Süddeutsche Zeitung

Geschlechtergerechte Anrede:Raum für Schräges und Verrückendes

Hannover macht vor, wie geschlechtergerechte Sprache aussehen kann. Frau und Mann sind eben nicht bloß wie Weibchen und Männchen in der Tierwelt.

Ein Gastbeitrag von Barbara Vinken

In Hannover spricht man bekanntlich das vollkommenste Hochdeutsch. Jetzt hat sich die Stadt für eine geschlechtergerechte, alle ansprechende Sprache entschieden. Es geht nicht nur um die Gleichstellung von Frauen und Männern, sondern um das Überwinden der hierarchischen Opposition von "männlich" und "weiblich".

Wenn möglich, wird die grammatische geschlechtliche Markierung vermieden: statt "Protokollführer" also "Das Protokoll schreibt". Hört sich aktiver an, wie "Studierende" statt Studenten.

Dann noch das Sternchen, das ziemlich glamourös auf die kulturelle Konstruktion von Geschlechtsrollen hinweist, Bürger*innen. Mir als heimlicher Rheinländerin gefällt das Sternchen. Hat etwas Funkelndes, wie die Funkenmariechen.

Verfehlt finde ich aber den Hinweis auf multiple Geschlechtsidentitäten oder das "dritte Geschlecht". Das klingt wie "er, sie, es" oder "alles so bunt hier, kann mich nicht entscheiden".

Es geht ja aber eben nicht um Identität: In einer Welt, in der wir die Geschlechtsrolle als die natürlichste Sache denken, gemeißelt in DNA, und alles verzweifelt buchstäblich nehmen, ist es gut, daran zu erinnern, dass man Geschlecht nicht ist, sondern inszeniert, verkörpert, spielt.

Schon dem Romancier Balzac war klar, dass Frauen und Männer mit den Weibchen und Männchen der Tierwelt kaum etwas zu tun haben. Es ist Zeit für mehr Schräges, Verrückendes, Queeres, und weniger Identitäres. Die Hannover'sche Sprachreform sollte also nicht ein drittes Geschlecht hinzufügen oder die Illusion befördern, jeder sei sein eigenes Geschlecht. Sie öffnet die Augen für das Prekäre, immer ein bisschen Schräge aller Geschlechtlichkeit, der wir nicht so einfach "Herr" werden können.

Barbara Vinken i st Romanistik-Professorin an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Quelle:
SZ vom 26.01.2019
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