Gesellschaft:Fast jeder Fünfte von Armut oder Ausgrenzung bedroht

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In der Kölner Innenstadt bittet eine alte Frau um Almosen: Über das Ausmaß der Altersarmut wird derzeit gestritten. Foto: Federico Gambarini (Foto: dpa)

Wiesbaden (dpa) - Trotz sprudelnder Steuereinnahmen und niedriger Arbeitslosenzahlen sind in Deutschland knapp 20 Prozent der Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das entspricht etwa 16 Millionen Menschen, wie das Statistische Bundesamt mitteilte.

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Wiesbaden (dpa) - Trotz sprudelnder Steuereinnahmen und niedriger Arbeitslosenzahlen sind in Deutschland knapp 20 Prozent der Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das entspricht etwa 16 Millionen Menschen, wie das Statistische Bundesamt mitteilte.

In allen Altersgruppen ist das Risiko für Frauen höher als für Männer, am größten ist die Kluft bei Menschen ab 65 Jahren.

Die Zahlen für das Jahr 2016 stammen aus der Erhebung "Leben in Europa (EU-SILC)". Exakt beträgt der Anteil 19,7 Prozent der Bevölkerung in Deutschland. Europaweit liegt der Schnitt bei 23,5 Prozent.

Eine Person gilt als von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, wenn mindestens eine der folgenden drei Lebenssituationen zutrifft: Ihr Einkommen liegt unter der Armutsgefährdungsgrenze, ihr Haushalt ist von erheblicher materieller Entbehrung betroffen oder sie lebt in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung.

Noch enger ist die Definition der Armutsgefährdung: Als armutsgefährdet gilt ein Mensch, wenn er über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt. 2016 lag dieser Schwellenwert für eine alleinlebende Person in Deutschland bei 1064 Euro, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2234 Euro im Monat. Der Erhebung zufolge fallen 16,5 Prozent der Bevölkerung in diese Gruppe, also jeder Sechste in Deutschland.

3,7 Prozent waren von erheblicher materieller Entbehrung betroffen. Das bedeutet, dass ihre Lebensbedingungen aufgrund fehlender finanzieller Mitteln eingeschränkt waren. Sie waren zum Beispiel nicht in der Lage, ihre Miete zu bezahlen, ihre Wohnungen angemessen zu heizen oder eine einwöchige Urlaubsreise zu finanzieren.

9,6 Prozent der Bevölkerung unter 60 Jahren lebten in einem Haushalt mit sehr niedriger Erwerbsbeteiligung. Das umfasst Haushalte, in denen die Erwerbsbeteiligung der erwerbsfähigen Haushaltsmitglieder insgesamt weniger als 20 Prozent beträgt.

Im EU-Durchschnitt waren 17,3 Prozent der Bevölkerung von Armut bedroht und 7,5 Prozent von erheblicher materieller Entbehrung betroffen. 10,4 Prozent lebten in einem Haushalt mit sehr niedriger Erwerbsbeteiligung.

Der Sozialverband VdK nahm die Politik in die Pflicht. "Armut ist ein drängendes Problem in Deutschland und ein unhaltbarer Zustand, den die neue Bundesregierung schnell angehen muss", mahnte VdK-Präsidentin Ulrike Mascher. Wenn trotz der guten wirtschaftlichen Konjunktur 16 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht seien, dürfe die Politik das Problem nicht länger kleinreden.

Linkspartei-Chefin Katja Kipping war den potenziellen Jamaika-Partnern vor, Kinder- und Altersarmut weiter zu ignorieren. Auch Erwerbslose, Beschäftigte mit Hungerlöhnen und Alleinerziehende hätten von einem Bündnis aus Union, FDP und Grünen nicht zu erwarten. "Auch auf einer tropischen Insel kann soziale Kälte herrschen", erklärte Kipping.

"Auch wenn diese relative Armutsgrenze im reichen Deutschland höher liegt als in Süd- oder Osteuropa, wissen wir aus vielen Untersuchungen, dass arme Menschen oft große Schwierigkeiten haben, am normalen gesellschaftlichen Leben teilzunehmen", erklärte Sozialexperte Eric Seils von der Hans-Böckler-Stiftung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).

Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft Köln sieht vor allem Langzeitarbeitslosigkeit als ein Problem. "Die Politik sollte verstärkt in eine intensivere Betreuung von Langzeitarbeitslosen sowie in zusätzliche Weiterbildungsmaßnahmen und befristete Lohnsubventionen investieren", hieß es in einer Mitteilung.

Der Bundesvorsitzende der Arbeiterwohlfahrt AWO, Wolfgang Stadler, forderte ein Ende von "Niedriglohnpolitik und einem Minijobsystem, das sich für immer mehr Menschen zur Armutsfalle entwickelt".

Der SoVD Sozialverband Deutschland verlangte mehr Investitionen für Chancengleichheit - etwa mit dem Ausbau von Kitas, Ganztagsschulen und dem Wohnungsbau. Nur so könne die Politik der rasanten Veränderung der Arbeitswelt begegnen, die sozialen Sprengstoff mit sich bringe, sagte SoVD-Präsident Adolf Bauer.

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