Geschichte des Cannstatter Wasen:Vom Vulkanausbruch zum Volksfest

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Der Himmel über Baden-Württemberg regenverhangen wie vor 202 Jahren: der Cannstatter Wasen heute.

(Foto: imago/Horst Rudel)

Eine Naturkatastrophe im Pazifik löst im fernen Württemberg anno 1816 eine Hungersnot aus. Das Königspaar setzt Agrarreformen durch - und begründet vor 200 Jahren das zweitgrößte Volksfest der Welt.

Von Stefan Mayr

Der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im April 1815 ist etwa 50 Mal stärker als die Eruption des Vesuv, die im Jahre 79 Pompeji zerstörte. Und er hat noch viel katastrophalere Auswirkungen als der jüngste Ausbruch des Soputan auf der Insel Sulawesi, ebenfalls Indonesien. Die Explosion des Tambora anno 1815 ist angeblich mehr als 2000 Kilometer weit zu hören. Die obersten 1500 Meter des Berges werden weggesprengt, der Gipfel schrumpft von 4300 Metern Höhe auf 2800 Meter.

Zehntausend Menschen sind sofort tot. Über die benachbarten Küsten bricht, wie in den vergangenen Tagen auf Sulawesi, ein Tsunami herein, über den der britische Leutnant Owen Phillips schreibt: "Das Meer stieg höher als je zuvor bei der höchsten Springflut erlebt worden, mit einem Augenblick waren die fruchtbaren Felder mit Menschen, Häusern und allem, was sich darauf befand, ein Raub der Wellen."

Im Umkreis von 600 Kilometern bleibt der Himmel zwei Tage fast vollständig verdunkelt. Schwefelgas bis in die Stratosphäre. Das hat enorme Folgen, ein Jahr später auch auf der anderen Seite der Weltkugel. An den globalen Folgen der Eruption sterben wohl Hunderttausende.

Auch im fast 12 000 Kilometer entfernten Königreich Württemberg kommt es 1816 zum "Jahr ohne Sommer": Die Sonne verschwindet hinter einer düsteren Wolkendecke. Auf der Schwäbischen Alb fällt im Juli Schnee. In den Niederungen regnet es wochenlang, es gibt Überschwemmungen. Die Menschen haben keine Ahnung, wer oder was den Himmel verdunkelt. Sie denken an eine Strafe Gottes oder den Weltuntergang. Das Jahr 1816 nennen sie fortan: Achtzehnhunderterfroren.

Geschichte des Cannstatter Wasen: Cannstatter Wasen in den Gründungszeiten.

Cannstatter Wasen in den Gründungszeiten.

(Foto: Universität Hohenheim)

"Da kam viel zusammen", sagt Ulrich Fellmeth, Geschichtsprofessor an der Universität Hohenheim: "Württemberg hatte zuvor schon unter den napoleonischen Kriegen sehr gelitten. Dann kam die totale Missernte 1816, das löste die Hungersnot aus." In ihrer Verzweiflung essen die Menschen Gras, Hunde und Katzen. Sie graben die Mäusegänge auf, um an Körner zu kommen. Bittgottesdienste nützen nichts. Die Not betrifft auch besser situierte Familien. 20 000 wandern nach Amerika oder Russland aus. Einer begründet seinen Ausreiseantrag so: "Lieber Sklave in Amerika als Bürger von Württemberg."

König Friedrich I. interessiert das alles nicht. Während seine Untertanen ums Überleben kämpfen, pflegt der Despot sein Übergewicht. Sie nennen ihn den "dicken Friedrich". Der Legende nach sägen sie aus seiner Esstafel einen Bogen heraus, um seinem mächtigen Wanst Platz zu schaffen. Auch seine zahlreichen exotischen Tiere lässt der König weiterhin reichlich füttern. Als er am 30. Oktober 1816 stirbt, ist die Stimmung angesichts der Not auf dem Tiefpunkt.

Deutschlands größte Feste: die Wiesn in München, der Wasen in Stuttgart

Sein Sohn Wilhelm I. besteigt den Thron, seine Ehefrau Katharina ist die Tochter des russischen Zaren Paul und Enkelin von Katharina der Großen. Sie machen alles ganz anders. So despotisch der alte König regierte, so menschenfreundlich agiert das neue Königspaar. Katharina richtet Suppenküchen und Armenspeisungen ein. Die beiden starten eine Art "Sofortprogramm", das ebenso ungewöhnlich wie nachhaltig ist. Eine ihrer Ideen ist das Volksfest auf dem Cannstatter Wasen.

Was im 21. Jahrhundert in zwei Wochen vier Millionen Menschen anlocken wird, beginnt 1818 als eintägige Leistungs- und Informationsschau für Bauern, die verhindern soll, dass eine ähnliche Hungersnot noch mal ausbricht. Als Symbol der Fruchtbarkeit lässt der König inmitten des Festplatzes eine 15 Meter hohe Fruchtsäule errichten. Sie wird auch 200 Jahre später noch das Wahrzeichen der Sause sein - auch wenn die meisten Besucher 2018 nicht mehr wissen werden, warum.

Cannstatter Wasen bei Nacht

Strahlender Cannstatter Wasen: Die Veranstalter erwarten auch im Jahr 2018 einen großen Publikumszuspruch, sie rechnen mit mehr als 3,5 Millionen Besuchern.

(Foto: Christoph Schmidt/dpa)

Der König will mit dem Fest die Bauern aufklären und zu besseren Erträgen bringen. Am 31. März 1818 kündigt er im "Königlich-Württembergischen Staats- und Regierungsblatt" das erste "Landwirthschaftliche Fest zu Kannstadt" an: Darin lobt er Preise "für die besten Erzeugnisse der Viehzucht" aus. Der Adel ehrt Bauern? Das ist geradezu revolutionär. Als zusätzlichen Publikumsmagneten setzt Wilhelm Volksbelustigungen an. Termin ist der 28. September, der Tag nach seinem Geburtstag. Als Schauplatz wählt er eine Wiese am Neckar, den Wasen. Das Wort bedeutet auf schwäbisch: feuchtes Gelände. Wiesn (München) und Wasen (Stuttgart) mögen vielleicht ähnlich klingen, aber es heißt die Wiesn und der Wasen.

Die Idee kommt beim Volk gut an

Das königliche Konzept geht jedenfalls auf. Im ersten Jahr kommen 30 000 Menschen, mehr als die Residenzstadt Stuttgart Einwohner hat, zu Fuß mit ihrem Vieh oder auf Kutschen. Es gibt Pferderennen auf einer eigens angelegten 900 Meter langen Rundbahn und ein Fischerstechen auf dem Fluss. Zur Versorgung der Gäste werden in Buden - am Rande des Festes - Sauerkraut mit Rauchfleisch, Metzelsuppe, Steckerlfisch, Siedfleisch und Kässpätzle verkauft. Zu trinken gibt es Most und Wein und Limonade. Bier und Festzelte gibt es noch nicht.

"Man kann die Strahlwirkung des landwirtschaftlichen Hauptfestes nicht hoch genug einschätzen", sagt Historiker Fellmeth, "die Besucher haben ihr neues Wissen mit nach Hause genommen und umgesetzt." Das ist auch dringend nötig, wie Jürgen Weisser vom Deutschen Landwirtschaftsmuseum betont: "Die Landwirtschaft in Württemberg war auf einem niedrigeren Niveau als die der alten Römer."

Museum Grafing - Ausstellung Unglücke

Zeitgenössische Darstellungen des Leidens der Bauern unter verdunkeltem Himmel.

(Foto: Photographie Peter Hinz-Rosin)

Entsprechend arm sind die Menschen. Das Königspaar gründet einen Wohltätigkeitsverein, ein Mädchenbildungsinstitut und eine "Spar-Casse" für die "ärmeren Volksklassen".

Hier können einfache Leute erstmals Kleinstbeträge für schlechte Zeiten ansparen - bei garantierten fünf Prozent Zinsen. Und sie bekommen Kredite für Saatgut, die sie nach der Ernte zurückzahlen können. Um Bildung und Forschung zu fördern, gründen Wilhelm und Katharina eine "Unterrichts-, Versuchs- und Musteranstalt" im ungenutzten Schloss Hohenheim vor den Toren Stuttgarts. Aus ganz Europa werden Ackergeräte angeschafft, ausprobiert, verglichen. Und weiterentwickelt für die Böden und Früchte in Württemberg. "Hohenheim wird zum Silicon Valley der Landwirtschaft", sagt Museumschef Weisser.

Historischer Festzug zum Cannstatter Wasen

Historischer Festzug zum Jubiläums-Wasen.

(Foto: Christoph Schmidt/dpa)

Die "Hohenheimer Ackergeräthe-Fabrik" wird gegründet. Die erste ihrer Art auf deutschem Boden. Sie entwickelt und verkauft den Hohenheimer Pflug, einen Bestseller. König Wilhelm bekommt nicht aus Zufall die Kosenamen "König der Bauern" oder "Bauer unter den Königen". 1841, zu seinem 25-jährigen Thronjubiläum, malen die Untertanen den Pflug golden an und präsentierten ihn dann auf einem Festwagen. Es ist der erste Cannstatter Fest-Umzug.

Im Zuge der Industrialisierung wandelt sich das Geschehen auf dem Wasen: Das Treffen der Landwirte entwickelt sich mehr und mehr zum Volksfest für alle Bürger. Die Landwirtschaft wird immer produktiver, somit werden Arbeitskräfte für die Industrie frei. Die Zahl der Bauern geht nach und nach zurück. Stattdessen strömen nun immer mehr Arbeiter zum Fest, die Zerstreuung vom monotonen Alltag in den Fabriken suchen.

Doch als Schaufenster für technische Innovationen taugt das Fest immer noch. 1887 lässt ein Erfinder namens Gottlieb Daimler eine motorisierte Straßenbahn zum Volksfest fahren. "Ohne Pferde, aber auch ohne Lokomotive", staunt die Lokalzeitung über das "Teufelsfahrzeug". 1897 versucht es Daimler mit einer Pendelfähre über den Neckar. Der Durchbruch bleibt jeweils aber aus.

Mehr Erfolg hat William Frederick Cody aus den USA: Er tritt 1890 sechs Tage lang mit 200 Indianern und Cowboys, 175 Pferden, Ponys, Maultieren und Büffel auf. Per Zeitungsannonce kündigt er "große Gefechtsscenen" und "das Vorreiten wilder Pferde" an. In seinem zweistündigen Programm wird sogar scharf geschossen, was das Publikum noch mehr begeistert. Alle Mitarbeiter zelten auf dem Wasen, das inszenierte Lagerleben gehört zur Show. Nur Boss Cody alias Buffalo Bill logiert im Hotel Marquardt, einer der nobelsten Adressen des mondänen Kur- und Badeorts Cannstatt.

Der Wasen übersteht auch die NS-Zeit

Die Nationalsozialisten pflanzen ein Hakenkreuz auf die Spitze der Fruchtsäule. 1935 veranstalten sie ein Manöver, bei dem die Fliegerstaffel Göppingen eine auf der Festwiese aufgebaute Industrie-Kulisse aus der Luft attackiert. Die gleichgeschaltete Presse schreibt von 150 000 Zuschauern und einer "Symphonie einer großen Schlacht". Die Vorbereitungen für das Volksfest 1939 werden über Nacht durch den Einmarsch in Polen beendet. Die "Himalaya-Bahn", eine Achterbahn aus Holz, ist schon aufgebaut. Sie übersteht alle Luftangriffe. Erst nach Kriegsende 1945 wird sie zerstört. Von den Bürgern auf der Jagd nach Brennholz.

Schon 1947 gibt es wieder ein Volksfest. 1948 zelebriert Oberbürgermeister Arnulf Klett den ersten Fass-Anstich, und begründet sogleich die Tradition der launigen Eröffnungsreden. Einmal ruft er den Gästen zu: "Wo's Saufa a Ehr isch, isch's Kotza koi Schand."

2018 gilt das Volksfest auf dem Wasen als zweitgrößtes der Welt nach dem Münchner Oktoberfest. Das passt zum Charakter beider Feste: Auf der Wiesn feiern sie eine exzessive Königshochzeit. Und auf dem Wasen ein Erntedankfest, das aus der Not heraus entstanden ist und bis heute daran erinnert.

Katharina und Wilhelm taten viel Gutes - wohl kalkuliert

Geschichte des Cannstatter Wasen: Württembergs Königspaar Wilhelm und Katharina wollten mit dem Fest auch eine neue Agrarpolitik begründen.

Württembergs Königspaar Wilhelm und Katharina wollten mit dem Fest auch eine neue Agrarpolitik begründen.

Auch all die anderen Ideen des Königspaares haben bis ins Jahr 2018 überlebt: Aus der Spar-Casse hat sich die Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) entwickelt, aus dem Wohltätigkeitsverein das Landeswohlfahrtswerk, aus dem Mädchenbildungsinstitut das gemischte Gymnasium Königin-Katharina-Stift. Und die Universität Hohenheim sitzt nach wie vor im Schloss und gilt als weltweit renommierte Hochschule für Agrar-Wissenschaften. Sie erforscht nicht mehr nur, wie man in Württemberg ein Jahr ohne Sommer übersteht. Sondern wie man weltweit die Sommer ohne Regen überlebt.

Heute sind sich die Historiker einig, dass Wilhelm und Katharina nicht nur aus reiner Menschenliebe Gutes getan haben, sondern auch aus politischem Kalkül. Denn als sie an die Macht kommen, hallt die französische Revolution noch kräftig nach. In jedem Falle haben sie vieles richtig gemacht, wie Wulf Wager vom Cannstatter Volksfestverein sagt. "Die Württemberger tragen ihr Königspaar im Herzen", sagt der Autor des Bildbands "Cannstatter Volksfest: Vom Landwirtschaftsfest zum Mega-Event", "und nicht wie die Bayern ihren Ludwig auf dem Hosenträger."

"Wilhelm hat das Tor für die Industrialisierung Württembergs aufgestoßen", sagt Ulrich Fellmeth. "Ohne ihn wäre es nicht zur Ansiedlung großer Industrie gekommen." Dass sich Schwaben vom Armenhaus zum Powerhouse der Industrie entwickelt hat, sei "nur denkbar auf Basis von Wilhelms Reformen".

2018 erinnert auch das Katharinen-Hospital an die Wohltäterin, der Zoo Wilhelma trägt den Namen des Königs. Inmitten des Schlossplatzes im Stadtzentrum erinnert die "Jubiläumssäule" an den laut Inschrift "vielgeliebten" König. Dieses Attribut ist sicherlich Ausdruck der Verehrung, kann aber auch anders interpretiert werden. Denn Wilhelm I. nimmt es mit der ehelichen Treue nicht allzu genau. Er hat mehrere Maitressen. Das bestätigt sogar sein Nachfahre Michael von Württemberg, der 200 Jahre später das "Weingut Herzog von Württemberg" auf der Domäne Monrepos führt: "König Wilhelm war kein Mann von Traurigkeit. Natürlich gab es Maitressen, das war einfach so."

Damit verschuldet der König womöglich sogar den frühen Tod seiner Ehefrau. Die Legende geht so: Katharina ist wegen einer Liaison ihres Mannes außer sich vor Wut und lässt sich in einer offenen Kutsche durch die kalte Nacht zu seinem Liebesnest in Scharnhausen kutschieren. Da sie nur ein sehr dünnes Kleid trägt, zieht sie sich eine fiebrige Erkältung zu. Wenige Tage später stirbt sie am 9. Januar 1819 im Alter von nur 30 Jahren.

Die forsche und selbstbewusste Zarentochter als Opfer eines Eifersuchtsanfalls? "Das kann nicht sein", sagt Geschichtsprofessor Fellmeth. Er verweist auf den Obduktionsbericht, wonach Katharina an einer Infektion oder einer Gesichtsrose gestorben ist: "Beides holt man sich nicht bei einer leicht bekleideten Ausfahrt." Im übrigen sei sie Großfürstin gewesen, allenthalben werde sie als starke Persönlichkeit dargestellt. Als Napoleon um ihre Hand anhielt, soll sie gesagt haben: "Lieber heirate ich einen Ofenheizer in Zarskoje." Fellmeth: "Man soll nicht so tun, als wäre sie ein kleines eifersüchtiges Fräulein gewesen, das wird ihr nicht gerecht."

König Wilhelm jedenfalls ist vom Tod seiner Gattin sehr getroffen. Aus schlechtem Gewissen oder aus wahrer Liebe? Er lässt für Katharina die Stammburg seiner Familie auf dem Württemberg abreißen und ein mächtiges Mausoleum errichten, heute ein beliebtes Ausflugsziel in den Weinbergen über Stuttgart mit Aussicht auf den Wasen.

Über das Portal lässt er schreiben: "Die Liebe höret nimmer auf."

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