Die Kindheit, hat der österreichische Autor Heimito von Doderer einmal geschrieben, sei wie ein Eimer, den man über den Kopf gestülpt bekommt. Und dessen Inhalt ein Leben lang an einem hinunterrinnt. Ich muss oft an den Satz denken, wenn ich vor Gericht bin und es darum geht, welche Kindheitserfahrungen die Menschen auf der Anklagebank mitbringen.
Zwei Fälle sind mir besonders in Erinnerung. Da waren die sieben Jugendlichen, die in Berlin 2016 die Decke eines Obdachlosen anzündeten, der im U-Bahnhof schlief. Der Mann überlebte den Brand nur knapp. Im Prozess kam heraus, dass die Angeklagten als Teenager aus Syrien geflüchtet waren. Allein, die Eltern hatten sie losgeschickt, damit zumindest sie dem Krieg entkommen. In Berlin waren sie auf sich selbst gestellt, ohne Schule, ohne Perspektive. Sie trieben sich auf der Straße und auf U-Bahnhöfen herum, die Untersuchungshaft war für einige Jugendliche der erste feste Wohnsitz. Irgendwann kam einer auf die Idee, ein Feuerzeug anzuzünden und den Tod eines Menschen zu riskieren, der noch elender dran war als sie.
Der zweite Fall spielt im Jahr 2001 und bekam damals ebenfalls große Aufmerksamkeit. Eine 24-jährige Frau ließ ihren zweijährigen Sohn allein in der Wohnung und kam nicht mehr zurück. Als die Feuerwehr sechs Wochen später die Wohnung aufbrach, war das Kind verhungert und verdurstet. Auch hier schälte sich eine lange Vorgeschichte heraus. Die Frau war Anfang der Neunziger aus einem kleinen Dorf am Ural nach Deutschland gekommen, allein mit ihrer Mutter, ihre Schwester und ihr Vater blieben in Russland. Mit 14 begann sie, Drogen zu nehmen und sich zu prostituieren, um sich die Drogen kaufen zu können. Mit 17 wurde sie zum ersten Mal schwanger, das Kind wurde zur Adoption freigegeben. Das nächste Baby wollte sie behalten, kam aber nicht mit dem Leben als alleinerziehende drogensüchtige Mutter zurecht. Bis sie irgendwann nur noch wegwollte.
Beide Male lautete die Anklage auf Mord beziehungsweise Mordversuch, beide Fälle gingen für die Angeklagten relativ glimpflich aus. Einer der Jugendlichen wurde wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung zu knapp drei Jahren Haft verurteilt, die anderen erhielten Bewährungsstrafen. Die junge Frau bekam 13 Jahre Haft. In beiden Fällen hatten Gutachten herausgearbeitet, wie verloren die Angeklagten im eigenen Leben waren und wie unfähig, für sich oder andere zu sorgen. Im Fall der jungen Frau hatten Drogensucht und Depression dazu geführt, dass ihre Steuerungsfähigkeit gemindert war.
In der Öffentlichkeit heißt es dann oft, dass Angeklagte geschont würden, wenn sie Kindheitstraumata haben. Und dass man im Umkehrschluss einfach nur eine schwere Kindheit geltend machen müsse, um eine mildere Strafe zu bekommen. Ich selbst habe in vielen Jahren vor Gericht eines gelernt: Die wenigsten Menschen, die eine schwere Kindheit hatten, werden später zu Verbrechern. Aber so gut wie alle Verbrecher hatten es als Kinder schwer.