Tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht immer wieder erstaunlich konkrete Folgerungen aus Artikel 1 gezogen. Er verbietet Abhörwanzen im Schlafzimmer - der "unantastbare Kernbereich privater Lebensgestaltung" sei von der Menschenwürde geschützt, schrieb das Gericht 2004 im Urteil zum Lauschangriff. Auch im Gefängnis ist sie zu achten: Zwei Häftlinge in eine Zelle von acht Quadratmetern ohne abgetrennte Toilette zu sperren, ist nicht menschenwürdig, hat Karlsruhe mehrmals entschieden.
Und schließlich das menschenwürdige Existenzminimum: Es sichert jedem Hilfsbedürftigen die materiellen Voraussetzungen, "die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesell-schaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind". So entschieden in Karlsruhe die Verfassungshüter am 9. Februar 2010; die Hartz-IV-Sätze mussten neu berechnet werden. Menschenwürde lässt sich also in Quadratmetern messen. Oder in Euro umrechnen.
Man merkt schon: Sie kommt häufig dann ins Spiel, wenn die Freiräume ganz eng zu werden drohen. Wenn also der hehre Satz, mit dem das Bundesverfassungsgericht das Prinzip Menschenwürde einmal erläuterte, plötzlich wie ein leeres Versprechen klingt: "Dem liegt die Vorstellung vom Menschen als geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten."
Geistig-sittliches Wesen? Freie Entfaltung? Wer hinter Gefängnismauern lebt oder kein Geld zum Leben hat, für den ist nicht mehr viel übrig vom würdigen Leben. Aber genau in dieser Situation schlägt die Stunde der Menschenwürde. Sie verspricht kein sorgloses Leben, keinen unbeschränkten Raum zur Selbstverwirklichung, keinen Komplettschutz vor staatlicher Belästigung. Nein, sie verspricht nur, dass vom Menschsein auch dann noch etwas bleiben muss, wenn die Freiheit auf die Größe einer Nussschale geschrumpft ist.
Ja zu lebenslang, aber mit einer Chance auf Freiheit
Oder wenn das Leben fast verwirkt ist: 2006 untersagte Karlsruhe den Abschuss entführter Passagiermaschinen, selbst wenn damit eine größere Zahl von Menschen gerettet werden könnte. Dies missachte die Betroffenen als Subjekte der Würde: "Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und gleichzeitig entrechtlicht." Der Mensch, heißt das, darf nicht zu einer Ziffer in der Saldierung der Toten werden. 200 getötet, 20 000 gerettet.
Manchmal bedeutet Menschenwürde nicht mehr als - Hoffnung. Der Satz mit dem geistig-sittlichen Wesen stammt aus der Lebenslang-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1977, auch dies ein Fall vom äußeren Rand der Gesellschaft. Damals hat das Gericht gesagt: Ja, auch lebenslange Haft ist mit der Menschenwürde vereinbar, obwohl kaum jemand 15, 20 Jahre Haft ohne Schäden an Leib und Seele überstehen kann. Das Gericht setzte jedoch hinter das "Ja" ein großes "Aber": Menschenwürdig sei der Strafvollzug nur dann, wenn dem Häftling zumindest die Chance verbleibe, "je wieder der Freiheit teilhaftig zu werden". Auch dies ist ein Satz, der konkrete Konsequenzen hat - Therapieangebote, Resozialisierungsbemühungen und vielleicht doch eine vorzeitige Entlassung. Menschenwürde wäre dann auch in Jahren messbar.
Niemals darf dem Menschen der Rückweg zu einem Menschsein verbaut werden, das den Namen verdient - zum Dasein als selbstbestimmtes Wesen in Freiheit. Das gilt auch und gerade dort, wo dieser "soziale Wert- und Achtungsanspruch", von dem das Gericht gern spricht, zur ganz kleinen Münze geworden ist. "Die grundlegenden Voraussetzungen individueller und sozialer Existenz des Menschen müssen erhalten bleiben", schrieb das Gericht.
2004 folgte dann das Sequel der Lebenslang-Entscheidung, es ging um die Sicherungsverwahrung gefährlicher Straftäter. Auch hier gab das Gericht grünes Licht: "Es ist der staatlichen Gemeinschaft nicht verwehrt, sich gegen gefährliche Straftäter durch Freiheitsentzug zu sichern." Auch hier forderte es eine "reelle Chance" auf Wiedergewinnung der Freiheit. Aber weil es um die Schlimmsten der Schlimmen ging - in diesem Fall um einen kaum zu kontrollierenden Gewalttäter - erinnerte das Gericht daran, dass Menschenwürde kein Verfallsdatum und keine Verwirkung kennt. "Selbst durch unwürdiges Verhalten geht sie nicht verloren. Sie kann keinem Menschen genommen werden."
In jene Zeit fällt der Prozess gegen einen Frankfurter Polizeivizepräsidenten, der dem Kindesentführer Magnus Gäfgen Folter angedroht hatte - in der trügerischen Hoffnung, ihn zum Reden zu bringen und den entführten Jungen dadurch retten zu können. Der Fall löste eine beklemmende Diskussion aus. Folter, dieses absolute Tabu für jeden Staat, der sich zur Menschenwürde bekennt - sie schien für Teile der Gesellschaft plötzlich wieder in die Nähe des Denkbaren zu geraten. Am Ende hielt das Tabu zwar. Aber den Satz, sie gehe selbst durch unwürdiges Verhalten nicht verloren, hätten damals gewiss nicht mehr alle unterschrieben.
Es könnte sein, dass dieser Gedanke noch mal wichtig wird, denn die Zeichen stehen auf Ausgrenzung. Das gilt für Sexualverbrecher, zumal, wenn es um Kinder geht, das gilt auch für islamistische "Gefährder". Die Bereitschaft sinkt, ihnen wenigstens das Minimalprogramm des Rechtsstaats zuzugestehen. Das bayerische Polizeigesetz droht mit notfalls unbegrenzter Präventivhaft - damit sie den Terrorakt gar nicht erst begehen können, den man ihnen zutraut. Was sagt das Verfassungsgericht dazu? Niemand darf "zum bloßen Objekt der Verbrechensbekämpfung" gemacht werden.
Und noch eine Gruppe könnte Schutz unter dem Dach der Menschenwürde suchen. Eine Gruppe übrigens, die sich in keiner Weise unwürdig verhalten hat. Seit einigen Jahren mehren sich die Versuche, Flüchtlinge loszuwerden oder gar nicht erst ins Land zu lassen - möglichst schon an den europäischen Außengrenzen. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht im Asylurteil von 1996 dazu die ernüchternde Feststellung getroffen, das Grundrecht auf Asyl gehöre nicht zur "Ewigkeitsgarantie" der Menschenwürde und könnte daher per Verfassungsänderung sogar abgeschafft werden. Aber ganz so einfach liegen die Dinge wohl nicht. Das Gericht selbst hatte sieben Jahre zuvor formuliert, "allgemein" liege dem Asylgrundrecht durchaus der Gedanke der Menschenwürde zugrunde. Und im Parlamentarischen Rat stand den Autoren des Grundgesetzes die Erfahrung von Flüchtlingen noch sehr drastisch vor Augen, die einst von Land zu Land geirrt waren, nur um aufs Neue an der Grenze abgewiesen zu werden.
Ihnen erschien es deshalb zu riskant, der Grenzpolizei die Zurückweisung zu überlassen - ohne ordentliche Prüfung eines Asylanspruchs. Aus Sicht des Rechtswissenschaftlers Mathias Hong, der eine Habilitationsschrift über Menschenwürde verfasst hat, spricht viel dafür, dass auch das Flüchtlingsrecht einen Kern hat, der von der Menschenwürde geschützt ist. Einen Kern, zu dem das Verbot des "Refoulement" gehört, also der schlichten Zurückweisung an der Grenze ohne Prüfung.
Weil ansonsten die Gefahr besteht, dass die Flüchtlinge durchgereicht werden, bis ins menschenrechtliche Niemandsland. "Dann beginnt das Spiel: Man schickt den Mann zurück oder man schickt ihn an die andere Grenze, und von dort geht es wieder weiter", warnte seinerzeit der SPD-Politiker Carlo Schmid. Hermann von Mangoldt (CDU) pflichtete ihm bei: "Wir haben unsere Erfahrungen aus dem Krieg."