Geiselnahme:"Mein Leben hing an einer Wäscheklammer"

Tag der Angst: Die Sozialarbeiterin Ingrid Bergmann war zwölf Stunden in den Händen zweier Schwerverbrecher. Die Geiselnehmer hatten ihr eine selbstgebastelte Bombe umgebunden. Bergmann überlebte, aber bekam lebenslänglich.

Protokoll: Lars Langenau

"JVA Hannover, Schulenburger Landstraße, 9. Juni 1986. Es war ein sehr warmer Junitag, ein Montag. Ich war damals 31 Jahre alt. Ich weiß noch heute, dass ich an diesem Tag keinerlei Lust auf die Arbeit verspürte. Trotzdem war ich sehr früh da, weil ich noch ein Familientreffen für die Inhaftierten vorbereiten musste.

Mein Büro lag mitten im Zellenblock. Eigentlich war es eine Vier-Mann-Zelle mit Gittern vor dem Fenster, die nur als Büro ausgestattet war. Ich saß missmutig am Schreibtisch, schrieb Einladungen für das Treffen. Gegen 7:20 Uhr wurde plötzlich die Tür aufgerissen. Zwei mir völlig unbekannte Männer stürmten in den Raum. Einer schrie: 'Schlüssel her'. Mein erster Gedanke: 'Was soll das denn hier? Braucht doch kein Mensch!' Und ich sagte noch: 'Anklopfen wäre auch ganz schön.'

Schnell wurde ich aufgeklärt: Dies hier sei eine Geiselnahme. Ich könne jetzt nur noch beten, dass ich gute Verbindungen zu meinen Kollegen hätte und die mir wohlgesonnen seien. Dann zeigten sie mir zwei oder drei selbstgebastelte Bomben. Die waren in der Größe von Getränkedosen, gefüllt mit Nägeln, den Schwefelköpfen von Streichhölzern und einer Schaltvorrichtung.

Ich dachte, ich sei im falschen Film, das passiert dir doch jetzt nicht. Mein Erstaunen war zunächst größer als die Angst. Doch die Situation wurde schnell zur Realität. Die Geiselnehmer verbarrikadierten die Tür, einer fesselte mir die Hände und ich bekam eine Bombe in einem Rucksack auf den Rücken festgeschnallt. Von dem ging ein Kabel zu einer Wäscheklammer, die immer offen gehalten werden musste. Bei Kontakt wäre die Bombe explodiert. Mein Leben hing an einer Wäscheklammer.

Geiselnahme: Ingrid Bergmann hat das Polaroid ihres Büros aufgehoben.

Ingrid Bergmann hat das Polaroid ihres Büros aufgehoben.

(Foto: Collage SZ.de)

Zwei Millionen Lösegeld

So erklärten es mir meine Geiselnehmer. Damit wollten sie den 'finalen Rettungsschuss' eines Einsatzkommandos verhindern. Die ersten zwei Stunden habe ich mich immer wieder gekniffen, weil ich einfach nicht glauben konnte, was da passiert. Dann stellten sie ihre Forderung: Zwei Millionen D-Mark und ein Fluchtauto. Die Drohung: 'Wenn wir hier nicht rauskommen, sprengen wir uns mit der Frau in die Luft!'

Der eine hieß Gerhard E., 34, und verbüßte eine Haftstrafe wegen Missbrauchs und Totschlags einer jungen Frau. Er war auch der Wortführer und Kopf hinter der Aktion. Der andere, Dieter N., 42, saß wegen eines Bankraubs und gefährlicher Körperverletzung in Untersuchungshaft. Aber das erfuhr ich alles erst nachher. Auch dass E. schon neun Jahre saß und wohl von Mithäftlingen bedroht wurde und der tablettensüchtige N. unter Entzugserscheinungen litt.

Es war ein Tag der Angst. Ich habe alles durchlebt: Zeitweise war ich ruhig und hatte mit meinem Leben abgeschlossen. Schließlich war ich denen ja ohnmächtig ausgeliefert. Dann wieder Todesängste, völlige Verzweiflung, ich habe nur geweint. Dann wieder: 'Hoffentlich bekommen meine Freunde und meine Familie nichts mit.' Und dann: 'Hauptsache, du kommst pünktlich nach Hause'. Glücklich war ich darüber, dass ich alleine in dieser Situation war und niemanden zusätzlich beruhigen musste.

Erstaunlich ist, an wen und was man in solchen Momenten denkt. Ich dachte, wenn ich das überlebe, dann möchte ich gern noch mal auf dem Fahrrad sitzen und an der Weser entlangfahren, Kornfelder, Kornblumen und Mohnblumen sehen.

Die gesamte Geiselnahme im Gebäude der JVA zog sich von 7:20 Uhr bis 18 Uhr hin. Der Zugriff war dann außerhalb der Haftanstalt gegen 20 Uhr.

Immerhin hatten die Geiselnehmer für genügend Getränke und Toilettenpapier gesorgt. Zwei Stunden saß ich mit auf den Rücken gebundenen Händen auf meinem Schreibtischstuhl. Dann musste ich pinkeln. Es war nur das Waschbecken im Zimmer und zunächst lehnten sie es ab, mir meine Fesseln zu lösen. Begründung: 'Nachher kannst du Karate und so was.' Die haben mich dann tatsächlich irgendwann entfesselt und nachher auch nicht mehr angebunden. Ich bat darum, während des Urinierens das Radio laut stellen zu dürfen, und darum, dass sie sich umdrehen. Haben sie auch gemacht. Dann kamen so Sprüche wie: 'Sei froh, dass du eine Frau bist. Bei einem Mann hätten wir schon ein Ohr abgeschnitten und zu Demozwecken aus dem Fenster geworfen.'

Ich sagte denen dann: 'Wenn das klappt mit den zwei Millionen, wisst ihr, was wir dann machen? Wenn wir rauskommen und die uns nicht verfolgen? Dann gehen wir in die Kneipe und trinken einen!' Die darauf mit großen Augen: 'Ey, wie bist denn du drauf?' Ich: 'Ja, Erleichterungssaufen.'

"Stockholmsyndrom"

Die Sondereinheiten saßen inzwischen auf den Dächern. Aber die konnten nichts tun. Das erste Ultimatum der Geiselnehmer lief um zwölf Uhr ab, sie verlängerten es auf 14 Uhr. Ich begann die beiden richtig vollzulabern: 'Scheiß Knast, muss man ja auch raus' und so. So ging das dann Stunde um Stunde. Ich sage nur 'Stockholmsyndrom'. Ich dachte wirklich, ich muss mich mit denen jetzt verbünden. Mir ging es nur noch darum, irgendwie lebend rauszukommen.

Nach drei Stunden duzten wir uns. Das entkrampfte die ganze Situation. Dann kam im Radio, dass die Landesregierung nicht gewillt sei, auf die Forderungen der Geiselnehmer einzugehen. Ich bekam Wut auf die Medien und dachte: 'Wie bescheuert, selbst wenn ihr das nicht machen wollt, dann tut doch wenigstens so! Ihr gießt doch Öl aufs Feuer.'

Die beiden wurden tatsächlich nervös. Sie verhandelten mit dem Anstaltsleiter, einem Psychologen und einem Sozialarbeiter. Ich konnte inzwischen mit einem befreundeten Abteilungsleiter in der JVA telefonieren. Simulierte am Telefon Herzprobleme: 'Kannst du mir Tabletten dafür besorgen?' Mir wurde eine Beruhigungspille durch das darüber liegende Fenster hinabgelassen, die ich am liebsten mit E. und N. geteilt hätte. Sie lehnten dankend ab. Was ich nachher erfuhr: Wir wurden die ganze Zeit von außen abgehört. Die Polizei wusste immer genau, was da drin bei uns passierte - und wie ich reagierte.

Ich rang den Geiselnehmern das Versprechen ab, dass sie mich freilassen, wenn sie Geld und Auto hätten und nicht verfolgt würden. Dann lief das zweite Ultimatum ab. Eine Viertelstunde später warfen sie eine Bombe aus dem Fenster, um zu beweisen, dass sie funktionsfähig waren. Sie hatten ja noch zwei. Unter anderem die eine auf meinem Rücken.

Wir sahen, dass ein Roboter die Bombe aufhob und wegfuhr. Nachher habe ich erfahren, dass die hochgegangen wäre, wenn beim Wurf nicht die Zündung beschädigt worden wäre. Immerhin wussten die da draußen jetzt, dass es sich nicht um eine Attrappe handelt, sondern um hochwirksamen Sprengstoff.

Messer am Hals und Bomben in der Hand

Dann gab es statt zwei Millionen D-Mark nur eine. In Plastiktüten. Und endlich auch den Fluchtwagen. Punkt 17:59 Uhr ging es zum Auto. Ich hatte ein Messer am Hals und die Bomben in der Hand. Ich warnte einen Geiselnehmer, er solle jetzt bloß nicht stolpern, damit die Bombe nicht hochgehe. Der andere ging hinter mir und hielt permanent die Klammer auf. Doch als das Geld kam, ging es uns gut.

Geiselnahme: Ingrid Bergmann sammelte die Zeitungsartikel.

Ingrid Bergmann sammelte die Zeitungsartikel.

(Foto: Collage SZ.de)

Ab in einen weißen Opel. Ich saß hinten mit dem einen Geiselnehmer und der Bombe, und der Klammer. Der andere fuhr. Zunächst eine 'Ehrenrunde' im Hof der Haftanstalt unter dem Gegröle von 900 Häftlingen. Dann verließen wir die JVA. Draußen standen Anwohner und Schaulustige und beobachteten die Szenerie.

Es wurde eine Irrfahrt, anscheinend ohne Ziel und Plan. Wir fuhren in Richtung Innenstadt, machten Halt an einer Tankstelle und die besorgten sich unter anderem Alkohol. Mein Gedanke: 'Mein Gott, wenn ich das hier schon überlebe, dann komme ich noch bei einem Autounfall ums Leben.' Ich wollte diesen ganzen Mist nur noch hinter mich bringen.

Wir fuhren auf die A 2, Abfahrt Steinhude. Ich dachte: Mensch, du musst doch noch deine Verabredung anrufen, dass du heute später kommst. Ich sagte den Geiselnehmern: 'Hört mal zu, Leute: Ihr habt mir zugesagt, mich gehen zu lassen, wenn wir nicht verfolgt werden. Wir werden nicht verfolgt. Lasst mich frei! Vorschlag: Fahrt hier den Wald- und Wiesenweg entlang. Da könnt ihr mich dann ja rauslassen.' Auch, damit ich nur eine halbe Stunde lang laufen musste, um auf eine befahrene Straße zu kommen.

Richtung Rethem an der Aller sind wir dann in den ersten Waldweg eingebogen. Auf dem Weg war ein Getränkeladen. Ich habe mit Kodderschnauze gesagt: 'Nehmt euch doch hier einen anderen Wagen und haut einfach ab.' Hier passierte etwas, was sie mir auf eine schräge Art sympathisch machte: Da stand ein unverschlossenes Auto mit offenem Fenster - auf der Rückbank lag ein Baby. Vater oder Mutter müssen sich schnell etwas aus dem Laden geholt haben. Jedenfalls sagten die Geiselnehmer dann: 'Nein, so was machen wir nicht.'

"Wir liegen heute Abend in der Kühlhalle"

Wir fuhren also im alten Fluchtauto weiter. Nahmen einen weiteren Waldweg. Da kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass ich ja gar nicht wusste, weshalb die verknackt worden waren. Vielleicht wegen Vergewaltigung? Doch der Gedanke hat mich nicht erschüttert. Ich dachte: 'Das ist noch das geringste Übel, wenn du sowieso in die Luft fliegst.' Der eine: 'Wenn wir dich jetzt freilassen, dann liegen wir heute Abend in der Kühlhalle des örtlichen Krankenhauses.' Sie hatten sich eh den ganzen Tag nur Erfolgschancen von 'weniger als zehn Prozent' ausgerechnet.

Wir fuhren in einen dritten Waldweg. Und dort, endlich, nach zwölf Stunden, nahmen sie mir die Bombe vom Rücken - und ließen mich raus. Sie sagten: 'Wir wissen, dass wir einen Fehler machen, du warst unsere Lebensversicherung. Doch in der Zwischenzeit hatten wir so ein Verhältnis aufgebaut, dass ich noch aufs Autodach klopfte und sagte: 'Passt gut auf euch auf.' Dann machten sich die beiden davon.

Davon, dass wir verfolgt worden waren, hatten wir nichts mitbekommen. Im Radio hieß es sogar, die Polizei habe uns aus den Augen verloren. Eine Finte. Denn nachher kam raus: Die hatten einen Peilsender im Auto angebracht, 20 Zivilstreifen folgten uns im Abstand von zwei Kilometern und die Polizei war sogar mit einem Hubschrauber hinter uns her. Ich setzte mich in Richtung Hauptstraße in Bewegung. Plötzlich stoppte vor mir ein schwarzer GTI mit einer Vollbremsung, die Tür wurde aufgerissen. 'Einsteigen!' Ich dachte: 'Nicht schon wieder.' - 'Steigen Sie ein, Frau Bergmann!' Erst dann begriff ich, dass es Polizisten waren.

Ein paar Minuten später sind die Geiselnehmer dann bei Verden in eine Polizeisperre geraten. Das Fluchtfahrzeug prallte mit einem Polizei-Zivilwagen zusammen. Ein Beamter wurde aus dem Fahrzeug geschleudert und verletzt. Es kam zu einer Schießerei. E. wurde durch Schüsse in Lunge, Leber und Bauch schwer verletzt, N. durch einen Streifschuss am Bein. In den Zeitungen stand: "Die Geiselnahme endete 'glimpflich'."

Ich war stolz auf mich. 'Hey Bergmann, haste auch das überlebt.' Der Spruch meines Vaters war immer: 'Ein Bergmann lässt sich nicht unterkriegen.' Eigentlich eher ein Fluch dieser Satz, aber in diesem Moment passend.

Wie nach einem Autounfall

Am nächsten Tag bin ich gleich wieder in die JVA. Wie nach einem Autounfall: Gleich hinters Steuer, damit die Angst nicht so groß werden kann. Dort stand ein Präsentkorb des Innenministers, der mich aber nicht besonders berührte. 'Ich hoffe, dass es Ihnen gesundheitlich und psychisch gut geht', stand in dem Begleitschreiben. Die Polizei beschrieb mein Verhalten als distanziert, aber 'locker und salopp' im Umgangston, was dazu geführt habe, dass die Geiselnehmer ihre Nerven nicht verloren.

Ich bekam eine Woche Sonderurlaub, bei einer Freundin erholte ich mich. Danach arbeitete ich weiter. Es ging mir wirklich gut. So nach dem Motto: 'Du hast Todesängste erfahren, was soll dir denn noch passieren?' Mir fehlte nichts.

Einen Monat später erhielt ich von E. einen Entschuldigungsbrief: 'Ich hoffe inständig, dass Sie diesen Schreckenstag einigermaßen überwunden haben', stand da drin. Und: 'Ich bin nicht der große Ganove, den ich immer spielen wollte. Bitte versuchen Sie, mir wenigstens ein klein bisschen zu verzeihen! Wenn Sie können.'

Ich bekam lebenslänglich

Ein Jahr später war die Verhandlung. Die Anklage lautete: Geiselnahme in Tateinheit mit erpresserischem Menschenraub. Die Täter verweigerten die Aussage. Ich erklärte mich zu einer Aussage bereit und schaute den Tätern ohne Probleme in die Augen. Der Richter lobte mein besonnenes Verhalten und, dass das die Situation wesentlich entschärft hätte. Er fragte mich explizit, wie es mir heute gehe. Ich darauf: 'Ich müsste jetzt lügen, wenn ich Ihnen sage, dass es mir schlecht geht.' Wie die mich behandelt hätten? 'Unter diesen Umständen gut.'

Das war auch wirklich mein objektives Empfinden. Ich war vor Gericht wohl sehr ruhig, wirkte selbstsicher und betonte, keine seelischen Schäden erlitten zu haben. Auch böse Träume hätte ich keine, sagte ich. Die Hannoversche Allgemeine Zeitung schrieb: 'Sie hat den Schock von damals überwunden und ist in ihrer alten Position in der Justizvollzugsanstalt tätig.'

Ich habe bis heute keinen Hass auf die Geiselnehmer. Das Leben ist eben ein Hindernislauf: Manches ist schwerer zu überwinden, manches einfacher. Wegen meiner Aussage haben sie dann 'nur' sieben Jahre bekommen, obwohl es auch 15 Jahre hätten werden können. Allerdings wurde in der Folge der Strafvollzug für alle Häftlinge verschärft, sodass eine Geiselnahme in dieser Form heute nicht mehr stattfinden könnte.

Ich jedoch bekam lebenslänglich. Denn mein wirkliches Lebensdrama, unter dem ich noch heute leide, begann erst noch. Es ging los mit Albträumen. Ich verspürte eine massive innere Unruhe. Dann bekam ich auf der Autofahrt in die JVA meine erste Panikattacke. Heute weiß ich, dass es das war. Damals spürte ich nur die Symptome und wusste nicht, was das war: Schweißausbrüche, zittrige Knie, Todesangst. Ich habe alles nur noch verschwommen gesehen. Ich in die Eisen, rechts ran. Dann habe ich geheult. Wie verrückt geheult. Zwei Stunden habe ich für den Weg gebraucht. Bis ich zitternd auf dem Parkplatz der JVA stand.

Posttraumatisches Belastungssyndrom

Ich wusste, dass mir kein klassischer Arzt helfen konnte. Posttraumatisches Belastungssyndrom. So heißt das heute. Damals hatte man noch keinen Namen dafür. Meine Panikattacken heute sind immer ein kleines Stück wie Sterben.

Die beiden Täter sind längst wieder draußen, oder in Sicherheitsverwahrung. Das interessiert mich auch nicht. Es ist passiert und ich muss gucken, wie ich damit klarkomme. Ich begab mich in eine psychosomatische Klinik für drei Monate. Verhaltenstherapie. Ich habe das als Konditionierung angesehen, denn mein Ziel war: wieder arbeiten gehen zu können.

Bis heute kann ich nicht auf der Autobahn fahren. Dabei geht es nicht um mich. Es ist meine Angst vor Kontrollverlust. Dass ich mal rüberziehe und anderen Menschen Unglück bringe. Ich fuhr wieder jeden Tag in den Männerknast. Nur eben jetzt auf der Landstraße.

Dann hatte ich ein weiteres Erlebnis: Eines Morgens wurde die Tür erneut aufgerissen und ein Inhaftierter wollte - irgendetwas Banales. Doch für mich kam der ganze Schrecken wieder hoch. Ich wechselte dann in den Frauenstrafvollzug.

Zeitweise schaffte ich selbst den Weg auf der Landstraße nicht mehr. Ich habe bei Freunden in Hannover übernachtet. Letztlich musste ich aus dem Weserbergland nach Hannover umziehen, um meiner Arbeit nachkommen zu können. Mir ging es psychisch sehr schlecht. Vier Jahre habe ich weiter gearbeitet. Trotz schwerer Panikattacken.

Seit dem 9. Juni 1986 bin ich ver-rückt. Im Wortsinn

1990 musste ich einsehen, dass ich meinen Beruf nicht mehr ausüben kann. Das war schwer, denn er hatte mir ja Spaß gemacht. Mit 36 wurde ich Sozialamtfrau im Ruhestand - oder anders gesagt: Rentnerin. Aber es ging nicht anders. Ich konnte nicht mehr. Selbst einen Wechsel innerhalb des Justizapparates schaffte ich nicht mehr. Ständige Krankschreibungen. Nun saß ich da in diesem Alter, fragte mich nach meiner Existenzberechtigung und konnte nicht mehr das Haus verlassen. Auch heute passiert das manchmal.

Der 9. Juni 1986 ist in meinem Hirn eingebrannt. Seither bin ich ver-rückt. Wirklich im Wortsinn. In die Psyche kann man nicht reingucken. Aber das Hirn kann genauso verunglücken wie ein sichtbares Körperteil. Hätte ich einen Arm oder ein Bein verloren, könnte man das sehen.

Aber dieses Datum ist auch mein zweiter Geburtstag. An diesem Tag stellen sich jährlich, ob ich will oder nicht, abwechselnd große Dankbarkeitsgefühle und Depressionen ein. Nach zwei stationären Therapien und jahrzehntelanger ambulanter Psychotherapie habe ich gelernt, mein Handicap anzunehmen. Durch mein Erlebnis kann ich das Empfinden traumatisierter Menschen gut nachvollziehen.

Mein Lebensmotto: Nichts im Leben ist so negativ, als dass nicht irgendetwas Positives dabei herauskommen kann. Durch das zweifelhafte Geschenk meiner frühen Pensionierung habe ich liebenswerte Menschen kennengelernt, denen ich unter anderen Bedingungen wahrscheinlich niemals begegnet wäre.

Ich habe keinen Grund zur Klage - und definiere mich als zufriedenen Menschen. Ich erfreue mich an der Natur, meiner Familie und meinen mir immer wieder den Rücken stärkenden liebevollen Freundinnen und Freunden.

Es ist nicht immer leicht, mit den aus der Geiselnahme resultierenden 'Special Effects' - so nenne ich meine Macken - zu leben. Ich habe aber gelernt, dass Toleranz gegenüber mir selbst und eine große Portion Humor, über die ich Gott sei Dank verfüge, äußerst hilfreich sein können.

Es ist mir eben passiert. Anderen geschehen andere Dinge.

Ingrid Bergmann, 61, ist ausgebildete Sozialpädagogin und wohnt in Hannover. Ein paar Wochen nach dem Gespräch schickt sie Bilder von ihrer Reise an die Weser, die sie dann doch unternommen hat.

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