündigte, ist einiges in Bewegung geraten. Eine Initiative hat ein Spendenkonto eingerichtet. An ein Benefizkonzert wird gedacht. Doch das wären nur kurzfristige Hilfen. So setzt er die meiste Hoffnung in Bemühungen der Kulturbehörde. Ein Staatsrat hat sich mit ihm getroffen, aber konkrete Zusagen gibt es noch nicht. Wenn nichts passiert, ist zum Jahresende Schluss. "In Hamburg sagt man: Was weg ist, ist weg. Bald wird auf Tourneeplakaten neuer Bands der Name dieser Stadt nicht mehr neben Berlin stehen", sagt er etwas resigniert. Eine Tages, schildert er seine Schreckensvision, werde die Reeperbahn aussehen wie jede andere Hauptstraße der Stadt.

© SZ vom 22.7.2008 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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