Vor Gericht:Die Kunst des Schweigens

Vor Gericht: undefined

Gerade bei Tötungsdelikten lautet der Rat der Anwälte an ihre Mandanten oft: Bitte kein Wort zu viel in der Verhandlung. Aber was, wenn es aus dem Angeklagten einfach so herausbricht?

Von Ronen Steinke

Der schrägste Kriminalfall, mit dem ich als junger Mitarbeiter einer Hamburger Anwaltskanzlei mal zu tun hatte, handelte von einem Mann, der plötzlich aus seiner bürgerlichen Existenz ausgebrochen war. Er sah noch immer unauffällig aus, mittelalt, mitteldichtes Haar, aber in seinem Gesicht hatte er so ein Leuchten, als hätte er eine große Erkenntnis des Lebens gewonnen, mit der er nun 99 Prozent seiner Mitmenschen voraus sei. Dies war ein Mann, der sein ruhig vor sich hin tuckerndes norddeutsches Leben mit Frau, Kind und Job eines Tages angesehen und für so uninteressant befunden hatte, dass er sich stattdessen aufgemacht hatte, etwas anderes auszuprobieren: schwuler Sex, Drogen, eine monatelange Tour durch Hotels und Clubs. Davon schwärmte er jetzt. In Untersuchungshaft.

Es ist unter dramaturgischen Gesichtspunkten öfters mal schade, dass Beschuldigte vor Gericht schweigen. Gerade wenn Tötungsdelikte im Raum stehen, ist Schweigen fast immer das, was Verteidiger ihnen raten. Die Richterinnen und Richter sind dann meist unfroh, denn das bedeutet zähe, abgelesene Anwaltsstatements statt pralles Leben. Der Angeklagte ist oft auch unfroh, denn er muss im Prozess die Lippen zusammenpressen, selbst wenn es ihn noch so drängt. Manchmal erlebt man, dass es irgendwann doch aus ihnen herausplatzt, dann sprechen sie den Richter, die Richterin direkt an: "Ich will jetzt mal was klarstellen!" Anwälte werden dann meist blass.

Ein falsches Wort des Angeklagten kann juristisch üble Folgen haben

Schweigen ist in der Regel wirklich besser. Im Fall des norddeutschen Ex-Normalbürgers war es so: Er hatte einem schwulen Lover ein Messer zwischen die Rippen gerammt. Beinahe wäre jede Rettung zu spät gekommen. Der Vorwurf lautete versuchter Mord. Nach deutschem Recht liegt der Unterschied zwischen einer langen Haftstrafe wegen Mordes und einer unter Umständen recht kurzen Haft wegen Totschlags meist im Motiv. Das heißt: Wenn dem Angeklagten vor Gericht irgendeine Formulierung herausrutscht, die sich als sogenanntes Mordmerkmal interpretieren lässt, zum Beispiel Habgier oder Mordlust, dann kann das juristisch üble Folgen haben.

Schweigen hingegen - das lässt Raum für Zweifel. Wenn einer schweigt, und man weiß nicht, was in seinem Kopf vorging - dann kann sich das zugunsten des Angeklagten auswirken. Man kann dann mutmaßen, der Mann habe vielleicht aus Angst zugestochen, oder verwirrt vor lauter Sex und Drogen. Oder man kann sich sogar die Frage stellen, warum er denn nach dem ersten Stich gleich wieder aufgehört hat. Dafür gibt es sogar eine Regel in Paragraf 24 des Strafgesetzbuchs, die Verteidiger lieben: Wer sich mitten in einer Bluttat plötzlich seines Gewissens erinnert und stoppt, der kann vom Rechtsstaat unter Umständen mit einem Freispruch belohnt werden. Aber das setzt natürlich voraus, dass der Angeklagte dem Zweifel Raum lässt und seine schillernden Erzählungen für sich behält, und der Mann mit dem Leuchten im Gesicht hatte nun auf vieles Lust, aber darauf nicht.

Auf die Untersuchungshaft folgten dann noch viele Jahre Gefängnis.

Vor Gericht: In dieser Serie schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten.

In dieser Serie schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten.

(Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
Zur SZ-Startseite
Regret

SZ PlusPsychologie
:Warum es heilsam ist, Dinge zu bereuen

Zu viel geraucht, der falsche Ehepartner, nichts gespart: Viele Menschen bedauern Entscheidungen. Die gute Nachricht: Reue hilft!

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: