Süddeutsche Zeitung

Geliebter, verhasster Afrolook:Haarige Entscheidung

Afro oder Glätten? Das schwarze Amerika befindet sich seit jeher in einem schmerzhaften Kampf um die richtige Frisur.

Jonathan Fischer

Am frühen Abend des 27. Januar 1984 trat Michael Jackson für ein Video seines Sponsors Pepsi Cola im Shrine Auditorium in Los Angeles auf: Der "King of Pop", seine Brüder und 3000 Statisten starteten gerade den fünften Take für den Werbeclip, der Sänger tanzte eine lange Treppe hinunter, da passierte es: Jacksons Frisur stand plötzlich in Flammen. Mehrere Sicherheitsmänner eilten herbei, um das Feuer mit ihren bloßen Händen zu löschen, der Sänger kam anschließend mit schweren Verbrennungen an der Kopfhaut ins Krankenhaus.

Jacksons verkohlte Frisurreste, der Umstand, dass menschliches Haar ohne offene Flamme in der Nähe Feuer fangen konnte, und der unnatürlich blaue Rauch, der aus Jacksons Schopf aufgestiegen war - die Weltpresse hatte ihre Sensation gefunden. Afroamerikaner aber wunderten sich kaum: Natürlich ähnelte Jacksons "Jheri Curls"-Frisur einer Chemiehalde. Nur: War der Aktivator schuld? Oder doch die Spezialeffekte?

Teuer und unbequem

Nach Jacksons Feuertaufe jedenfalls hatte sich auch diese Lösung eines uralten Problems - krause Haare elegant zu glätten - erledigt: Es kursierten unzählige Witze über Brandschutz-Vorkehrungen für Jheri-Curls-Träger. Dazu war die tägliche Pflege der öligen Locken nicht nur teuer, sondern auch äußerst unbequem: Wer wollte schon stundenlang mit einer Duschkappe auf dem Kopf spazieren gehen oder eben mit ölverschmierten Kissenbezügen, Hemdkragen und Möbeln leben?

In Robert Townsends 1987er Film "Hollywood Shuffle" wird ein schwarzer Zuhälter zu einem schniefenden Jammerlappen reduziert, als ihm sein Aktivator weggenommen wird und sein einst geglättetes Haar sich vor den Augen des Publikums zurückkräuselt. Die Parodie erhellte eine der erbittertsten Kontroversen innerhalb Afroamerikas: Sollte man dem Schönheitsideal möglichst glatter Frisuren folgen, und mit viel Chemie einen sogenannten "Process" anstreben, oder doch solche Imitationen weißen Haares als Zeichen eines "angeschlagenen schwarzen Selbstbewusstseins" verurteilen?

Glätten ist Rassenverrat

Eine Diskussion, die nicht nur politisch für Zündstoff sorgt, sondern nebenbei eine ganze Reihe von Popsongs inspiriert hat: von Nina Simone, die in "Four Women" ihr "wollenes Haar" besingt bis zum jüngsten Hit der R'n'B-Sängerin India Arie. "I am not my hair/ I am not my skin/ I am not your expectations, no, no/ I'm a soul that lives within": "Ich bin nicht mein Haar, ich bin nicht, was ihr in meine Frisur hineinlest".

India Arie - sie trägt ihr Haar inzwischen als "Natural" - erzählt in ihrem Song von einer äußerlichen wie spirituellen Selbstfindung: Sie habe aufgehört, alle zwei Wochen einen halben Tag beim Friseur zu verbringen, um wie Millionen ihrer schwarzen Landsleute ihre von Geburt an krausen Haare zu verleugnen: "Ich fühle mich schön, wie mich Gott geschaffen hat. Und ich möchte auch anderen schwarzen Frauen zu diesem Selbstverständnis verhelfen."

Ob sie dabei auch an die perfekte Haarkappe von Condoleezza Rice dachte? Schließlich wittern viele Afroamerikaner in der geglätteten Frisur der USAußenministerin Untertöne von Rassenverrat. Umgekehrt macht sich Präsidentschaftsanwärter Barack Obama seine kurzen, kraus belassenen Haare als Ausweis der eigenen Rassen-Loyalität und Glaubwürdigkeit zu Nutze.

Der Oprah Winfrey Haarstil

Das wohl einflussreichste Frisurenvorbild Afroamerikas aber liefert die Talkshow-Diva Oprah Winfrey: Sie wechselt alle paar Monate ihren Haarstil, von Locken über geglättete und aufgeplusterte "Bobs" bis hin zu Perücken. Ihr Leibfriseur André Walker hat mit "André Talks Hair" einen Bestseller geschrieben und eine eigene Internetseite mit Tipps zu einem "großartigen Oprah Winfrey Haarstil" aufgezogen.

Haare und ihre Pflege - von Perücken über Verlängerungen bis zu elektrischen Kämmen und Entkrausungscremes - genießen in Afroamerika quasi-religiöse Aufmerksamkeit. Wie sonst lässt sich erklären, dass Afroamerikaner zwar nur gut zehn Prozent der US-Bevölkerung ausmachen, aber für 80 Prozent des nationalen Umsatzes an Haarpflegemitteln aufkommen?

Dass Rapper wie Ludacris für einen Frisurenwechsel genauso viel Aufmerksamkeit erzielen wie für ihre jüngste Platte? Und dass ein halbes Dutzend Hochglanzmagazine am Kiosk mit nichts konkurrieren als schwarzen Haarmodellen zwischen den Umschlagdeckeln?

Spirituelle Nachricht an die Haare

Das aktuelle Heft von Black Hair etwa zeigt, wie man die Locken, deren Wachstum Bob Marley Jahre kosteten, im Laufe eines Nachmittags appliziert, oder sich mit glatten Haarverlängerungen endlich eine "göttliche" Janet-Jackson-Mähne verschafft.

Tatsächlich galten Frisuren bereits in Afrika als Träger spiritueller Qualitäten: Mitteilungen der Götter und Geister, heißt es etwa bei den Yoruba, würden durch das Haar in die Seele gelangen. Die in die Neue Welt verschleppten Afrikaner wurden als Sklaven vieler ihrer Traditionen beraubt: Haare aber blieben für ihre Identität von zentraler Bedeutung.

Das weiße Amerika hielt schwarzes Haar lange für unattraktiv und minderwertig. Oft wurde es gar abwertend als "Wolle" bezeichnet. In der Folge imitierten schwarze Sklaven weiße Frisurstile: Männer glätteten ihr Haar zur Not mit Schmierfett für Wagenräder. Frauen rieben sich Butter oder Gänseschmalz ins Haar, um es anschließend mit einem über dem Feuer erhitzten Messer zu entkrausen. Hauptsache glatte Haare.

Nach der Abschaffung der Sklaverei wurden "gutes" Haar und helle Hautfarbe zur Voraussetzung der Mitgliedschaft in der schwarzen Elite. Viele Geschäftemacher nutzten diesen Umstand aus und verkauften gesundheitsschädliche und manchmal gar tödliche Chemiecocktails für Haar und Haut.

Wundermittel für Haarwachstum

Auf der anderen Seite machte der Haarpflege-Boom viele Afroamerikaner zu erfolgreichen Unternehmern. Besonders zwei schwarze Frauen schrieben dabei Geschichte: Annie Turnbo Malone und Madam C. J. Walker schufen eine schwarze Haarpflege-Industrie, die - trotz der Propagierung weißer Schönheitsideale - dennoch wesentlich zur Stärkung schwarzen Selbstbewusstseins beitrug.

Malone hatte um 1900 begonnen, ein angebliches Wundermittel für Haarwachstum von Haustür zu Haustür zu verkaufen. Sie war damit so erfolgreich, dass sie bald ein Multimillionen-Unternehmen führte. Bezeichnenderweise taufte sie ihre Firma Poro - in der westafrikanischen Mendesprache steht das für: Gebetsgemeinschaft.

Tatsächlich nutzte Malone ihr Vermögen zur Förderung schwarzer Schulen, Kirchen und zur Eröffnung eines firmeneigenen Colleges zur Ausbildung von Friseuren. Bis heute gelten die Friseurläden - neben den schwarzen Kirchen - als Herzstück jeder afroamerikanischen Community.

Haarglätten als Ausdruck von Selbsthass

Obwohl viele schwarze Führer die Obsession ihrer Landsleute mit der Körperpflege als Weg zu größerer gesellschaftlicher Akzeptanz guthießen, verurteilten sie gleichzeitig die Praxis des Haarglättens als Ausdruck von Selbsthass: Booker T. Washington ging so weit, schwarze Kosmetiker und Vertreter von Haarpflegeprodukten von der Mitgliedschaft in der Negro Business League auszuschließen. Und Marcus Garvey forderte in einer Rede: "Entfernt nicht die Locken aus eurem Haar. Entfernt sie aus eurem Gehirn!"

Ironischerweise lebte Garveys Zeitung Negro World wie auch alle anderen schwarzen Presseerzeugnisse zu gut zwei Drittel von Anzeigen für Haarprodukte einschließlich Entkrausungsmitteln. Schließlich galt dem durchschnittlichen Afroamerikaner gekraustes Haar immer noch als rückständig, ländlich und unattraktiv.

In vielen Berufen, von der Sekretärin bis zur Stripteasetänzerin, wurden bevorzugt glatthaarige schwarze Frauen eingestellt. Und wer als Mann von Welt gelten wollte, der rieb sich als Initiationsritus ein Sodium-Hydroxid-Gel ins Haar. So wie auch der künftige schwarze Nationalist Malcolm X: "Mein Kopf fing Feuer", erinnert er sich in seiner Autobiographie an seine chemische Entkrausung: "Ich biss die Zähne zusammen und hielt mich am Küchentisch fest. Der Kamm fühlte sich an, als würde er meine Kopfhaut abziehen. Meine Knie zitterten."

Aber das Ergebnis war ihm den Schmerz wert: "Ich hatte schon einige herrliche Dauerwellen gesehen, aber wenn du sie nach lebenslangem Kraushaar das erste Mal auf dem eigenen Kopf trägst, ist das Gefühl unbeschreiblich." Später sollte derselbe Malcolm X diesen Moment als "ersten großen Schritt in Richtung Selbstentwertung" erinnern.

Per Fahndungsfoto zum Mode-Idol

Muhammad Ali gehörte zu den ersten Pophelden, die ihr Haar bewusst kraus trugen. Sängerinnen wie Abbey Lincoln, Nina Simone und Aretha Franklin ließen sich auf ihren Plattencovern mit Afros oder zumindest einem "Natural" abbilden. Und sogar James Brown, bisher Inbegriff weltmännischer Eleganz, ersetzte seinen gepflegten Conk kurzzeitig durch einen wuchernden Krauskopf.

Frisuren galten mehr und mehr als Bekenntnisse, wahlweise für politische Integration oder schwarzen Nationalismus. Black Panther-Anführer Angela Davis und Kathleen Cleaver predigten "black is beautiful" mit Worten wie Frisuren. "Als wir anfingen, unsere Afros zu tragen", erinnert sich Jesse Jackson, "war das ein großes politisches Statement - etwas, was uns die Weißen nicht so leicht nachmachen konnten".

Die Black Power Bewegung versandete Mitte der siebziger Jahre. Afros, Cornrows, Braids und andere afrikanisch inspirierte Frisuren aber blieben - unter veränderten Vorzeichen: "Als ich untertauchen musste", erinnert sich Angela Davis, "legte ich mir glatte Haare und viel Schminke zu. Ich dachte damals, glamourös und revolutionär seien Gegensätze. Zwei Jahrzehnte später aber wurde ich aufgrund des FBI-Fahndungsfotos mit dem Afro vom New York Times Magazin zu einem der 50 einflussreichsten Mode-Idole unserer Zeit gewählt."

Wolle mit Glamourpotenzial

Tatsächlich war der Afro zum Glamour geworden: Auch die Jackson 5, Diana Ross und Schauspielerin Pam Grier ließen sich die Haare zu Berge stehen. Die Armee und viele Fluggesellschaften änderten ihre Kopfbedeckungen mit Rücksicht auf die Afromode. Und ein New Yorker Friseur bot Afroamerikanern mit zu glattem Haar eine chemische Methode an, um ihnen einen simulierten Afro zu frisieren. Spätestens als auch Barbra Streisand einen Afro trug und Bo Derek nach dem Film "10 - Die Traumfrau" eine typisch schwarze Flechtzopffrisur für weiße Hausfrauen popularisierte, war klar: Die vermeintlich minderwertige "Wolle" hatte höchstes Modepotential.

Mit dem schwarzen Stolz des Hip-Hop erlebten die Haarmoden der Sechziger und Siebziger eine Wiederauferstehung. Heute gehören Rapmusiker zu den einflussreichsten Frisurmodellen Afroamerikas: Wenn Ahmir Uestlove Thompson oder Maxwell etwa turmhohe Afros tragen, Lauryn Hill sich das Haar zu Dreadlocks verfilzen lässt, Ludacris und Snoop Dogg sogenannte Cornrows oder Braids zur Schau stellt, so verbinden die Fans damit typische Zuschreibungen. Etwa politische Denker (Afro), Rebell (Dreadlocks) oder Gangster (Cornrows und Braids).

Repolitisierung der Frisuren

Doch kann man wirklich von einer Repolitisierung der Frisuren sprechen? Schwarze Popstars wie Lil' Kim, Mary J. Blige oder Beyoncé Knowles repräsentieren mit blonden Perücken und Haarverlängerungen auch 2007 dasselbe weiße Frisurenideal, das schon die Supremes zur Schau trugen. "Warum dürfen wir es nicht den weißen Frauen gleichtun?", kontert Mary J. Blige die Kritik: "Deren Dauerwellen und blondierte Haare sind doch auch nicht echt - und niemand wirft ihnen das vor."

Ironischerweise bleibt von den geschätzten 700 Millionen Dollar, die schwarze Frauen und Männer jährlich in Haarpflegeprodukte investieren, kaum etwas in der afroamerikanischen Community hängen. Das hat soeben die preisgekrönte Filmdokumentation "Black Hair" aufgedeckt. Koreanische Geschäftsleute haben die Afroamerikaner inzwischen verdrängt und beherrschen 90 Prozent des Großhandels, des Vertriebs und der Herstellung.

"Eine Tragödie" schreibt die afroamerikanische Internet-Zeitung Eurweb, "besonders, wenn man die hohe Arbeitslosenziffer im Ghetto bedenkt". Und der Chicago Defender appelliert an Hip-Hop-Tycoons wie Sean Combs: "Warum nicht einen kleinen Teil der mit dem Rap-Business verdienten Milliarden als Kredit an afroamerikanische Vertriebsläden für Haarprodukte geben? Das wäre die zeitgemäße Variante von Black Power."

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Quelle:
SZ vom 12./13.5.2007
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