Es ist eine besondere Gnade des Menschenkörpers, dass er sich an Schmerz nicht erinnert. Jede Frau, die ein Kind zur Welt gebracht hat, weiß das. Manche Geburten dauern lange, manche gehen schnell, manche sind friedlich, manche dramatisch, aber egal wie: Jede hat diese Momente, in denen die Schmerzen das Gehirn aus den Angeln heben - und dann ist da doch irgendwann ein Baby. Und ein paar Wochen später ist der Schmerz nur noch ein Wort, das man sagt, wenn man die Geschichte erzählt.
Der Schmerz der Schutzlosigkeit ist anders. Er erledigt sich nicht einfach von selbst, und er wird Frauen im Kreißsaal sehr viel häufiger zugefügt, als bekannt ist. Barbara K. hat das so erlebt: Ihr Sohn, sagt sie, kam "glücklich zur Welt", aber was mit ihr passierte, kann sie nicht vergessen. Ihr Körper lässt sie nicht. Nach einem vorzeitigen Blasensprung kam K. in eine Münchner Klinik, die unter anderem für ihre niedrige Kaiserschnittrate bekannt ist. Weil die Wehen nicht von selbst einsetzten, wurde die Geburt zwölf Stunden später eingeleitet. So weit, so Routine. Abends dann: Wehenstillstand, aber keine Probleme beim Kind. Viele Ärzte hätten in dieser Situation zum Kaiserschnitt geraten.
Stattdessen, sagt K., warf sich ein Arzt auf ihren Bauch und begann, ohne dass sie dabei eine einzige Wehe hatte, das Kind mit seinem Körper aus ihr hinauszudrücken. Es habe keine Vorwarnung gegeben und keine Erklärung. K. war besinnungslos vor Schmerzen und dabei, sagt sie, sei sie doch recht hart im Nehmen. Sie wisse nicht mehr, wie lang das so ging, aber vermutet, dass es mindestens eine Viertelstunde war. Anders als es bei Wehen der Fall gewesen wäre, sorgte der manuelle Druck des Arztes dafür, dass ein Teil von K.s Darm aus ihrem Körper austrat. Als es endlich vorbei war, sagt sie, wurde sofort psychologische Unterstützung angeboten: ihrem Mann. "Ich blieb da irgendwie außen vor, es kam auch später niemand mehr zu mir." K. musste sich einer OP unterziehen, ihre Darmfunktionen sind für immer zerstört - entschuldigt hat sich nie jemand bei ihr. Sie sagt: "Ich liebe meinen Sohn, aber mit meiner Gesundheit habe ich einen hohen Preis gezahlt."
Müssen Frauen, die Kinder wollen, darauf gefasst sein, einen solchen Preis zu zahlen? Was ist es, das Barbara K. passierte: schlechte Medizin? Einfach Pech? Ein Schicksal, das einer Frau eben widerfahren kann, die sich dem Risiko aussetzt zu gebären? Oder war es eine Form der ärztlichen Willkür, ein Akt der Gewalt gegen eine hilflose Frau?
Strukturelle Gewalt im Kreißsaal
Die Soziologin Christina Mundlos sagt: Ja, es ist Gewalt. Und: "Das ist kein neues Thema." Aber eines, über das lange geschwiegen wurde. Nachdem an ihr selbst ein medizinisch nicht notwendiger Dammschnitt ohne ihre Einwilligung vorgenommen worden war, begann Mundlos zu recherchieren. Sie hat Statistiken ausgewertet und Interviews geführt - zu finden in ihrem Buch "Gewalt unter der Geburt" - und geht davon aus, dass fast die Hälfte aller Frauen im Kreißsaal Erfahrungen mit verbalen oder körperlichen Übergriffen macht.
Eine Körperverletzung wie Barbara K. zugefügt wurde, ist aus ihrer Perspektive nur ein extremes Beispiel eines Systemfehlers: Frauen befinden sich unter der Geburt in einer maximal wehrlosen Lage - und treffen dabei immer wieder auf Geburtshelfer, die dieser Wehrlosigkeit mit Macht begegnen. Mundlos schreibt: "Frauen werden geschwächt (...), es wird sich über ihre körperliche und psychische Freiheit und Integrität gewaltsam hinweggesetzt." Sie bezeichnet das als strukturelle Gewalt, die nicht unbedingt absichtlich durch die individuell Beteiligten entsteht, sondern aus einem Machtgefüge im Kreißsaal heraus. Offizielle Zahlen gibt es zu den Vorfällen nicht: "Aus den Qualitätsberichten der klinischen und außerklinischen Geburtshilfe kann man aber erkennen, dass sich die Situation verschärft hat, was Eingriffe unter der Geburt angeht."
Gewalt in der Geburtshilfe ist zu einem Kampfbegriff in der Debatte um Kreißsaalschließungen und Hebammenmangel geworden: Es geht teils um brutale Eingriffe, es geht aber auch um verbale Entgleisungen, um psychologischen Druck, der auf Gebärende ausgeübt wird, und um Handgriffe, die demütigend bis körperschädigend wirken können. Um abwertende Sprüche wie "Stellen Sie sich mal nicht so an", um Oberärzte, die Gebärende als Lehrbeispiele für ihre Assistenten ohne Rückfrage vorführen.
Dass das Thema gerade jetzt aufkommt, hängt mit einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung zusammen: Die kleinen und großen Grenzüberschreitungen, die Frauen aufgrund ihres Frauseins erleben, werden derzeit so dringlich wie lange nicht mehr diskutiert, die #MeToo-Debatte steht dafür exemplarisch. Dabei verschiebt sich zum einen die Grenze dessen, was Frauen glauben, widerspruchslos über sich ergehen lassen zu müssen. Zum anderen ändert sich das Konzept von Grenzen an sich: Eine unangekündigte Untersuchung mag für die eine Frau eine ertragbare Unannehmlichkeit sein, wenn man am Ende ein gesundes Baby auf dem Arm hält - doch das mindert nicht das Recht der anderen Frau, sie als gewaltvollen Überfall zu erleben, das zu benennen und sich dagegen zu wehren.
"Mir wurde nichts erklärt." - "Niemand hat mir zugehört."
Das Phänomen ist also kein Debattengespenst oder eines, das nur besonders aufgeklärte Mütter umtreibt: Gewalt in der Geburtshilfe wird von der Weltgesundheitsorganisation als internationales Problem anerkannt und beschrieben. Die WHO definiert verschiedene Formen: verbale Drohungen und Beschimpfungen, körperliche Misshandlung wie Fixierung, Schläge, sexueller Missbrauch, medizinisch oft unnötige Eingriffe wie etwa ein Dammschnitt oder ein Wehenhemmer und in manchen Fällen auch ein Kaiserschnitt, wenn er als Folge von schlechter Betreuung zustande kommt. Auch Vernachlässigung zählt dazu - wenn die Hebamme also nicht bei der Frau bleibt, weil sie noch weitere Geburten betreuen muss - und mangelhafte Grundversorgung.
Fast 50 Prozent der Gebärenden in Deutschland erleben laut Schätzungen Drohungen oder physische Gewalt unter der Geburt. Bei 94 Prozent aller Geburten werden medizinische Eingriffe vorgenommen. 22 Prozent werden eingeleitet. 37 Prozent der Babys in Deutschland kommen mithilfe eines operativen Eingriffes wie Saugglocke, Zange oder Kaiserschnitt zur Welt. Vor zwanzig Jahren, als etwa gleich viele Kinder geboren wurden wie derzeit, waren es 25 Prozent.
"Leider gab es auf der Geburtsstation nur eine funktionierende Dusche, aus der kochend heißes Wasser kam", erzählt eine Frau aus einem Klinikum in der Stuttgarter Region. Eine andere Frau erlebte, dass die Hebamme zu ihr sagte: "Jetzt veratmen Sie mal ihre Wehen richtig, sonst gibt es einen Kaiserschnitt", obwohl die Frau schon längst Presswehen hatte, es also nicht mehr viel zu veratmen gab, dann wurde sie von der Hebamme alleingelassen. "Ich habe nach der Hebamme geschrien, aber sie kam einfach nicht, ich hatte solche Angst", erzählt eine dritte Frau aus einer österreichischen Klinik.
Wenn Frauen über schlechte Erfahrungen sprechen, geht es um Medikamente, die ohne Absprache verabreicht werden, und um extrem schmerzhafte Untersuchungen am Muttermund ohne Rücksprache mit der Frau. Es geht um das Gefühl von Hilflosigkeit, weil niemand im Kreißsaal Zeit hat, es geht um Hebammen, die den Partner anweisen, die Beine seiner Frau gegen deren Reflex und Willen auseinanderzudrücken und festzuhalten. Und es geht um Sätze wie: "Mir wurde nichts erklärt." - "Niemand hat mir zugehört."
"Auch wenn es für viele Ärzte und Hebammen eine selbstverständliche Routine ist: Bei einer Intervention ohne Einverständnis der Frau müssen wir von einem Übergriff sprechen", sagt Angelica Ensel, die im Departement Gesundheitswissenschaften an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg lehrt. Schmerzhafte oder unerwünschte Venenkatheter, vaginale Untersuchungen - viele der Maßnahmen, die zu Übergriffen werden können, sind Teil der Klinikroutine, sie sollen dazu dienen, den Geburtsprozess zu kontrollieren.
Das gehört einerseits zur Aufgabe des Kreißsaalteams, widerspricht aber unter Umständen den Wünschen der Frau, die Kontrolle über ihren Körper zu behalten. Dazu gehört auch das häufige Messen der Herztöne des Kindes und der Wehen, was bei unauffälligen Geburtsverläufen umstritten ist und das dazu führt, dass die Frau sich über lange Zeiträume nicht frei bewegen kann.
Experten sprechen von der sogenannten Interventionskaskade, also dem Effekt, dass ein Eingriff in die Geburt sehr oft einen weiteren nach sich zieht. Langes Liegen am Wehenschreiber intensiviert die Schmerzen, Schmerzmittel wiederum können die Wehen hemmen, dagegen werden Wehenmittel verabreicht, die wiederum den Geburtsverlauf verkomplizieren und dann nicht selten in operative Eingriffe durch Saugglocke oder eben Kaiserschnitt münden können. Experten gehen davon aus, dass ein Zusammenhang mit den Personalengpässen in vielen Geburtskliniken besteht: Je weniger Zeit für die einzelne Frau bleibt, umso größer die Wahrscheinlichkeit, dass es zu Komplikationen und Eingriffen kommt. Und je mehr Eingriffe es gibt, desto mehr steigt die Gefahr auch gewaltsamer Interventionen.