Süddeutsche Zeitung

Gelassenheitstraining:"Ich hab euch alle lieb"

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Ich bin rosa und hüpfe nackt auf einem Bein - ganz ohne Drogen. Wie das passieren konnte? Fragen Sie meine Gelassenheitstrainerin. Ein Selbstversuch.

Violetta Simon

Der Alltag nervt, die Psyche bröckelt, die Figur hängt durch. Ständig dieser Druck, nie kann ich tun, was ich will. Es reicht. Ich brauche mehr Zeit. Zeit für mich, Zeit für mein Leben. Von nun an werde ich cool. Dabei soll mir die Gelassenheitstrainerin Heike Fussell helfen.

Die gebürtige Hessin ging nach Paris und London, betreute Projekte in Neuseeland, Italien und Holland und lebt mittlerweile in München. Sie war mit einem Neuseeländer verheiratet, mit dem sie zwei Töchter hat und eine IT-Firma gründete. Fussell war Oberbayerische Meisterin in Tischtennis, spielt Theater, tanzt und singt. Ganz schön viel Stoff für einen einzigen Menschen. Auch als das Bayerische Fernsehen kürzlich in der Serie "Lebenslinien" ein Portrait über die 43-Jährige brachte, hob sie nicht ab. "Ein gelassener Mensch greift nach den Sternen und bleibt mit den Füßen auf dem Boden", lautet ihr Motto.

Diese Fähigkeit vermittelt Fussel seit fünf Jahren in Seminaren und Einzelarbeit. Ob Sinnfragen und berufliche Veränderungswünsche, Beziehungsstress, Ärger mit dem Chef oder der übereifrigen Mutter - die eigenen Erwartungen zu erkennen und Konflikte besser auszuhalten, das ist das Ziel ihrer Arbeit.

Kein bisschen esoterisch

Nun stehe ich also vor ihrer Tür, mit chronischen Verspannungen und Termindruck im Nacken. Heike Fussell öffnet und lächelt. Erleichtert stelle ich fest, dass die dunkelhaarige Frau mit der eckigen Brille kein bisschen esoterisch wirkt. Dasselbe gilt für das geräumige, räucherstäbchenfreie Wohnzimmer. An der Wand steht ein Samovar, gegenüber ein Klavier, mitten im Raum eine Liege aus der Bauhaus-Ära. Wir nehmen auf zwei kleinen Sofas in der Ecke Platz. Fussell gießt Entspannungstee ein und wirkt dabei hellwach. Soeben hat sie ihre morgendliche Schüttelmeditation hinter sich gebracht. "Das Bewegungslose liegt mir nicht so", sagt sie. Ich wünschte, ich könnte genau das öfter tun - reglos verharren.

Die Menschen, die bereits auf dieser Couch saßen, könnten nicht verschiedener sein: eine Altenpflegerin, die mit der emotionalen Belastung nicht mehr klarkommt, ein Bankvorstand, der kein Privatleben mehr hat oder ein Bauer, der unzufrieden ist mit seiner Beziehung. Der Ansatz ist immer derselbe: "Gelassenheit entsteht, indem ich mir klarmache: Was will ich, wie komme ich dahin, wo sabotiere ich gegen mich?", erklärt Fussell. Deshalb stelle sie den Klienten oft penetrante Fragen. "Da kommen sie mir nicht aus, das ist unangenehm." Doch am Ende würde man mit einer neuen Haltung an die Sache herangehen, weil man seine Erwartungen besser kenne.

Erkenne dich selbst

Als Erstes stellt mir Frau Fussell eine kreative Aufgabe: Ich soll ein Ganzkörper-Selbstportrait anfertigen. Kein Strickmännchen, kein Symbol, sondern in voller Form. Ich erblicke die Packung mit der Jaxon-Kreide und reibe mir die Hände - nichts leichter als das, schließlich habe ich mal eine Kunstschule besucht. Doch da werde ich bereits gebremst: Es gehe hier nicht um die Aufnahme in der Akademie der schönen Künste, sondern um die Frage: Wie sehe ich mich selbst. Schon gut, schon gut.

Was wird das Bild über mich verraten? Fortsetzung nächste Seite ...

Was wird das Bild über mich verraten? Jeder Strich zählt. Ich beginne mit Kopf, Hals und Schultern. Vorsichtshalber zeichne ich mich vollständig bekleidet. Als ich fertig bin, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, was dieses Bild aussagen soll. Ich erkenne mich ja nicht mal selbst. Eine Frau in Pulli, Jeans und Stiefel. Keine Tasche, kein Kind, kein Mann. Ich bin überrascht, wie oberflächlich die Person wirkt. Frau Fussell bittet mich, dem Bild einen Titel zu geben ("Da bin ich!"), der Person eine körperliche ("fit!"), eine emotionale ("optimistisch!") und eine geistige ("wach!") Eigenschaft zuzuschreiben und ihr ein Alter zu geben. Ich schätze sie auf 30.

Jetzt soll ich erspüren, ob meine Füße kalt sind und welche Zehen den Boden berühren. Dann scanne ich den restlichen Körper nach Verspannungen ab und bemerke, dass ich zwar beschwerdefrei bin, mich aber ziemlich unfit fühle. Hatte ich nicht eben meine Zustand als "fit" beschrieben? Naja, schließlich mache ich bald wieder Sport, ernähre mich gesünder und überhaupt, wenn der Sommer erst kommt, wird alles besser.

Ganz schön penetrant

Wir sitzen uns gegenüber. Heike Fussell stellt mir eine Menge Fragen. Nur, dass es immer dieselbe ist: "Sagen Sie mir ein Thema, das Sie zur Zeit beschäftigt." Wieder und wieder. Die Antwort lautet jedesmal anders: Wo werde ich in zwei Jahren sein, wird mein Sohn ein glücklicher Mensch, wann komme ich endlich zum Joggen ... Erst geht es recht flott, dann gerate ich allmählich ins Stocken. Irgendwann sauge ich mir was aus den Fingern, schließlich bitte ich um Gnade. Die Liste ist lang und zeigt, dass mein Leben aus lauter Sorgen besteht: 27, um genau zu sein. Wie soll man da gelassen bleiben? Was ich brauche, ist kein Coach, sondern einen Psychiater.

Da liegt mir die nächste Aufgabe schon mehr: "Sie haben einen Wunsch frei", verkündet mir mein Gegenüber. Toll. Zuerst wünsche ich mir Gesundheit für mein Kind. Als Frau Fussell erklärt, dass auch die Wünsche unbegrenzt seien, wünsche ich mir Weltfrieden, Reichtum für die Dritte Welt und ein schönes Haus - an jedem Meer eins. So geht es eine Zeit. Bald hat sie mich so weit, dass ich überlege: Was will ich eigentlich wirklich? Der Leser möge verzeihen, dass die Antwort darauf unter dem Mantel des Schweigens verschwindet.

Nach dieser Erfahrung durchkämme ich erneut meinen Körper: Wie fühlt es sich an, ich zu sein, nachdem ich diese Dinge ausgesprochen habe? Ich erkenne immerhin, dass mir der rechte Bezug zu mir fehlt. Meine Trainerin scheint das keineswegs zu überraschen - diese Erkenntnis gehört zu ihrem Job-Alltag.

Als Nächstes ist eine Behandlung namens "brasilianisches Zehenhalten" dran. Ich darf auf die Bauhaus-Liege, werde in eine Decke gehüllt und schließe die Augen. Frau Fussell nimmt Zeh für Zeh zwischen die Fingerspitzen. Während sie meine Zehen hält und wir gemeinsam dem Gluckern in meinem Bauch lauschen, kreisen meine Gedanken um eine Tasse Kaffee. Allmählich verschwinden die Verspannungen, die Füße werden warm, der Kaffee ist egal und ich tauche immer wieder ins Nichts ab. Wenn mir jetzt jemand dumm käme, würde ich ihm antworten: "Ich hab dich auch lieb!"

Von Fuß bis Kopf

Jetzt soll ich mich nochmal malen - diesmal von Fuß bis Kopf. Dazu läuft Entspannungsmusik. "Was erwarten Sie jetzt von mir, glauben Sie, das Bild wird anders?", frage ich ein wenig lustlos. "Weiß nicht, ich habe keinerlei Erwartungen", antwortet sie und verlässt den Raum. Also gut, dann eben nochmal. Ich mache mich locker, greife aus irgendeinem Grund zu pink und beginne mit Zehen, Knöcheln und Wade. Plötzlich steht die Figur auf einem Bein, das andere ist in der Luft. Für den Kopf wird wohl kein Platz bleiben, aber der spielt jetzt sowieso keine Rolle. Klamotten lasse ich diesmal weg, anstandshalber verpasse ich der Figur einen Bikini. Das Alter: diesmal darf sie echte 40 sein. Als Heike Fussell reinkommt und einen Blick auf mein Bild wirft, müssen wir beide lachen. Die Frau auf dem ersten Bild trägt Rollkragenpulli, Jeans und Stiefel. Die auf dem zweiten ist nackt, rosa und steht auf einem Bein. Dazwischen liegen ein paar Stunden.

Zwei Dinge sind mir jetzt klar. Erstens: Die einzige, die hier Erwartungen hatte, war ich. Zweitens: Ich lag damit so was von daneben. "Was ich mache, ist nicht komplex", sagt Heike Fussell, "der Mensch ist komplex." Was sie tue, sei eigentlich ganz einfach.

Zum Abschied gibt sie mir ein Aufgabe und einen Satz mit auf den Weg. Die Aufgabe: Öfter drüber nachzudenken, was ich mir wünsche und an den Wünschen zu arbeiten. Der Satz: "Wer weiß, was er tut, kann tun, was er will." Als ich Frau Fussell verlasse, trage ich Jeans, Pulli und Stiefel. Die rosa Frau auf einem Bein trage ich in mir. Mein Wunsch: Dafür sorgen, dass es so bleibt. Man kann es ja mal versuchen.

Heike Fussell bietet Seminare zu folgenden Theman an: "Mit Gelassenheit zum Erfolg", "Gelassen in jeder Beziehung", "Gelassen in Trennungssituationen" - Trennungen ohne Rechtsanwalt. Außerdem Gelassenheitstraining mit Bewegung im Park, Einzelarbeit bei Beziehungsthemen, Sinnfragen, beruflichen Veränderungswünschen. Weitere Informationen und Termine unter http://www.gelassenheitstraining.de/

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