Gesellschaftsdroge Alkohol:Guter Rausch, böser Rausch

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Ein Prosit der Gemütlichkeit: Trinken ist okay. Kiffen? - geht gar nicht! (Foto: Matthias Schrader/AP Photo)

Die Geschichte des Rausches ist ein einziges Missverständnis. Während der Staat beim Kiffen null Toleranz kennt, dürfen wir uns bis zur Besinnungslosigkeit betrinken. Warum eigentlich?

Von Violetta Simon

"Alle elf Minuten verliebt sich ein Single" - der Satz, mit dem eine Partnervermittlung derzeit wirbt, klingt beeindruckend. Doch wie klingt das: Wie aus einer Studie der WHO hervorgeht, stirbt alle zehn Sekunden weltweit ein Mensch durch Alkohol.

Dabei handelt es sich laut Betäubungsmittelgesetz noch nicht einmal um eine Droge. Sondern um ein soziales Schmiermittel, das locker und lustig machen soll. In Anbetracht der alkoholbedingten Verkehrstoten, verprügelten Kinder und Frauen sowie Suizide von Jugendlichen kann einem da allerdings das Lachen im Hals stecken bleiben. Kein Zweifel: Die Geschichte des Rausches ist ein einziges Missverständnis.

Die Bilanz vom diesjährigen Münchner Oktoberfest, das die grüne Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth als "die größte offene Drogenszene der Welt" bezeichnet, spricht für sich: 600 Alkoholvergiftungen in zwei Wochen, 16 der Patienten waren Kinder unter 16 - ein Prosit der Gemütlichkeit! Der Artikel aus dem Jahr 1997, in dem die taz von einer "Massenintoxikation" schreibt, klingt nach böser Satire, ist aber bittere Realität. Das kollektive Besäufnis unter dem Deckmantel der Brauchtumspflege ist der beste Beweis, dass Alkoholmissbrauch kein Problem einiger Randgruppen ist - Alkohol ist die Gesellschaftsdroge schlechthin, ein vertrauter Stoff, der uns seit Generationen begleitet.

Nicht erst beim trotzig gebrüllten "O'zapft is!" wird auch der unverbesserlichste Abstinenzler erkennen, wo oben ist - immer da, wo im Namen der Tradition gebechert wird. Und so ist es auch nicht ein Brauereibesitzer, der das erste Wiesn-Fass anzapft, sondern der Münchner Oberbürgermeister. Den ersten Schluck jedoch nimmt - höchst publikumswirksam - der Ministerpräsident persönlich, bevor es die lechzende Masse ihm nachmacht und das schäumende Bier in sich hineinströmen lässt.

Die Bundesregierung findet offenbar nichts dabei. Marlene Mortler äußerte sich jedenfalls nicht dazu. Bevor sie Drogenbeauftragte wurde, hatte die CSU-Politikerin 2014 von der Klausurtagung der CSU eine Schnapsflasche auf Twitter gepostet - vermutlich, weil ihr der Name "Kreuther Geist" so gefiel. Den Job hat sie trotzdem bekommen.

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Während sie bei Drogen eine Null-Toleranz-Politik praktiziert, appelliert Mortler in Sachen Alkohol lieber an die Vernunft der Verbraucher: "Ich versuche dem Publikum zu vermitteln, dass Wasser und alkoholfreies Bier auch wunderbar schmecken können", sagte sie dem Debatten-Magazin The European. Und so bleibt es lediglich bei der Empfehlung für ein bundesweites nächtliches Alkohol-Verkaufsverbot, wie es in Baden-Württemberg seit 2010 gilt. Mehr Handhabe hat die Bundesdrogenbeauftragte nicht: Den Verkauf von Alkohol regelt jedes Land individuell.

Gerade in Bayern wird auf politisch motivierten Veranstaltungen wie dem Politiker-Derblecken und dem politischen Aschermittwoch bereitwillig der Gemütlichkeitsfaktor des Nationalgetränks genutzt. Die Protagonisten - allesamt Personen mit Vorbildfunktion - schwenken dabei ihren Maßkrug bierselig in Richtung Kamera.

Nur mal angenommen, der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer hielte bei seinem nächsten Plädoyer einen Joint in der Hand statt eines kühlen Bieres: Was dann? In dem Fall hat der Spaß natürlich umgehend ein Ende!

Warum ist Alkoholmissbrauch nicht verboten?

Warum eigentlich? Warum fällt Marihuana unter das Betäubungsmittelgesetz, Alkohol aber nicht? Warum ist der Erwerb von Marihuana strafbar, während man jederzeit und überall beliebig viel Schnaps kaufen kann? Warum darf man keinen Joint im Handschuhfach deponieren, sich jedoch mit 0,49 Promille im Blut unbehelligt ans Steuer setzen? Warum unterbindet der Staat es gesetzlich nicht, dass Menschen sich durch Komasaufen so lange zuschütten, bis sie bewusstlos zusammenbrechen und im Krankenhaus wiederhergestellt werden müssen? Warum gilt Trinken als Kulturgut und Zeichen von Gemütlichkeit, Kiffen jedoch als schmuddelig und kriminell?

Selbst Fachleute können darauf keine plausible Antwort geben: "In Deutschland haben wir ein Konsumverhalten, das völlig unvernünftig ist, das kann eine Gesellschaft sich nur leisten, wenn sie das Problem herunterspielt", sagt der Soziologe Raphael Gaßmann, Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen e.V. (DHS). Der Drogenexperte findet, die "kollektive Verharmlosung" in Bezug auf Alkohol stehe in krassem Gegensatz zu einer extremen Betonung der Risiken in Bezug auf Cannabis. "Als einzige von allen psychoaktiven Substanzen wird nur der Alkohol nicht geahndet", sagt Gaßmann. Und mehr noch: "Die deutsche Politik erlaubt, bewirbt und fördert ihn sogar. Alles andere ist und bleibt verboten - und zwar unabhängig von der tatsächlichen Wirkung."

Es ist offensichtlich so, dass der Staat in Bezug auf Alkohol seiner Fürsorgepflicht nicht nachkommt. Aber warum nicht? Wieso fühlen sich weder Politik noch das Gesundheitssystem dazu aufgerufen, das Problem in der Öffentlichkeit anzugehen?

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Klare Antworten gibt es kaum, Erklärungen jede Menge: Da wäre zum einen die Lobby einer umsatzstarken Alkoholindustrie, deren Macht locker mithalten kann mit den Auto-, Energie- und Pharmakonzernen. Dann sind da die vielen Arbeitsplätze, die durch Herstellung, Vertrieb, Gastronomie etc. gesichert werden. "Das Argument zählt ja immer", sagt Suchtexperte Gaßmann. "Was in dem Fall bedeutet: Wenn weniger getrunken wird, entfallen Stellen."

Schließlich die Verflechtung von Wirtschaft und Politik. "Wenn die Biersteuer erhöht werden sollte (eine Weinsteuer gibt es in Deutschland ohnehin nicht), würden Abgeordnete sämtlicher Parteien umgehend bundesweit von Lobbyvertretern aufgefordert werden, das zurückzunehmen", sagt DHS-Geschäftsführer Gaßmann. Mit anderen Worten: Beschneide man die Alkoholindustrie, verstöre man 95 Prozent der Wahlberechtigten. Das sei bei Cannabis anders.

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Die einzige klare Ansage in dieser Sache hat übrigens die Bundesdrogenbeauftragte abgegeben. Auf die Frage, warum Alkohol erlaubt und Cannabis verboten sei, antwortete Marlene Mortler der Youtube-Plattform Jung und Naiv: "Weil Cannabis eine illegale Droge ist. Punkt." Danke, Frau Mortler - wer das nicht versteht, ist wirklich selber schuld.

Etwas mehr Mühe gab sich die CSU-Politikerin bei dem Erklärungsversuch auf ihrer Webseite, wo sie klarstellt, warum eine Legalisierung von Cannabis für sie nicht in Frage kommt. "Eine Freigabe wäre ein falsches Signal, denn vor allem für junge Menschen bestehen erhebliche Gesundheitsrisiken durch Cannabiskonsum", heißt es dort.

Doch warum schützt die Bunderegierung junge Menschen dann nicht ebenso strikt vor den gesundheitlichen Risiken durch Alkohol? Warum schaut sie beim Jugendschutzgesetz weg, statt die Möglichkeit des Erwerbs, etwa durch autorisierte Shops, endlich ernsthaft einzuschränken. Cannabis wird ja auch nicht im Supermarkt, an Tankstellen oder am Kiosk über die Theke gereicht.

Volkssucht mit immensen Folgen

Dem jüngsten Bericht der WHO zufolge nimmt jeder Deutsche im Durchschnitt im Jahr zehn Liter reinen Alkohol zu sich. 3,3 Millionen Menschen sterben jährlich weltweit an den Folgen. Nach Angaben der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen bezahlen in Deutschland jedes Jahr 74 000 Bundesbürger ihren Alkoholmissbrauch oder den kombinierten Konsum von Alkohol und Tabak mit ihrem Leben. Schätzungsweise 1,3 Millionen Deutsche sind abhängig (Dunkelziffer unbekannt), 9,5 Millionen trinken regelmäßig zu viel. Die finanziellen Konsequenzen für das Gesundheitssystem sind immens: Etwa 26 Milliarden Euro müssen jährlich aufgewendet werden - und das, obwohl die Lebenserwartung von Alkoholikern etwa 15 Jahre unter dem Durchschnitt liegt.

Übrigens ist es medizinisch nicht möglich, sich zu Tode zu kiffen. Studien - wie zum Beispiel des New England Journal of Medicine - belegen, dass Cannabis süchtig machen kann, sich auf das Gedächtnis schlägt und auf Dauer die Lebenszufriedenheit mindert. Bis heute konnte jedoch kein kausaler Zusammenhang bei Cannabis als Todesursache nachgewiesen werden: Im Gegensatz zu Alkohol enthält Marihuana zwar einen psychoaktiven Stoff namens Tetrahydrocannabinol (THC), jedoch keine toxischen Substanzen.

Nur Pro-Alkohol-Parteien sind wählbar

"Natürlich brauchen wir eine Regelung, die Jugendliche vor Cannabis schützt", sagt Gaßmann. "Im Moment haben wir die Situation, dass diese unreguliert konsumieren." Darüber hinaus sei es jedoch an der Zeit, dem staatlich anerkannten Alkoholmissbrauch endlich den Hahn zuzudrehen, findet der DHS-Geschäftsführer.

Allerdings zweifelt der Suchtexperte an einer zeitnahen Umsetzung: "Würde die CDU morgen versuchen, den Alkoholkonsum durch Werbeverbote, Steuererhöhung und verschärften Jugendschutz zu begrenzen, wäre die Partei an der nächsten Regierung nicht mehr beteiligt."

Eine Kultur, die auf Widersprüchen beruht, lässt sich eben nicht ohne Weiteres verändern. Jedenfalls nicht mit Politik - und schon gar nicht durch Vernunft.

Die Sucht-Hotline der DHS ist unter der Nummer 01805-313031 zu erreichen.

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