Geschlechtsidentität:Zwangsweise als Mädchen erzogen

Sandrao

Sandrao lebt inzwischen offen intersexuell.

(Foto: Privat)

Sandrao wurde ohne eindeutiges Geschlecht geboren - erfuhr davon aber erst mit 34 Jahren. Die Gesellschaft scheint noch immer nicht bereit zu sein für Menschen, die nicht in das Mann-Frau-Schema passen.

Von Hanna Sellheim

Sandrao Möhlheimer* förmlich anzusprechen, ist schwierig. Sandrao möchte nicht Herr Möhlheimer genannt werden. Auch nicht Frau Möhlheimer. Am liebsten würde Sandrao als Hermaphrodit Möhlheimer angesprochen, allerdings wissen die meisten Menschen nicht, was das bedeuten soll. Deshalb ist Sandrao einfach nur Sandrao, auch in dieser Geschichte. Obwohl es sprachlich einige Verrenkugen erfordert, verwenden wir keine Pronomen, weil Sandrao sich weder mit "er" noch mit "sie" richtig wohl fühlt. "Es" wäre eine Option, aber dann sagen die Leute: "Das geht nicht, du bist doch keine Sache", erzählt Sandrao.

Als Sandrao vor 37 Jahren in der damaligen DDR geboren wurde, war das Geschlecht nicht eindeutig feststellbar. Der Penis war sehr kurz und glich eher einer großen Klitoris. Heute weiß Sandrao, dass vermutlich zwei geschlechtsangleichende Operationen vorgenommen wurden. Bei der ersten OP im Alter von fünf Jahren wurden die Hoden entfernt, die im Inneren des Körpers lagen. Bei der zweiten OP ein Jahr später zerschnitten die Ärzte den Penis und versuchten, daraus eine Klitoris zu formen. Von da an wurde Sandrao als Sandra erzogen, musste Östrogene nehmen und sollte sich wie ein Mädchen benehmen.

"Die Operationen haben mir mein Leben versaut", sagt Sandrao. Den Eltern völlig zu verzeihen, ist bis heute nicht möglich. Doch sie hätten wohl keine Wahl gehabt. "Ärzte waren Götter in Weiß und es gab das Internet noch nicht, wo meine Eltern sich hätten informieren können".

Erst seit drei Jahren weiß Sandrao, was los ist. Nur durch einen Zufall kam alles ans Licht. Damals litt Sandrao am Burn-out-Syndrom und ging zu einer Psychotherapeutin. Sie vermutete, Sandrao könne intersexuell sein. Die Frauenärztin, die Sandrao anschließend besuchte, entdeckte die Narben im Intimbereich. Geahnt hat Sandrao aber schon früher, dass etwas anders war als bei anderen Kindern: "Ich dachte immer, ich bin ein Monster, weil ich so anders bin, weil ich kein Mädchen sein will." Von der Intersexualität zu erfahren, sei daher eine Befreiung gewesen. Sandrao trat dem Verein "Intersexuelle Menschen e.V." bei, fand andere, denen es ähnlich erging, hängte ein -o an den Vornamen und bekannte sich offen dazu, intersexuell zu sein.

Offizielle Statistiken, wie viele Kinder pro Jahr ohne eindeutiges Geschlecht geboren werden, gibt es nicht. US-Experten zufolge wird mindestens eines von 1000 Kindern intersexuell geboren, auf Deutschland bezogen schätzt man, dass zwischen 80 000 bis 120 000 intersexuelle Menschen hier leben. Doch die Dunkelziffer ist hoch: Häufig werden Kinder zwar intersexuell geboren, aber sofort operiert und von dann als eindeutig männlich oder weiblich eingeordnet. Intersexuelle prangern das an. Sie vertreten die Ansicht, kosmetische Genitaloperationen ohne Einwilligung der Betroffenen seien unmenschlich und hätten schwerwiegende psychische und körperliche Folgen.

"Betroffene leiden an problematischen Vernarbungen, Sensibilitätsstörungen und Gesundheitsrisiken durch die Ersatzhormone, die ihnen nach der Entfernung der Keimdrüsen verabreicht werden", sagt auch die Genderforscherin Ulrike Klöppel von der Berliner Humboldt-Universität. Eine große Belastung für operierte Intersexuelle sei außerdem die Tabuisierung des Themas in Gesellschaft und Familie.

Von Operationen wird inzwischen abgeraten - aber nur offiziell

In der Medizin gibt es seit einigen Jahren ein Umdenken. Zwar sprechen Fachleute noch immer von Störungen der sexuellen Entwicklung ("Disorders of Sexual Development" - DSD), während Betroffene lieber den Begriff Unterschiede ("Differences") verwenden. Doch seit die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin 2007 ihre Leitlinien überarbeitet hat, wird von vorschnellen Operationen und Hormonbehandlungen abgeraten. Anstatt intersexuelle Kinder noch vor dem zweiten Lebensjahr an die männliche oder weibliche Norm anzupassen, wie es früher üblich war, sollen die Eltern ausführlich beraten werden. Später, wenn sie alt genug sind, können die Kinder immer noch eine Geschlechtsangleichung vornehmen lassen.

Die Realität sieht trotzdem oft anders aus. Eine von Klöppel durchgeführte Studie hat ergeben, dass trotz der geänderten Leitlinien die Anzahl der Operationen an unter 10-Jährigen von 2005 bis 2014 nicht abgenommen hat. Um weiter geschlechtsangleichende Operationen vornehmen zu können, diagnostizierten Ärzte fälschlicherweise etwa Fehlbildungen an den Geschlechtsorganen statt uneindeutiger Geschlechtlichkeit.

"Ich bin nicht ohne Geschlecht, sondern habe mein ganz eigenes"

Olaf Hiort, Spezialist für Kinderheilkunde und Hormonstörungen an der Uniklinik Lübeck und Sprecher eines Netzwerks von Experten für Besonderheiten der Geschlechtsentwicklung, nennt Klöppels Studie methodisch angreifbar. Doch auch er beklagt, dass die geänderten Leitlinien zu wenigen Ärzten bekannt seien. Auch die darin geforderten Peer-Gespräche, in denen sich Eltern intersexueller Kinder austauschen könnten, fänden zu selten statt. "Ich kann mir durchaus vorstellen, dass immer noch Kinder ohne Beratung operiert werden", sagt Hiort. Rein kosmetische Operationen seien stets kritisch zu sehen, allerdings gebe es auch Fälle, in denen ein Eingriff medizinisch geboten sei, etwa wenn durch innenliegende Hoden ein erhöhtes Krebsrisiko vorliege.

Es existieren unterschiedliche Formen von Intersexualität. Am häufigsten ist die sogenannte komplette Androgen-Resistenz, bei der sich die inneren Geschlechtsorgane in eine männliche Richtung entwickeln, das äußere Erscheinungsbild aber weiblich bleibt. Kinder, die mit dem sogenannten Swyer Syndrom geboren werden, besitzen eine Vagina und einen Uterus, aber keine Eierstöcke. Außerdem verfügen sie über einen männlichen XY-Chromosomensatz.

Bei Sandrao liegt eine weitere Form vor. Weil der Körper eine zu geringe Menge des Enzyms 17-Beta-HSD produzierte, entwickelten sich die männlichen Geschlechtsteile nicht vollständig. Üblicherweise wachsen Menschen mit diesem Mangel zunächst als Mädchen auf. In der Pubertät kommt es dann zum Stimmbruch und die Klitoris wächst bis zur Größe eines Penis. Durch die Behandlung mit Östrogen und die Operationen wurde dies bei Sandrao jedoch verhindert. Die Genitalien sind heute fast vollständig vernarbt, die meisten Nerven wurden durchtrennt. "Ich habe nur noch einen stecknadelgroßen Punkt an meinem Geschlechtsteil, mit dem ich tatsächlich etwas fühlen kann", sagt Sandrao.

Obwohl jede Erregung große Schmerzen bereitet, hatte Sandrao als junger Mensch Sex mit Männern. Die Neigung zu Frauen war zwar immer stärker, doch Sex mit einer Frau war für Sandrao damals ein verbotener Gedanke. Es dauerte lange, bis Sandrao lernte, die eigenen sexuellen Begehren zu akzeptieren. "Inzwischen denke ich, mir wird das Geschlecht egal sein, wenn ich mal jemandem begegne, den ich mag."

Sandrao wird sich wohl nie eindeutig als Frau oder Mann identifizieren. Denn dafür wäre auch eine weitere OP nötig, doch Sandrao ist zu traumatisiert: "Ich will mich unter Narkose nie wieder Ärzten ausliefern." Sandrao fühlt sich wohl zwischen den Geschlechtern und hat bis jetzt fast nur gute Erfahrungen gemacht. Seitdem aus Sandra Sandrao wurde, stellen Menschen oft Fragen und wollen mehr über Zwischengeschlechtlichkeit erfahren.

Außerhalb von Mann und Frau

Sandrao freut es auch, dass sich Gender Gaps, Sternchen und andere sprachliche Mittel, die das Geschlecht offen lassen, immer mehr verbreiten. Nachdem 2013 das Personenstandgesetz überarbeitet wurde, konnte Sandrao auch den Geschlechtseintrag im Geburtenregister ändern lassen. Dort, wo bei anderen Menschen "männlich" oder "weiblich" steht, ist nun eine Lücke. Noch lieber würde Sandrao etwas anderes eintragen lassen: "Ich bin ja nicht ohne Geschlecht, ich habe halt nur mein ganz eigenes Geschlecht."

Für viele Intersexuelle ist es wichtig klarzustellen, dass sich ihre Identität außerhalb des binären Konzepts von Mann und Frau bewegt. Deshalb sind sie auch mit dem Begriff Intersexualität unzufrieden, weil Außenstehende diesen oft nicht klar von Transsexualität oder Homosexualität unterschieden können. Betroffene sprechen lieber von Intergeschlechtlichkeit oder Zwischengeschlechtlichkeit, weil das präziser umreißt, worum es geht.

Intersexuellenverbände fordern gesetzliche Änderungen

Eine zwischengeschlechtliche Person scheiterte im vergangenen Jahr vor dem Bundesgerichtshof, als sie sich ein anderes Geschlecht in den Personalausweis eintragen lassen wollte. Auch der Ethikrat der Bundesregierung empfahl 2012 die Einführung einer dritten Geschlechtsoption im Geburtenregister. Doch bisher haben Bund und Länder das noch nicht umgesetzt. Facebook ist in dieser Hinsicht weiter: Dort können Benutzer heute zwischen 60 Geschlechtsidentitäten wählen und statt "männlich" oder "weiblich" zum Beispiel "androgyn", "intersexuell", "Trans* Mann" oder "Trans* Frau" angeben.

Vereine wie "Intersexuelle Menschen e.V." setzen sich außerdem für die Einrichtung eines Fonds ein, der zwischengeschlechtliche Menschen für das erlebte Leid entschädigen soll. Sandrao befürwortet das: "Mir geht es um eine Wertschätzung. Ich will, dass die Folter, diese unmenschliche Verstümmelung, die mir angetan wurde, als genau das anerkannt wird."

Das Stigma bleibt, trotz prominenter Unterstützung

In der Gesellschaft sind Menschen wie Sandrao heute sichtbarer als früher. Vor zwei Monaten etwa ging das Model Hanne Gaby Odiele an die Öffentlichkeit und erklärte als erste Prominente, dass sie intersexuell geboren wurde. Ihr Outing wurde international begrüßt. Wie sehr der Umgang mit Intersexualität aber noch immer durch Stigmata belastet ist, zeigt der Fall der Leichtathletin Caster Semenya. Seit Jahren gibt es Gerüchte um eine mögliche Intersexualität der burschikosen Sportlerin, die oft haushoch gegen ihre weiblichen Konkurrentinnen gewann. Zwischendurch musste die Leichtathletin sogar eine Hormontherapie machen, um gegen ihren angeblich zu hohen Testosteronspiegel vorzugehen.

Sandraos Alltag ist von der Zwischengeschlechtlichkeit geprägt: Üblicherweise geht Sandrao auf die Frauentoilette. Doch ein ungutes Gefühl bleibt, häufig gibt es schiefe Blicke. Unisex-Toiletten, wie es sie etwa in Berlin an einigen Orten gibt, könnten eine Erleichterung sein. Doch die Diskussion darüber kommt nicht voran. In den USA etwa hat der neue Präsident Donald Trump gerade eine entsprechende Anweisung seines Vorgängers Barack Obama zurückgenommen.

Sandrao glaubt, dass die Aufklärung über Intersexualität schon im Kindergarten beginnen muss. Kinder müssten lernen, dass es mehr gibt als Männer und Frauen. Nur so werde Intersexualität irgendwann als normal anerkannt. "Es gibt ja auch in der Natur Zwitter, die dort leben dürfen, also warum nicht auch bei uns Menschen?", fragt Sandrao.

Genderforscherin Klöppel fordert darüber hinaus rechtliche Schritte, insbesondere ein Verbot der kosmetischen Genitaloperationen im Kindesalter. In Malta sind diese längst untersagt. Kinderarzt Hiort beklagt dagegen, dass die Diskussion hierzulande sehr ideologisch geführt werde. Es sei unmöglich abzuwägen, ob es für das Kind mehr Leid bedeute, zwischengeschlechtlich aufzuwachsen oder früh operiert zu werden. "Es gibt viele Menschen, die heute sagen, es sei völlig okay, dass man sie operiert hat", so der Mediziner.

Sandrao sieht das anders: "Manche intersexuellen Kinder muss man vor ihren Eltern schützen. Wer weiß schon, was passiert wäre, hätte ich meine Hoden behalten dürfen." Vielleicht würde Sandrao dann heute ganz selbstverständlich akzeptieren, als Herr Möhlheimer angesprochen zu werden.

*Name von der Redaktion geändert

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