Süddeutsche Zeitung

Familie:Brücken aus Büchern

Wenn Eltern ins Gefängnis müssen, ist es für sie schwierig, den Kontakt zu ihren Kindern zu halten. In den USA lesen sie ihnen deshalb in Videos Geschichten vor.

Von Jürgen Schmieder

Dann eben Filzstift statt Lippenstift. Maribel De La Rosa-Villas Augen glänzen, als sie beim Videogespräch diese Geschichte erzählt - auch deshalb, weil sie sich mit Tränen füllen. Die Erinnerungen an damals, sie machen die Mutter fröhlich und traurig zugleich. Der Tag, von dem sie erzählt, liegt inzwischen gut zwei Jahre zurück. Ihr Auftritt steht damals kurz bevor. Die Kamera ist bereit und De La Rosa-Villa nervös. Es gibt kein Make-up, aber sie will doch gut aussehen, ihr Publikum ist schließlich das Wichtigste, vor dem ein Mensch auftreten kann: die eigenen Kinder. "Also habe ich mein Gesicht mit diesen Stiften bemalt." Make-up ist in den Gefängnissen von Kalifornien verboten.

Drei Jahre lang saß Maribel De La Rosa-Villa wegen Drogendelikten hinter Gittern. Drei Jahre lang konnte sie ihre vier Kinder nicht in den Arm nehmen. Die beiden älteren Kinder, damals 14 und acht Jahre alt, lebten beim Vater; die Stiefmutter wollte nicht, dass sie Kontakt zur inhaftierten Mutter hatten. Die jüngeren, beim Urteil sechs und fünf Jahre alt, kamen bei der Mutter von De La Rosa-Villa unter. Nur alle paar Wochen durften sie ihre Mutter im streng überwachten Besuchsraum sehen. Hilflos, wertlos, hoffnungslos - so beschreibt De La Rosa-Villa ihre Emotionen damals. Vor allem aber habe sie dauernd das Gefühl gehabt, eine schlechte Mutter zu sein, "weil ich ja wusste, dass ich drei Jahre lang weg sein würde". Die Kinder fühlten sich verlassen.

Zwei Jahre lang schrieb sie ihnen Briefe, die oft nicht ankamen, wartete wochenlang auf Reaktionen - oft vergeblich. Dann hörte sie von "Book Bridges", den Brücken aus Büchern. So heißt die Initiative der Stiftung Reading Legacies in San Diego. Die einstige Grundschullehrerin Betty Mohlenbrock hat sie vor elf Jahren ins Leben gerufen. Seitdem haben knapp 50 000 Kinder in den USA von inhaftierten Eltern Videos bekommen, in denen Mama oder Papa aus Büchern vorlesen.

"Gemeinsam lesen ist einer der wichtigsten Aspekte bei der Entwicklung von Kindern", antwortet Mohlenbrock, wenn man sie fragt, warum sie die Initiative gegründet hat. Fachleute sind sich einig: Bereits in frühester Kindheit werden die Weichen für künftige Bildungschancen gestellt. Beim Vorlesen lernen Kinder, aufmerksam zuzuhören, dabei auf jedes kleine Detail zu achten und gleichzeitig mit der ihnen vorlesenden Person ins Gespräch zu kommen - über ein bestimmtes Thema im Buch, aber auch über sich selbst und andere. Das fördert die Empathie, und die Kinder lernen, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Doch Vorlesen bedeutet nicht nur, einen Text zu erfassen, sondern ganz einfach auch Beziehungspflege. Das gemeinsame Lesen stärkt die Bindung - gerade für Eltern und Kinder, die räumlich getrennt sind, ein unschätzbarer Wert. Denn die Beziehungsarbeit funktioniert auch dann, wenn sich die Kinder nicht an die Eltern kuscheln können. Sie sehen: Mama oder Papa ist zwar weg, aber doch irgendwie da. Und sich gemeinsam in immer wieder neue Abenteuer zu stürzen macht vor allem auch ganz einfach: Spaß.

"The Green Giant" - "Der grüne Riese" hieß das Buch, das De La Rosa-Villa für ihre Kinder aussuchte. Nicht jedes Buch ist erlaubt, Reading Legacies trifft eine Vorauswahl, verschickt die Bücher an die Kinder und dazu einen Link zum Vorlesevideo ihrer Eltern. In "The Green Giant" freundet sich die kleine Bea bei einem Besuch ihres Großvaters auf dem Land mit einem grünen, aus Pflanzen bestehenden Riesen an, der nebenan wohnt. Seite für Seite wächst die Freundschaft der beiden.

Seite für Seite wächst das Selbstwertgefühl

Bei De La Rosa-Villa war es das eigene Selbstwertgefühl, das Seite für Seite zunahm. Und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft mit ihren Kindern. "Das Schöne war außerdem: Ich habe meine Auftritte gemeinsam mit sechs anderen Frauen absolviert", sagt De La Rosa-Villa. Das habe einen Zusammenhalt geschaffen, den es sonst nicht gegeben hätte. "Ein paar Stunden lang waren wir alle keine Gefangenen, sondern Mütter."

Etwa 2,7 Millionen Kinder und Jugendliche gibt es in den USA, von denen ein Elternteil im Gefängnis sitzt; die Folgen für die Kinder sind häufig fatal: Sie sind viel stärker gefährdet, an Depressionen oder Aufmerksamkeitsstörungen zu leiden, die Schule ohne Abschluss zu verlassen und später obdachlos oder drogensüchtig zu werden, als andere Kinder, das belegen mehrere Studien. Laut Statistik landen sie später auch deutlich häufiger selbst hinter Gittern.

Das Schlimme war: Kory Russell kannte all diese Statistiken und Prognosen, als er 2018 für 15 Monate in den Knast wanderte, ebenfalls wegen Drogendelikten. Zuvor war der Vater von zwei kleinen Töchtern jahrelang ein Meister darin gewesen, zwar immer wieder im Gefängnis zu landen, aber auch schnell wieder rauszukommen. Seine Töchter bekamen davon nicht viel mit. "Ich war als Vater ohnehin kaum präsent." Er gab den Mädchen einen Gute-Nacht-Kuss, dann zog er um die Häuser, um Drogen zu nehmen.

Seine Einstellung änderte sich erst, als er länger in den Knast musste. "Es machte sich eine Leere in mir breit, eine Mischung aus Scham und Schuld", erzählt auch er am Telefon. Die beiden Töchter waren damals drei und vier Jahre alt, und sie ahnten, dass Papa nun nicht nur ein paar Nächte weg sein würde. "Es war mir auf einmal wichtig, ihnen zu zeigen: Papa ist hier, er sorgt sich, er tut etwas für euch."

Und das tat er dann auch. Insgesamt zehn Bücher hat er seinen Töchtern während seiner Haft vorgelesen - fast jeden Monat eines. Zum Beispiel "Fancy Nancy", eine Reihe über die Abenteuer eines extravaganten Mädchens. Oder Bücher der beliebten Kinderbuchfigur "Llama Llama", die viel über Familie und Freundschaft erzählen. Oder den New York Times-Bestseller "Be kind", "Sei nett", in dem ein Kind Saft über sein neues Kleid verschüttet und alle anderen Kinder lachen - nur eines nicht. Er habe, sagt Russell, bewusst nach positiven Botschaften für die Töchter gesucht. "Ich wollte Themen wie Tapferkeit, Mut oder Reife ansprechen." Und noch etwas war ihm wichtig. "Ich wollte so überzeugend wie möglich sein." Also imitierte er die Stimmen von Monstern und Prinzessinnen, von Lamas und Hunden und ging richtig in den Figuren auf. "Ich habe wirklich alles gegeben." Auch die anderen Häftlinge, die für ihre Kinder vorlasen, hätten sich ins Zeug gelegt, erzählt Russell. Vor der Kamera wurden die harten Jungs, die sich draußen auf dem Hof nichts gefallen ließen, plötzlich zu Papas, die das taten, was Väter am besten können, wenn es um ihre Kinder geht: sich zum Deppen machen.

Die Reaktionen der Töchter sind unbezahlbar

Ihr Lohn? "Die Reaktionen meiner Töchter waren unbezahlbar", sagt Russell. "Sie konnten ihren Vater sehen und hören, und sie wussten: Er ist für uns da!" Anders als die anderen Väter hatte er das Privileg, die Reaktionen seiner Mädchen selbst auf Video sehen zu können. Denn Vater und Töchter waren Teil eines Werbevideos für das Programm, das im Gefängnis gezeigt wurde. Normalerweise dürfen Insassen keine Videos von draußen erhalten. Ihre Kinder können sie also nur bei Besuchen unter den strengen Augen der Wächter sehen - doch auch die wurden während Corona lange ganz ausgesetzt. Die Kinder wissen zu lassen, dass man sie nicht vergessen habe, sei deshalb umso wichtiger geworden, sagt Russell. Während seiner Haft jedoch durfte er noch Besuch von seinen Kindern bekommen. Nach dem ersten Buch sei es plötzlich nicht mehr um die Frage gegangen, wo ist Papa eigentlich und wann kommt er nach Hause? "Sie haben gefragt: Wann kommt das nächste Buch?"

Wie nachhaltig das Projekt die Beziehung des Vaters zu seinen Töchtern verbessert hat, zeigt sich heute, drei Jahre später. "Wir lesen auch jetzt noch fast jeden Abend", sagt Russel. Überhaupt unternimmt er heute viel mehr mit seinen Töchtern, nimmt an ihrem Alltag teil. "Papa ist jetzt da, und das nicht nur körperlich."

Auch De La Rosa-Villas Hoffnung hat sich erfüllt. Seit ihrer Entlassung lebt sie wieder zusammen mit ihren beiden jüngeren Töchtern, Jazibel ist inzwischen zehn, Joelle neun. Immer wieder laufen die Kinder während des Videotelefonats im Hintergrund vorbei, beide bestens gelaunt. Die Beziehung zu den zwei älteren Kindern habe sich ebenfalls erheblich verbessert, sagt die Mutter. "Es war mir möglich, sie persönlich über die Bücher anzusprechen - ich konnte ihnen verraten: ,Jolly Green Giant', so habe ich euren Vater immer genannt. Es entstand so eine Verbindung, die es sonst nicht gegeben hätte." Das galt für ihre vier Kinder, aber auch für ihr Patenkind, das lange gar nichts mehr von ihr wissen wollte. Fünf Bücher las sie vor; vier für die eigenen Kinder (jedes bekam ein persönliches und nur auf seine Bedürfnisse abgestimmtes Buch) und eines für das Patenkind. "Es hat gesehen, dass es nicht vergessen ist, dass sich die Patentante Mühe gibt, dass sie kein schlechter Mensch ist." So baute sie Brücken aus Büchern. Für Kinder sind sie oftmals stabiler als jene aus Stein und Mörtel.

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