Süddeutsche Zeitung

Tirol:Der Chor der gernsingenden Falschsänger

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In Tirol gibt es spezielle Kurse für Menschen, die keinen Ton treffen, aber dennoch gerne ein Lied anstimmen. Über die hohe Nachfrage ist die Gründerin selbst überrascht.

Von Harald Hordych

Christa Köchl hat immer gern gesungen. Gerade wenn ihre hochmusikalischen Geschwister und ihr Vater beim Hauskonzert loslegten. Aber sobald sie aus voller Kehle ihre Stimme erhob, zischte der Vater: "Christa, singst du bitte leiser? Du weichst ab von der Melodie!" Gern mit Blick zur Schwester mit der schönen Singstimme.

Auch Georg Kauz hat immer gern gesungen. Gerade wenn er mit Freunden in der Kneipe zusammensaß und zu später Stunde ein Lied angestimmt wurde. Herrlich! Bis dann die Freunde das Gesicht verzogen, als ob ihnen ein Schmerz in die Glieder gefahren wäre. Das war's dann mit dem Traum, mal bei einem Chor mitzumachen. Georg Kauz sang viele Jahre nur noch im Auto. Allein, versteht sich. So laut es eben geht bei "Stairway To Heaven" von Led Zeppelin. "Na ja, ich singe einfach gern", sagt Georg Kauz, 56. Er sagt es mit einem Höchstmaß an Abbitte für ein kaum zu entschuldigendes Vergehen. Obwohl er das heute gar nicht mehr nötig hat.

Die Menschen, die abends in den musikalischen Übungsraum des Realgymnasiums Schwaz in Tirol zur Tür hereinkommen, singen auch alle gern. Allerdings ausschließlich unter der Dusche oder in anderen Sicherheitsräumen, wo ihnen niemand zuhören kann. Sie wären niemals zur Probe eines normalen Chors gegangen. "Niemals!", sagt Christa Köchl. "Niemals!", sagt Georg Kauz. Und doch werden sie sich eine Stunde später alle gemeinsam im Rhythmus hin- und herwiegen und tatsächlich inbrünstig und lustvoll: singen. Weil sie sich unter Gleichgesinnten (oder soll man besser sagen: Gleichgestimmten) wissen, im besten Sicherheitsraum für ehemalige Quetsch-, Schrill- und Plärrsinger - beim Kurs "Gernsingende Falschsänger".

Singen ohne schlechtes Gewissen

Der Titel klingt nach bitterem Humor. Der Erfolg aber gibt der Idee dieser Kurse recht. Vor zehn Jahren hat Christa Köchl, 58, von Beruf Physiotherapeutin, den angesehenen Chorleiter Klaus Niederstätter gefragt, ob er nicht mal einen Kurs mit Menschen leiten könnte, die nicht singen können, aber singen möchten. Niederstätter, am Konservatorium ausgebildeter Musiker und Dirigent, machte mit. Den Chornamen hat sich Christa Köchl ausgedacht. Eine Frau fand ihn respektlos. Alle anderen, die sich anmelden, sagen, dass er der Grund ist, es doch noch mal zu riskieren, weil hier alle so schlecht sind wie man selbst.

Die große Nachfrage überrascht sie bis heute, wie sie nach der Probe in einer Kneipe erzählt. "Ich hätte nie gedacht, dass es so viele Menschen gibt, die denken, dass sie nicht singen können, und es trotzdem wollen." Die erste Frage laute stets: "Aber ich muss doch nicht allein vor allen vorsingen?" Christa Köchl ist immer noch jeden Dienstag dabei. Chorprobe ist nicht das treffende Wort, eher Körper- und Stimmenhappening. Auf jeden Fall: Singen ohne schlechtes Gewissen.

Auch in Innsbruck und Kufstein gibt es mittlerweile Kurse. In Schwaz ist der Andrang so groß, dass an diesem Abend zwei Kurse hintereinander stattfinden werden.

Helga Diem hat eine sehr schöne Stimme und ist viele Jahre in Gesangensembles aufgetreten. Außerdem ist sie studierte Stimm- und Atemtherapeutin. Sie bringt an diesem Abend erwachsene Menschen dazu, Dinge zu tun, die sie sonst nicht mal allein tun würden. Zum Beispiel lautmalerisch Geräusche wie Bälle an die Decke werfen und ihnen dabei ungeniert hinterhersehen: Zisch und Wusch und huiiiiii! Oder sich über den Bauch streicheln und dabei genießerisch hmmmmm und Aaah machen. Sich überhaupt viel lauter und geräuschvoller benehmen, als das sozial geschulte Erwachsene üblicherweise tun.

Solche Übungen kennen Menschen, die mal aus ihrer konventionellen Körpersteifheit ausbrechen wollen, von Selbsterfahrungsgruppen. Hier muss keiner gelockert werden, um im Stuhlkreis besser von seinen Erfahrungen sprechen zu können. Aber die Verkrampfungen, das falsche flache Atmen, die Hemmungen, den angespannten Mund beim Singen richtig aufzumachen und nicht nur verschämt so ein kleines bisschen - das muss jeder der Falschsänger erst mal lernen. Die Töne müssen nun mal raus, genau wie die Emotionen, die in einem Lied mitschwingen.

Auch eine Frau, die mal taub war, singt jetzt mit

"Wer singt", erklärt Helga Diem, "macht seinen Körper zum Instrument, und das ist nun mal das persönlichste und ehrlichste Instrument, das es gibt." Dieser Schritt erfordert Mut und Selbstbewusstsein. Menschen, die zu den Falschsängern kommen, haben beides verloren. In aller Regel, weil ihnen mal jemand gesagt hat, dass sie nicht singen können. "Wer das auch nur ein einziges Mal gehört hat, besonders als Kind, der ist so verunsichert, dass er sich vielleicht sein ganzes Leben lang nie mehr trauen wird, im Beisein anderer zu singen", erzählt Helga Diem. Aber der Satz sei nicht nur gemein, er sei auch Unsinn. Jeder Mensch kann singen lernen. Die einen schneller, die anderen langsamer. "Man muss nur hinhören", sagt Chorgründer Klaus Niederstätter, "und das Gehörte verarbeiten und oft wiedergeben."

Es sind kleine Schritte, in denen Menschen singen lernen. Sie lernen, wie tief der Atem in ihren Körper fließen kann, wie ihr Körper samt vibrierenden Zähnen einen Resonanzraum bildet, wenn der Bauch locker und weich bleibt, und dass es leichter ist, einen Ton lange zu halten, wenn die Arme den Ton gestisch untermalen.

Bei einer Übung stehen alle ums Klavier versammelt. Helga Diem lässt die Gruppe einzelne Töne nachsingen. Zunächst machen die Hände der Falschsänger alles Mögliche, nur nicht entspannt am Körper liegen. Sie sind verknotet, verhakt, zu Fäusten geballt, sie liegen auf der Oberlippe, auf dem Nasenrücken. Aber nach dem ersten Lied schwingen sie alle entspannt wie von Fesseln befreit im Rhythmus. Auch bei einer Frau, die nach einer Hirnhautentzündung viele Jahre taub war und erst dank eines Hochleistungshörgeräts nun wieder ihre eigene Stimme hören kann. Alle strahlen eine helle Freude aus. Und es klingt richtig gut. Es klingt wie ein richtiger Chor. Hinterher sagt eine Frau, die als Krankenschwester arbeitet: "Nach dem Singen fühle ich mich immer wie innerlich massiert."

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Quelle:
SZ vom 30.12.2017
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