Süddeutsche Zeitung

Guide Michelin:Die Chefin der Chefs

Juliane Caspar ist die erste Frau und die erste Deutsche an der Spitze des französischen Guide Michelin - ein Besuch in Paris bei einer, die unerkannt bleiben will.

Marten Rolff

Der Weg zum Weltgerichtshof des guten Geschmacks führt über eine Prachtstraße. Die Pariser Avenue de Breteuil ist mit Platanen und Palais gesäumt und läuft direkt auf den Invalidendom zu. Vom goldenen Kuppelbau sind es keine dreihundert Meter mehr, bis man vor einer weißen Art-Déco-Fassade steht, der ein mächtiges Eisengitter sowie ein Garten mit Palmen und Bambus vorgelagert ist: Die Redaktion des französischen Guide Michelin residiert in der Art von Gebäude, die bei Gästen gewisse Erwartungen weckt. Und der wichtigste aller Gourmetführer hat zuletzt noch mehr als sonst getan, um diese Erwartungshaltung weiter zu schüren.

15 Monate ist es her, dass der Guide Rouge eine neue Chefredakteurin berufen hat. Die Ernennung der damals 38-jährigen Deutschen Juliane Caspar zur wohl einflussreichsten Gastrokritikerin der Welt war eine doppelte Premiere: In der gut hundertjährigen Geschichte der französischen Feinschmeckerbibel ist Caspar nicht nur die erste Frau, sondern auch die erste Ausländerin an der Spitze. "Eine Sensation!", riefen einige Köche, "eine Revolution!", urteilten andere. "Keine Interviews!", beschied Juliane Caspar und begab sich sofort in eine gut einjährige Klausur. In Berichten war vom "Phantom" die Rede; es gibt kein einziges Foto, schließlich will die neue Michelin-Chefin weiter unerkannt als Testesserin arbeiten. Und auch sonst weiß man wenig über die Frau, die innerhalb von nur sieben Jahren Karriere gemacht hat und zuletzt die deutsche, österreichische und Schweizer Ausgabe des Gourmetführers leitete.

Das Phantom nimmt Gestalt an

In der vergangenen Woche nun ist die erste Ausgabe des Guide Rouge unter ihrer Ägide erschienen. Damit ist die Nachrichtensperre aufgehoben, "das Phantom" gibt erstmals Interviews.

Wer auf dem Weg zu Juliane Caspar die beiden Sicherheitskontrollen durchlaufen hat und am Empfang der Redaktion steht, wird zunächst daran erinnert, dass die Wurzeln des Guide Michelin als Aushängeschild des gleichnamigen Reifenherstellers von jeher bodenständig sind. Von den niedrigen Decken geben Halogenstrahler ein kaltes Licht, in den Gängen stehen Furnierschrankwände und Automaten mit Schokoriegeln. Die Chefin geht selbstverständlich niemals mit Journalisten essen, und sie empfängt auch keine Gäste in ihrem Büro. Stattdessen lässt sie in ein gläsernes Besprechungskabuff bitten, das maximal vier Personen Platz bietet. Eine Assistentin schüttet drei Käsebrötchen in einen Korb, anschließend verteilt sie braune Nespresso-Pappbecher und Limoflaschen auf dem Tisch. "Mögen Sie Cola?", fragt Caspar lächelnd, bevor sie ihren Becher mit einer Brauseschaumkrone adelt. "Ja? Schön, ich nämlich eigentlich nicht so sehr."

Höflichkeit statt Schubladendenken

Cola, Käsebrötchen und Schokoriegel im Epizentrum der Gastrokritik? Ein wenig erinnert das schon an eine gallische Weisheit aus "Asterix als Legionär". Darin sitzt Asterix mit Obelix bei den Römern zu Tisch und warnt: "Mach dir keine Hoffnungen. Je besser die Armee, desto schlechter das Essen. Das hält die Krieger bei schlechter Laune."

Die 90 Inspektoren des Guide Michelin als Armee der schlechten Laune - dieses Klischee stammt noch aus der Zeit der Nouvelle Cuisine, als das Personal in den Spitzenrestaurants ängstlich nach griesgrämigen, allein speisenden Herren, den möglichen Testessern, Ausschau gehalten und regelmäßig die Nummernschilder auf den Parkplätzen kontrolliert haben soll. Es ist ein Klischee, das bis heute gerne gegen den Michelin vorgetragen wird und das, wie man einräumen muss, auf die neue Generalin in keiner Weise zutrifft.

Schubladendenken sei ihr ein Gräuel, sagt Juliane Caspar. Und schlechte Laune auch. Das schönste Erlebnis seit ihrem Dienstantritt sei deshalb gewesen, dass jeder der 15 französischen Inspektoren persönlich in ihrem Büro erschienen sei, um zu sagen, wie sehr er sich auf die Zusammenarbeit freue. Diese Kollegialität hat ihre Vorfreude auf die neue Aufgabe gesteigert, wie ein höflicher Kellner die Vorfreude auf ein Essen steigert. "Was mich in einem Lokal am meisten stört, sind "unfreundliche Angestellte", sagt Caspar. Auch wenn der Michelin Service und Küche getrennt beurteile, "der Service ist der erste Eindruck". Sie selbst hat als Kellnerin angefangen. Köche, mit denen sie zusammengearbeitet oder denen sie sich als Testesserin vorgestellt hat, beschreiben sie als "durchsetzungsstark", aber auch als "äußerst angenehm im Umgang". Ausgesprochen höflich sei sie. Und immer sachlich, immer diskret. Ein Mensch, der sich zurückzunehmen weiß.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie ein Au-pair aus der Toskana zur Feinschmecker-Chefin wurde.

Das Bild, das sie zeichnen, spiegelt sich auch in Caspars Äußerem wider: Sie trägt ein schlichtes, schwarzes Oberteil, einen knielangen cremefarbenen Rock, halbhohe Pumps und Perlohrringe zum dezenten Make-Up. Eleganz, die sich nicht aufdrängt. So könnte sie ein Sternelokal betreten, aber eben auch eine Betriebskantine. Sie formuliert präzise. Und jeder ihrer Sätze ist dem Bemühen untergeordnet, unwichtiger zu erscheinen als das rote Buch, das sie vertritt. Weil der Guide Rouge, dessen ängstlich erwartetes Diktum Jahr für Jahr über Aufstieg und Fall der Sterneköche entscheidet, ja bereits genug Aufregung verursacht. Das Interesse an der ersten von ihr verantworteten Ausgabe in der vergangenen Woche war riesig. "Vielleicht größer als sonst", gibt Caspar zu. Doch habe dieses Interesse "glücklicherweise" vor allem den Ergebnissen gegolten und nicht ihr. Es klingt erleichtert.

Persönliche Fragen, so hatte es vor dem Interview geheißen, solle man ihr bitte nicht stellen. Weil das schnell zu Missverständnissen führen kann. Zum Beispiel, als sie erzählt, dass sie trotz der vielen Arbeit sogar noch Zeit gefunden habe, Sommerurlaub zu machen, auch dank ihrer guten Organisation. Sie ist zu Familie und Freunden nach Bochum gefahren, denn entgegen ihren Erwartungen habe sie doch länger gebraucht, sich in Paris einzuleben; Karlsruhe, wo die deutsche Redaktion des Guide Michelin sitzt, sei beschaulicher, familiärer gewesen.

Landmensch und Organisationstalent

Ob sie denn kein Stadtmensch sei? "Oh, nein! Doch! Am Ende schreiben Sie das noch!", antwortet Juliane Caspar und lacht fast erschrocken. Vielleicht sei sie "eher Landmensch", aber sie habe sich längst akklimatisiert. Sie liebe Paris mit seinen wunderbaren Bistros und den schönen Märkten, auf denen man tolle Qualitätsprodukte kaufen könne, schiebt sie hinterher. Eine neue französische Michelin-Chefin mit deutschem Organisationstalent, die sich in der Heimatstadt der Currywurst von Paris erholt und Karlsruhe vermisst? Natürlich hat sie das so nicht gemeint. Aber wenn man es am Ende so verstünde? Quelle catastrophe!

Der britische Guardian hatte bei Caspars Berufung geunkt, dass die französischen Gourmets nun wohl ihre Meinung zu Eisbein mit Sauerkraut und Königsberger Klopsen überdenken müssten. Doch der Aufschrei, dass eine 38-jährige Deutsche die Geschicke des Guide Rouge lenken soll, ist im Land mit den meisten Drei-Sterne-Restaurants der Welt ausgeblieben. "Eine junge Deutsche ist mit Sicherheit interessanter als ein weiterer alter Franzose", schrieb der Gourmetkritiker des konservativen Figaro lapidar. Eine Einschätzung, die sie freue, sagt Caspar, wenn sie auch nicht darauf reduziert werden wolle. Aber natürlich ärgerte es sie ein wenig, als einige französische Journalisten fragten, ob sie dem Job denn gewachsen sei - als Frau und als Deutsche.

Öffentlich Zweifel geäußert an ihrer Qualifikation hat dann trotz dieser Nachfragen niemand. Die Gastronomie sei früh ihr Ziel gewesen, sagt Caspar. Sie sagt von sich, dass sie "recht gut" kochen könne, "am liebsten Pasta", wenn auch nicht so gut wie ihre Schwester und ihre Mutter. Nach dem Abitur geht sie als Au-pair in die Toskana, dann beginnt sie ihre Ausbildung im Freiburger "Colombi", in dem sie erste Erfahrungen mit der Sterneküche sammelt. Auch ihre weiteren Stationen (Italien, England, Südafrika) richtet sie stets nach der Bedeutung des Hauses aus.

Als sie sich 2002 blind beim deutschen Michelin als Inspektorin bewirbt, spricht sie vier Sprachen fließend und ist Restaurantleiterin im Drei-Sterne-Restaurant "Vendôme" in Bergisch Gladbach. Das Bewerbungsgespräch beim Gourmetführer findet traditionell im Restaurant statt, anschließend muss sie eine schriftliche Beurteilung des Essens abgeben. Kaum drei Jahre später ist sie Chefredakteurin.

20 neue Sterne in Deutschland

Ihr Erfolg habe auch damit zu tun, "dass ich zur rechten Zeit am rechten Ort war", wiegelt Caspar ab. Außerdem brauche man ein Verhältnis zum Essen, das sie als "diszipliniert und leidenschaftlich" bezeichnet. Wenn sie in einem Restaurant die Karte in den Händen hält, empfinde sie jedes Mal eine Vorfreude wie ein Kind, sagt Caspar, "zugleich darf man sich dann nicht schon über den Brotkorb hermachen". Anders sei es nicht durchzuhalten, Zehntausende Kilometer pro Jahr zu reisen und bis zu 250 Menüs zu verkosten.

Während ihrer Zeit als deutsche Michelin-Chefin sind in Deutschland 20 neue Sterne vergeben worden; manche Köche haben ihre Berufung in Paris daher als "neue Offenheit" des wegen seiner Geheimniskrämerei oft kritisierten Guide Rouge gewertet. "Offenheit ja, neue Offenheit nein", sagt Caspar dazu und lächelt, "man darf so einen Wechsel an der Spitze nicht überbewerten." Der Michelin werde sich richten, wonach er sich immer gerichtet habe, nach seinen bewährten Qualitätsrichtlinien und seinen Lesern.

Eines aber hat sie doch geändert: In Deutschland hat sie Köche zum Gespräch getroffen, die Einsicht in ihr Bewertungsdossier wünschten. In Frankreich ist das vorbei. Sie will unerkannt bleiben, "wenn es geht, gern zehn Jahre". Die Köche werden zittern vor einer Frau, die alle nett finden und die es eigentlich gar nicht gibt.

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Quelle:
SZ vom 09.03.2010/leja
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