70 Jahre Grundgesetz:In bester Verfassung

Tag der deutschen Einheit

Feuerwerk zum Tag der Deutschen Einheit in Berlin (2015): Dem alten Nationalismus stellte die Republik den Verfassungspatriotismus entgegen - der freilich Definitionssache blieb.

(Foto: dpa)

Erst ein Provisorium, dann fast schon eine weltliche Staatsreligion und stets die Antithese zur finsteren Nazivergangenheit: über den erstaunlichen Erfolg des Grundgesetzes.

Von Kurt Kister

Es gibt in Europa einen Staat, Großbritannien, der gut und sehr demokratisch bis heute ohne eine geschriebene Verfassung lebt. Frankreich wiederum hat seit der Revolution 1789 mehr als ein Dutzend verschiedene Verfassungen verabschiedet. Auch Deutschland, das vor der Reichsgründung im Januar 1871 eigentlich überwiegend ein geografisch-kultureller Begriff war, hat sich in den vergangenen 150 Jahren an mehreren Verfassungen versucht. Die beste unter ihnen - und glücklicherweise auch die am längsten gültige - ist das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.

Gewiss hat sich die deutsche Geschichte nicht auf die Bundesrepublik hin entwickelt - Geschichte hat weder eine Bestimmung noch ein Ziel, auch wenn dies manche Philosophen und Politiker, Ideologen und Historiker immer wieder mal behaupten. Und dennoch konnte Deutschland nichts Besseres als dieses Grundgesetz passieren.

70 Jahre Grundgesetz

Die deutsche Verfassung ist am 8. Mai 1949 beschlossen worden und mit Ablauf des 23. Mai 1949 in Kraft getreten. Weitere Artikel aus dem SZ-Grundgesetz-Spezial finden Sie hier.

Die Bundesrepublik bleibt der Nachfolgestaat des Deutschen Reichs, mit allen Konsequenzen

An seinem Anfang stand die Katastrophe als Folge der deutschen Hybris, die zuerst die kurzlebige Republik von Weimar zerstörte und dann ganz Europa sowie Teile der Welt mit Krieg und Vernichtung überzog. Die Nazis und mit ihnen die Mehrheit der Deutschen hatten auch jenes Land, von dem sie gern und lauthals sangen, dass es über allem stehe, nahezu vollständig beschädigt - materiell, moralisch und geistig. Was im Mai 1945 von Deutschland noch übrig war, teilte sich in vier Besatzungszonen auf, deren Zukunft höchst ungewiss war. Es gab nicht viele, die daran glaubten, dass aus den Trümmern des Reiches ein demokratischer Staat entstehen könnte. Und dass dieser Staat auch 70 Jahre später noch sein Wesen und Sein über die damals neu zu schreibende Verfassung definieren würde, glaubte wohl niemand.

Die Entstehung dieser Verfassung ist selbst schon wieder Geschichte geworden: Der Konvent auf der Insel Herrenchiemsee im August 1948; das verständlicherweise nicht immer wohlwollende Misstrauen der Westalliierten und die Ablehnung des Prozesses durch die Sowjetunion; die monatelangen Debatten im Parlamentarischen Rat mit den Hauptprotagonisten Konrad Adenauer von der CDU und Carlo Schmid von der SPD; schließlich die Annahme des Grundgesetzes durch den Parlamentarischen Rat am 8. Mai 1949. Nach der Zustimmung der alliierten Militärgouverneure und der (west)deutschen Länder verkündete Adenauer als Präsident des Parlamentarischen Rates am 23. Mai 1949 das Grundgesetz, am 24. Mai um Mitternacht trat es in Kraft.

Bayern hatte als einziges Bundesland nicht zugestimmt, weil man in München die Auffassung vertrat, die neue Verfassung berücksichtige die Interessen der Bundesländer zu wenig. Wie die Bayern so sind, ließen sie allerdings die Hintertür weit offen: Man wolle das Grundgesetz dann akzeptieren, wenn mindestens zwei Drittel der anderen Länder es ratifizieren würden. So kam es erwartungsgemäß, und das bayerische Nein blieb damit lediglich eine Mia-san-mia-Fassade.

"Verfassung" wollte man das Grundgesetz nicht nennen. Man dachte, das sei zu endgültig angesichts der Tatsache, dass zu viele Deutsche an seinem Zustandekommen nicht beteiligt waren. Die Deutschen in der Sowjetischen Besatzungszone, die alsbald zur DDR wurde, konnten nicht mitberaten und mitbestimmen. Auch das Saarland war nicht beteiligt. Es hatte auf Betreiben der Franzosen einen Sonderstatus, erst 1957 trat es nach einer Volksabstimmung der Bundesrepublik bei.

Das Grundgesetz war geprägt davon, dass dieses neue Deutschland, für das es geschrieben worden war, sich radikal vom Deutschland der Jahre 1933 bis 1945 unterscheiden sollte. Dieses Denken findet sich bis heute nicht nur in so grundlegenden Artikeln wie jenen über die Würde des Menschen, den Gleichheitsgrundsatz oder die Presse- und Meinungsfreiheit wieder. Es gibt darüber hinaus Artikel, die gleichsam auch als Reaktion auf und als Prävention gegen spezifische Erfahrungen in der Weimarer Republik und in der Nazi-Zeit formuliert worden sind.

Die Machtlosigkeit des Bundespräsidenten etwa resultiert aus der unheilvollen Rolle des Reichspräsidenten in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Auch das individuelle Recht von Verfolgten auf Asyl hat entscheidend damit zu tun, dass es die Deutschen selbst waren, die nach 1933 Millionen Menschen aus sogenannten rassischen, politischen, ideologischen und anderen Gründen bis hin zur Massenvernichtung verfolgten, einsperrten und ermordeten. Vor diesem Hintergrund ist die bei Rechten und Konservativen immer wieder zu hörende Einschätzung, das Asylrecht sei nicht mehr "zeitgemäß", mindestens sehr ahistorisch. Die Bundesrepublik ist und bleibt noch für lange Zeit der Nachfolgestaat des Deutschen Reichs, mit allen Konsequenzen.

Die Bonner Republik war westdeutsche Normalfall geworden

Zwar sollte das Grundgesetz durchaus an die positiven Seiten der Weimarer Verfassung anknüpfen. Aber in jedem Fall sollte die Bundesrepublik so etwas wie die Antithese zum Nazi-Staat werden; das Grundgesetz gab dafür den Rahmen. Weil sich im Osten die DDR ebenfalls als Antithese zu den Deutschlands vor 1945 verstand, gleichzeitig aber auch das sozialistische Gegenmodell zur Bundesrepublik sein wollte, war die Konkurrenz der beiden deutschen Staaten auch eine regionale Ableitung der globalen Systemkonkurrenz zwischen kapitalistischer Demokratie und sozialistischer Ein-Partei-Herrschaft an der heißen Nahtstelle zwischen Ost und West.

Im Parlamentarischen Rat war die Einheit Deutschlands noch sehr im Vordergrund gestanden; das Grundgesetz wurde durchaus auch als Teil jenes Provisoriums verstanden, als das viele die Bonner Republik zunächst sahen. Im Laufe der Zeit akzeptierten immer mehr im Westen die DDR als Faktum und die Teilung Deutschlands ebenso. Die allermeisten Deutschen, die in den Siebzigerjahren diesseits oder jenseits der befestigten Grenze zur DDR beziehungsweise zur Bundesrepublik lebten, hielten eine Vereinigung der beiden Teile für nicht mehr realistisch - jedenfalls nicht in der damals absehbaren Zeit. Dies hatte auch zur Folge, dass die Bundesrepublik und ihr Grundgesetz den Charakter des Provisoriums mehr und mehr verloren. Die Bonner Republik war der westdeutsche Normalfall geworden.

Nach 1989 gab es viele, die behaupteten, sie hätten sich immer für eine Vereinigung eingesetzt und also auch an sie geglaubt. Wer in der Bonner Republik gelebt hat, wer die Regierungen Kiesinger, Brandt, Schmidt und/oder auch den ersten Teil der Regierung Kohl erlebt hat, der weiß, dass die deutsche Frage immer mehr in den Hintergrund rückte.

Das Grundgesetz unterm Arm und den Stahlhelm auf dem Kopf

Für viele Westdeutsche, zumal für liberale Bildungsbürger, wurde das Grundgesetz auch so etwas wie das Zentrum einer säkularen Staatsreligion. Die lange und quälende Auseinandersetzung über Nation und Nationalismus, über die deutsche Identität und darüber, ob der Weg nach Auschwitz "typisch deutsch" gewesen sei, prägte lange das geistige Leben in der Bundesrepublik. Man las und diskutierte Heinrich Böll, Siegfried Lenz oder Günter Grass, deren Werke sich fast immer um den deutschen Zivilisationsbruch im 20. Jahrhundert drehten. Dem deutschen Patriotismus alter nationaler Prägung stellte man den Verfassungspatriotismus entgegen - das Selbstverständnis großer Teile der Gesellschaft fußte auf den Werten des Grundgesetzes. Viele definierten jenes "Deutschland", das sie als das Ihre betrachteten, nicht mehr so sehr über seine Geschichte oder seine Kultur, sondern eben über das Grundgesetz.

Dies gab es in moderater Ausprägung, aber, nicht zuletzt während der bleiernen Jahre des RAF-Terrorismus, auch in einer vielleicht dann doch wieder typisch deutschen Überreaktion. Verfassungspatrioten waren eher sanfte Demokraten wie Bundespräsident Gustav Heinemann, aber auch leicht autoritäre Charaktere wie Helmut Schmidt. Selbsterklärte Verfassungspatrioten trugen das Grundgesetz unter dem Arm, manchmal aber auch den Stahlhelm auf dem Kopf. Verfassungspatriotismus wurde in eher linksliberalen Kreisen außerdem zu einem als moralisch besser empfundenen Substitut für das Nationalbewusstsein.

Diejenigen, die mit dieser Apotheose der Verfassung nicht viel anfangen konnten, benutzten gerne und mit hämischen Anklängen das Kürzel FDGO. Es stand für "freiheitlich-demokratische Grundordnung", ein Begriff, der in vielen Sonntagsreden zur Phrase erstarrt war. In der Auseinandersetzung über Grundgesetz und deutsche Identität avancierte der "Verfassungsfeind" zum klassischen Gegnerbild der Bonner Republik; man bekämpfte ihn mit dem Radikalenerlass, mit Polizei und Geheimdiensten. Dabei blieb allerdings auch manchmal das liberale Menschenbild eben jener Verfassung, zu der sich die Verfassungspatrioten jeder Art und Provenienz bekannten, auf der Strecke.

Ein bei Links und Rechts nahezu ähnlich beliebter Vorwurf lautet bis heute, dass der jeweilige politische Gegner die Verfassung aushöhle oder gegen Buchstaben und Geist des Grundgesetzes verstoße. Das in Deutschland noch (oder wieder) verbreitete Gefühl, man stehe kurz vor dem Abgrund und die Verfassung sei ernsthaft gefährdet, bestimmte viele Auseinandersetzungen. Dazu passt, dass es eine Frage gibt, die seit Jahrzehnten in Abwandlungen auf Podiumsdiskussionen, in Leitartikeln, Büchern und Talkshows Konjunktur hat: Wie stabil ist die Republik, wohin treibt sie, was unterscheidet uns von Weimar? Und sage niemand, dass es in der Apokalyptik des gehobenen Stammtisches keine Entwicklungen gebe: Seit ein paar Jahren wird nicht mehr nur "Weimar" als historisch-politische Benchmark für die Gegenwart genommen, sondern auch die historischen Analogien zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sind wieder beliebter geworden.

Aber eigentlich belegt die Tatsache, dass wir alle zehn Jahre zum jeweiligen Jubiläum des Grundgesetzes gedankenschwere Überlegungen zur Stabilität der Republik anstellen, wie stabil diese Bundesrepublik ist - und wie das Grundgesetz diese Stabilität gefördert hat. Es gab sogar mit seinem Artikel 23, dem ehemaligen Beitritts-Artikel, einen Weg vor, den auch die DDR-Volkskammer 1990 mit Mehrheit einschlagen wollte, um die Vereinigung der beiden deutschen Staaten durch den Beitritt der DDR zur Bundesrepublik zu vollziehen. Dies ist bis heute außerordentlich bemerkenswert geblieben, denn de facto hat das Verfassungs-, Staats- und Demokratieverständnis der Väter und Mütter des Grundgesetzes entscheidend dazu beigetragen, dass ein so komplizierter Prozess wie die Vereinigung zweier Staaten einer Nation geglückt ist.

Nein, perfekt lief dieser Prozess nicht, und auch heute, mehr als ein Vierteljahrhundert später, leben die Deutschen in Ost und West mit manchen Schwächen und etlichen Defiziten. Manchmal wirkt es so, als nehme die Entfremdung zwischen Ost und West wieder zu. Wer aber weiß, wie es vor 1989 war, der muss eigentlich auch wissen, wie sehr gerade das Grundgesetz zur allmählichen Integration zweier Gesellschaften und Kulturen beigetragen hat, die sich seit Ende der 1940er-Jahre bewusst und mutwillig voneinander entfernt hatten.

Die friedliche Revolution im Osten und die zweifelnde Grundgesetz-Republik im Westen bereiteten jenen Boden, auf dem das nun wirklich neue Deutschland gewachsen ist. Folgerichtig gibt es den alten Beitritts-Artikel 23 nicht mehr; trotz aller Probleme hat sich eines der wichtigen Ziele des Grundgesetzstaates verwirklicht: die friedliche deutsche Einigung und mit ihr die Gültigkeit des Grundgesetzes für alle Deutschen.

An der Stelle des Beitritts-Artikels steht jetzt der Europa-Artikel 23. Er schreibt nicht nur die europäische Verankerung der Bundesrepublik fest, sondern auch die andauernde Bedeutung des Wertekanons des Grundgesetzes für Europa. Schade eigentlich, dass die Briten keine Verfassung, schade aber vor allem, dass sie keinen solchen Europa-Artikel haben.

Karlsruhe ist längst ein Symbol für die Bundesrepublik

Deutschland lebt gut mit seinem Grundgesetz, das auch in diesem Sinne längst seine Verfassung ist, weil es zu jeder Zeit eben auch die Verfassung, den Zustand der Republik widergespiegelt hat. Um die Auslegung der Grundgesetzes wird gestritten, seitdem es in Kraft getreten ist. Die Geschichte der Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ist auch eine Geschichte der Bundesrepublik. Seit 1951 sitzt das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, und seitdem ist der Name dieser eher beschaulichen einstigen badischen Residenzstadt zu einem Symbol der Bundesrepublik geworden - so wie Bonn und Berlin.

Die Karlsruher Richter haben im Laufe der Jahrzehnte viele Urteile gefällt, die das Grundgesetz interpretiert haben und vielerlei politische Folgen nach sich zogen. Das Gericht, das als Institution höchstes Ansehen genießt, trägt dazu bei, dass das Grundgesetz eben nicht auf dem Status seiner Verabschiedung stehen bleibt oder gar erstarrt. Die Verfassungsgerichtsbarkeit schreibt die Verfassung zwar nicht neu, aber sie schreibt sie fort. Sie agiert und reagiert darauf, dass sich die Zeiten und die Wahrnehmung der Menschen von Staat und Gesellschaft, von Recht und Gerechtigkeit verändern. Das trifft auch, aber nicht nur für Bereiche zu, von denen auf Herrenchiemsee oder im Parlamentarischen Rat niemand etwas wissen konnte - Datenschutz und Auslandseinsätze der Bundeswehr, gleichgeschlechtliche Ehen oder eine europäische Gemeinschaftswährung.

Das Grundgesetz ist in Würde 70 Jahre alt geworden. Es legte die Grundlage der Bundesrepublik und wurde zu ihrem Gerüst. Wenn alles gut geht, wird dies noch sehr lange so bleiben.

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