Süddeutsche Zeitung

Dem Geheimnis auf der Spur:Der Ziegenmann

In den Fünfzigerjahren tauchte in den USA angeblich ein grausames Mischwesen aus Ziege und Mensch auf, das Jagd auf Teenager machte.

Von Florian Welle

Jahrzehntelang rumpelte der rauschebärtige Ches McCartney in einem alten Wagen durch die Vereinigten Staaten. Gezogen wurde sein klappriges Gefährt von mehreren Ziegen, im Internet gibt es davon wunderbar pittoreske Fotos. Nach eigenen Angaben soll er seit den Dreißigerjahren mehr als 100 000 Meilen zurückgelegt haben. Sein großes Vorbild war Daniel Defoes Held Robinson Crusoe, und wie dieser trug er mit Vorliebe Kleidung aus Ziegenmaterial. McCartney starb 1998 mit weit über neunzig Jahren. Sein genaues Alter ist umstritten.

Wenn in Amerika vom Ziegenmann die Rede ist, ist jedoch nicht in erster Linie Ches McCartney gemeint. Und schon gar nicht jener Wildtierfan, der sich vor zehn Jahren in den Bergen Utahs ein ziegenähnliches Kostüm samt falschen Hörnern überstreifte und sich auf allen vieren unter eine Herde wilder Ziegen mischte. Er riskierte dabei sein Leben. Sogar der New Zealand Herald titelte damals: "Fears for goat-Man in Utah wild herd".

Wer heute den Ziegenmann erwähnt, hat meistens ganz anderes im Sinn. Nämlich jenes nahezu zwei Meter große, furchteinflößende Mischwesen, halb Mensch, halb Ziege, das nicht nur den US-Bundesstaat Maryland, aber den vor allem, in Angst versetzte. Die Kreatur mit ihren langen Krallen soll Teenager erschreckt, Reifen durch die Luft geschleudert und Hunden die Köpfe abgebissen haben. Zwar hatte sie dort schon viele Jahre niemand mehr zu Gesicht bekommen, aber als 2016 in Malaysia eine Ziege mit angeblich menschenähnlichen Gesichtszügen zur Welt kam, schwappte die Nachricht auch an die amerikanische Ostküste und befeuerte den Goatman-Mythos erneut.

Auf einer Lichtung lauerte das Ungeheuer drei Pärchen auf

Dessen Ursprünge liegen im Dunkeln. In einem englischsprachigen Zeitungsartikel von 2007 ist zu lesen, dass der Ziegenmann in Marylands Prince George's County erstmals im Jahr 1957 gesichtet und als "seltsames Tier" oder "Gorilla" bezeichnet wurde. Ende der Sechzigerjahre soll dann das mal als schuppig, mal als haarig beschriebene Ungetüm im texanischen Tarrant County sein Unwesen getrieben haben. Am 9. Juli 1969 lauerte es auf einer abgelegenen Lichtung drei Pärchen auf, die gerade noch flüchten konnten. Einzige Spur des vermeintlichen Angriffs: ein 18 Zoll langer, tiefer Schnitt an der Karosserie eines Autos.

Nur einen Tag später kam es zu weiteren Attacken. Dann wurde es jahrzehntelang verdächtig ruhig um das Ungetüm, zu dessen hervorstechenden Merkmalen auch sein markerschütterndes Blöken gehören sollte. Laut den Dallas Morning News von 2014 tauchte es in Texas erst wieder 1999 auf. Dabei beruft sich das Blatt auf Craig Woolheater. Der Blogger für Kryptozoologie wird mit dem selbstbewussten Statement zitiert: "Ich persönlich denke, dass es sich um eine unentdeckte, nicht katalogisierte Primatenart handelt, die auf zwei Beinen läuft."

Dass es in Texas so lange ruhig gewesen ist, könnte daran gelegen haben, dass Goatman zwischenzeitlich wieder nach Maryland zurückgekehrt war. Dort erlebte er in den Siebzigern seine große Zeit. Im Jahr 1971 berichteten Zeitungsartikel erstmals über mysteriöse Geschehnisse wie den grausamen Fund eines Hundes mit abgetrenntem Kopf und machten dafür das ziegenähnliche Wesen verantwortlich. Freude an dieser Sensation hatten vor allem die örtlichen High-School-Kids, die fortan die Geschichte von Jahrgang zu Jahrgang weitertrugen. Regelmäßige Monsterjagd in den umliegenden Wäldern inklusive. Während die einen bis heute an den Ziegenmann glauben, ist er für andere schlicht eine gut gestrickte Legende, lokale Folklore eben.

Ist der Ziegenmann ein noch unbekanntes Tier wie der sagenumwobene Bigfoot?

Zu Letzteren gehören naturgemäß all jene, die sich wissenschaftlich mit Volksmythen beschäftigen wie Barry Pearson. Der Ethnologe von der Universität Maryland bringt die Mär vom Goatman mit der boomenden Autokultur der Sechziger- und Siebzigerjahre in Verbindung. Sie verschaffte den Jugendlichen neue Freiheiten: Sie konnten durch die Gegend fahren, das Autokino besuchen, auf abgelegenen Lichtungen knutschen. Damit waren sie für den Goatman gefundene Opfer. Pearson verweist aber auch auf antike Mythen, die in die Geschichte hineinspielen, etwa die Sage von Pan. Der gehörnte Hirtengott mit dem Unterleib eines Ziegenbocks und dem Oberkörper eines Mannes war schließlich ein ziemlich zwielichtiger Zeitgenosse. Liebestoll, wie er war, machte er Jagd auf Nymphen. Und Gegner versetzte er mit seinem Schrei in panische Furcht.

Nicht zufällig verknüpfte ihn das christliche Mittelalter deshalb mit der Figur des Teufels. Damals war es eine beliebte Foltermethode, Beschuldigten Salz auf die Fußsohlen zu streuen und von einer Ziege mit ihrer rauen Zunge ablecken zu lassen. Schaut man sich heute Darstellungen des Goatman im Netz an, so erinnern diese zudem an Baphomet. Also an jenes Symbol, das in den Ketzerprozessen gegen die Templer eine große Rolle gespielt hatte und im 19. Jahrhundert durch den Okkultisten Éliphas Lévi seine stilprägende Gestalt als Dämon mit Ziegenkopf erhielt.

Alle, die Goatman für real halten, führen freilich ganz andere Gründe für seine Existenz an. Wahlweise ist er für sie ein Ziegenzüchter, der über dem Umstand verrückt wurde, dass Teenager seine Tiere töteten, ein alter Einsiedler, der in enger Verbindung mit der Natur lebte, oder ein noch unbekanntes Tier wie der sagenumwobene Bigfoot. Die beliebteste Theorie handelt allerdings von einem verrückten Wissenschaftler am Beltsville Research Agricultural Center, dessen Experimente mit Ziegen auf fatale Weise missglückten. So oder so lebt der Goatman zumindest in den Erzählungen der Menschen weiter - und mittlerweile auch als beliebte Figur in Horrorfilmen.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5629673
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/fabr
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.