Gewaltfreie Erziehung:Astrid Lindgrens große Provokation

Astrid Lindgrens 'Michel aus Lönneberga' wird 50

Astrid Lindgren 1972 in ihrer Stockholmer Wohnung mit den beiden Hauptdarstellern der "Michel aus Lönneberga"-Verfilmungen.

(Foto: picture alliance / dpa)

Vor 40 Jahren hielt die schwedische Schriftstellerin ihre Rede gegen das Schlagen von Kindern. Was damals als Affront galt, ist heute selbstverständlich. Oder doch nicht?

Gastbeitrag von Christian Pfeiffer

Niemals Gewalt! So lautete die zentrale Botschaft der Rede, die Astrid Lindgren an diesem Montag vor 40 Jahren in der Frankfurter Paulskirche hielt. Ihr war gerade der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen worden. Doch wenige Tage vorher stand die Veranstaltung noch auf der Kippe: Die für die Preisverleihung zuständige Stiftung hatte Astrid Lindgren gebeten, auf ihre Rede zu verzichten. Ihr Inhalt sei zu provokativ. Sie sollte sich die Laudatio anhören, die ihr als Trägerin des Friedenspreises gehalten wurde, und dann von der Bühne gehen. Astrid Lindgren reagierte prompt: Entweder sie dürfe die Rede halten, oder sie komme nicht. Dem Veranstalter drohte eine öffentliche Blamage. Im letzten Moment lenkte er ein. Warum aber wollte man den Auftritt der Autorin verhindern?

Astrid Lindgren sprach über den Frieden und stellte zunächst eine schlichte Frage: "Könnten wir es nicht lernen, auf Gewalt zu verzichten?" Ihre Antwort fiel klar aus: "Ich glaube, wir müssen von Grund auf beginnen. Bei den Kindern." Und dann folgten zwei Kernsätze: "In keinem neugeborenen Kind schlummert ein Samen, aus dem zwangsläufig Gutes oder Böses sprießt. Ob ein Kind zu einem warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Menschen mit Sinn für das Gemeinwohl heranwächst oder aber zu einem gefühlskalten, destruktiven, egoistischen Menschen, das entscheiden die, denen das Kind in dieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sie ihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun." Gestützt auf diese Ausgangsthese entwickelte Lindgren ihre radikale Forderung: Auf das Schlagen von Kindern sollten wir komplett verzichten.

Lindgrens Rede fand bald weltweit Verbreitung

Das war die eigentliche Provokation. Der Stiftungsrat spürte wohl, was Kriminologen später durch repräsentative Befragungen der Bevölkerung nachweisen konnten. Bis zu Astrid Lindgrens Rede hatte sich in der Kindererziehung seit der Nazizeit wenig verändert. In den 1970er-Jahren wurden immer noch 70 bis 75 Prozent der Kinder von ihren Eltern geschlagen und jedes fünfte dabei regelrecht verprügelt. Nur ein knappes Drittel der Befragten erlebte damals von Seiten der Eltern viel Zuwendung und Liebe in Form von häufigem Schmusen, Loben und Trösten.

Beeindruckende Reden wie die von Astrid Lindgren berühren zwar sehr, aber meist geraten sie dann doch in Vergessenheit. Nach Lindgrens Ansprache war das anders. Vielleicht, weil ihre Botschaft bereits in Form von Büchern wie "Pippi Langstrumpf" oder "Madita" bei den Menschen zu Hause eingezogen war. Ihre Rede fand bald weltweit Verbreitung und wurde in ihrem Heimatland Schweden Ausgangspunkt einer großartigen Initiative. Astrid Lindgren verbündete sich mit Wissenschaftlern, Journalisten, Vereinen und engagierten Politikern. Gemeinsam erreichten sie ihr großes Ziel: 1979 wurde in Schweden als erstem Land der Welt per Gesetz jegliches Schlagen von Kindern verboten. Bald darauf folgten die anderen nordischen Länder. Und auch Wissenschaftler in Deutschland waren beeindruckt.

Die Zahl der gewaltfrei Erzogenen ist massiv gestiegen

Wir luden schwedische Kollegen zu Vorträgen ein. Wir entwickelten Forschungsideen und führten erste empirische Untersuchungen durch. Und bald konnten wir klare Befunde dazu vorlegen, welch destruktive Auswirkungen das Schlagen von Kindern hat und welch positive Folgen aus konstanter elterlicher Zuwendung erwachsen. Die Zeit war reif, sich am schwedischen Vorbild zu orientieren. Zwölf Jahre nach der großen Rede von Astrid Lindgren gab eine von der Bundesregierung eingesetzte, 50-köpfige Gewaltkommission eine klare Empfehlung: Schafft das elterliche Züchtigungsrecht ab. Zehn Jahre später wurde dieses Ziel Anfang 2000 endlich erreicht.

Christian Pfeiffer

Christian Pfeiffer, 74, ist Kriminologe und leitete von 1985 bis 2015 das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen.

(Foto: oh)

Doch was ist daraus entstanden? 2014 zeigten unsere Forschungsdaten aus wiederholt durchgeführten Repräsentativbefragungen von Menschen ab 16 Jahren einen klaren Befund. Die elterliche Erziehungskultur hat sich seit den 1970er-Jahren stark gewandelt. Mehr Liebe, weniger Hiebe, lautet seitdem die Devise. Die Quote derjenigen, die viel elterliche Liebe erfahren haben, hat sich mit nun 62 Prozent fast verdoppelt. Auf der anderen Seite ist das massive Prügeln um drei Viertel gesunken, während der Anteil der völlig gewaltfrei Erzogenen auf mehr als die Hälfte angestiegen ist.

Wer geschlagen wird, wird öfter selbst gewalttätig

Und wenn wir ergänzend die Daten aktueller Befragungen von 14- bis 16-jährigen Schülern aus Niedersachsen heranziehen, fallen die Befunde noch positiver aus. Dieses auf Jugendliche konzentrierte Projekt ermöglicht differenzierte Analysen der Auswirkungen des Wandels in der Erziehungskultur. Besonders klare Befunde ergaben sich aus der Gegenüberstellung zweier Extreme: der völlig gewaltfrei und sehr liebevoll Erzogenen mit jenen, die schwere elterliche Gewalt gekoppelt mit wenig Zuwendung erfahren haben.

Da zeigt sich: Die in der Kindheit viel Geschlagenen sind nach eigenen Angaben im Vergleich zu den viel Geliebten im vergangenen Jahr 4,5-mal so häufig selbst gewalttätig geworden. Sie haben außerdem 6,5-mal so oft ernsthaft über Suizid nachgedacht. Im Gegensatz dazu berichtete die erste, gewaltfrei erzogene Gruppe sechsmal häufiger von einer sehr hohen Lebenszufriedenheit.

Angesichts solcher Befunde überrascht es nicht, dass die Gewaltkriminalität seit 2007 am stärksten bei jenen abgenommen hat, die am meisten von dem dargestellten Wandel in der Erziehungskultur profitieren konnten - bei Kindern und Jugendlichen. Pro 100 000 dieser Altersgruppe hat die Zahl der wegen Gewalttaten polizeilich registrierten Tatverdächtigen um gut 40 Prozent abgenommen. Ähnliche Trends zeigen sich beim Rückgang des Suizids oder des Alkoholkonsums.

Diktaturen freuen sich über Eltern, die ihre Kinder schlagen

Astrid Lindgrens Thesen werden somit durch empirische Befunde eindrucksvoll bestätigt: Eine gewaltfreie und liebevolle Erziehung fördert den aufrechten Gang und die Empathie. Sie vermittelt zudem positive Erfahrungen der Selbstwirksamkeit und schützt vor der Flucht in Suizid oder Drogen.

Hinzu kommt noch eine weitere Dimension, eine politische: Diktaturen freuen sich über Eltern, die ihre Kinder schlagen. Sie brauchen Untertanen, die früh gelernt haben, harte Strafen zu fürchten und nach oben zu buckeln. Demokratien hingegen leben vom Freiheitswunsch der Menschen, von ihrer sozialen Kreativität und von ihrer Bereitschaft, sich für das Gemeinwohl zu engagieren. Deswegen macht eine Nachricht Mut: Nepal war kürzlich der 54. Staat, der die Botschaft Astrid Lindgrens umgesetzt und jegliches Schlagen von Kindern verboten hat. Wann folgen endlich England, Frankreich oder die USA?

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