Süddeutsche Zeitung

Gesetzesänderung zu totgeborenen Babys:Aus Sternenkindern werden Menschen

Bislang hing bei totgeborenen oder kurz nach der Geburt verstorbenen Kindern alles vom Gewicht ab: Nur wer mindestens 500 Gramm wog, galt als Mensch. Von jetzt an ist das anders - dank Barbara und Mario Martin, die nicht einsehen wollten, warum nur eines ihrer drei toten Kinder offiziell einen Namen tragen durfte.

Von Felicitas Kock

Ab wann gilt ein totgeborenes oder kurz nach der Geburt verstorbenes Kind als Mensch? Eine Frage, die das Gesetz bislang eindeutig geregelt hat: Wer mindestens 500 Gramm wiegt, ist ein Mensch. Wer 499 Gramm oder weniger wiegt, nicht. Eine einfache Antwort. Zu einfach für die heikle Frage nach dem Sein und Nichtsein?

Ja, sagen Barbara und Mario Martin, nachdem ihr drittes Kind kurz nach der viel zu frühen Geburt stirbt - und machen sich an die Arbeit. Sie berichten im Internet über ihre Erfahrungen und bekommen viele Reaktionen betroffener Eltern. Sie sammeln 40.000 Unterschriften, reichen eine Petition beim Bundestag ein, sprechen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und Familienministerin Kristina Schröder. An diesem Mittwoch haben sie eine großen Erfolg errungen. Die von ihnen angestrebte Gesetzesänderung im Personenstandsrecht ist in Kraft getreten.

Sie erlaubt, dass auch Totgeborene beim Standesamt als Mensch erfasst werden können, egal wie klein oder leicht sie sind. Dass sie, sofern die Eltern das wollen, offiziell einen Vornamen tragen dürfen, der gemeinsam mit Familienname, Geschlecht, Geburtstag und Geburtsort in eine Urkunde eingetragen wird. Kurz: Dass die Existenz der sogenannten Sternenkinder bestätigt wird.

Unsicherheit in den Kliniken

Sternenkinder, das ist die schöne Bezeichnung für die etwa 1500 Babys jährlich, die es nicht bis zur entscheidenden 500-Gramm-Marke geschafft haben. In manchen Kliniken werde dagegen von "missglückten Schwangerschaften", "Leibesfrüchten" und "organischem Abfall" gesprochen, heißt es auf der Internetseite des Vereins frauenworte e.V. Die Unsicherheit bei der Begrifflichkeit spiegle die Unsicherheit im Umgang wider: Ist das nun ein Mensch oder ein Nichts?

"Viele Kliniken gehen ganz falsch mit dem Thema um", sagt Barbara Martin im Gespräch mit Süddeutsche.de. Als sie im Jahr 2007 nach Komplikationen in der Schwangerschaft einen Sohn zur Welt bringt, der weniger als ein Pfund wiegt - viel zu wenig, um zu überleben -, sei das für sie der bis dahin schlimmste Moment ihres Lebens gewesen. "Und dann kommt ein Arzt und sagt dir, dass dein Kind kein Mensch ist."

"Vollkommen egal, wie weit oder schwer es war"

Durch das neue Gesetz herrscht Sicherheit: Barbara Martins Sohn war ein Mensch - genau wie alle anderen Sternenkinder ab jetzt als Menschen gelten können. Die 37-Jährige hat die Differenzierung nach ein paar Gramm mehr oder weniger ohnehin nie verstanden. Im Jahr 2008 war sie wieder schwanger - diesmal mit Zwillingen. Der Junge kam tot zur Welt, mit weniger als 300 Gramm Körpergewicht. Das Mädchen lebte noch einen Monat weiter, starb erst kurz nach der Geburt - und hatte es auf mehr als ein Pfund geschafft. "Das Gefühl war absolut das gleiche", beschreibt Martin. "Es ist doch vollkommen egal, wie weit oder schwer es war. Ich habe die Kinder in mir getragen, habe die Schwangerschaft durchgemacht, habe mich als Mutter gefühlt."

Die Eintragung beim Standesamt und die damit einhergehende Anerkennung als Mensch, schließt noch einen weiteren wichtigen Aspekt mit ein: Das tote Kind erhält einen Anspruch auf eine Bestattung. Zwar erlaubten auch bislang viele Bundesländer, Sternenkinder zu bestatten. Doch mussten die Eltern dafür einen nicht unerheblichen bürokratischen Aufwand betreiben - in einer Zeit, in der sie dazu kaum in der Lage waren.

Vielen Eltern bleibt nach der Geburt nur wenig Zeit mit ihren Sternenkindern. Viele denken in ihrem Schock und ihrer Trauer nicht darüber nach, dass sie sie eigentlich bestatten könnten, wenn die Klinik sie ihnen wegnimmt, um sie zu "entsorgen", wie es oft heißt.

"Für uns war es extrem wichtig, unsere Kinder bestatten zu können", sagt Barbara Martin. Eltern von Sternenkindern bräuchten einen Ort, um zu trauern. Vielleicht auch einen Grabstein mit Namen und Geburtsdatum. "Es ist einfach ein wichtiger Schritt - auch um langsam loszulassen und zu akzeptieren, was passiert ist."

Dass sie nicht loslassen könnten, wurde den Martins in der Vergangenheit immer wieder vorgeworfen. Einige Leute würden einfach nicht verstehen, warum man sich nicht damit abfinde, dass ein Kind unter 500 Gramm nun einmal kein Mensch sei. Warum man die Sache nicht auf sich beruhen lassen könne. Doch komme dieser Einwand meist von Menschen, die sich noch nicht eingehend mit dem Thema beschäftigt hätten. "Von Sterneneltern habe ich das noch nie gehört", sagt Martin.

Gemeinsam mit ihrem Mann Mario gibt sie vielen dieser Sterneneltern Rat. Drei bis vier Stunden pro Tag beschäftigen sich die gelernten Friseure mit dem Thema - und beantworten Fragen von Betroffenen. Wie mit der Trauer umgehen? Wie dem Partner oder der Partnerin beistehen, die aus dem Loch, das nach der Totgeburt entstanden ist, nicht mehr herauskommt? Wo gibt es Hilfe? "Die meisten wollen einfach mit jemandem reden, der sie versteht und ihnen zuhört", sind sich die Martins einig. In ihrem Einsatz für die Gesetzesänderung seien sie von sehr vielen Menschen unterstützt worden, sie hätten viel Kraft daraus geschöpft.

Jetzt wollen sie so schnell wie möglich ihre Kinder beim Standesamt eintragen lassen - eine Maßnahme, die auch rückwirkend möglich ist. Eigentlich wollten sie das gleich heute, am Tag der Gesetzesänderung erledigen. "Leider waren die Standesbeamten etwas zu langsam", sagt Barbara Martin, "aber wir stehen in den Startlöchern".

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