Babygeschrei erregt in Deutschland ja bekanntlich immer Aufmerksamkeit. Das liegt nicht nur daran, dass Kinder hierzulande als aussterbende Art gelten, sondern auch daran, dass sich Erwachsene in die zwei Lager teilen, die Babys entweder so niedlich wie Katzenvideos finden oder aber so nervtötend wie Donald Trumps Flaumtolle. Entsprechend viel Aufregung löste daher am Donnerstag die Nachricht des Statistischen Bundesamtes aus, dass in Deutschland 2015 so viele Kinder geboren wurden wie seit der Jahrtausendwende nicht mehr. 738 000 Babys erblickten das Licht der Bundesrepublik - propere 23 000 mehr als im Jahr zuvor, in dem die Zahl der Neugeborenen erstmals seit zehn Jahren wieder über die 700 000 geklettert war. Der Zuwachs an Babys, Windeln und Breiflocken, schon seit 2011 bemerkt, scheint also anhaltend zu sein.
Das schreit nach all den Jahren, in denen sich die Deutschen aufs Aussterben vorbereiteten, auf eine Methusalemgesellschaft in Rentnerbeige, auf leere Dörfer und löchrige Rentenkassen nach einem Jubelruf. Und der kam prompt. Besonders guter Hoffnung gab sich Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD), erst vor drei Monaten selbst zum zweiten Mal Mutter geworden: Die Entwicklung sei "ein schönes Signal", sagte sie. Damit sei deutlich, "dass immer mehr Frauen und Männer Kinder wollen".
Dabei ist der Baby-Zuwachs noch gar nicht sicher analysiert. Denn was das Neugeborenen-Hoch wirklich bedeutet, werden Statistiker frühestens Ende des Jahres wissen: "Wir können derzeit nichts Genaues sagen", erklärt Anja Conradi-Freundschuh vom Statistischen Bundesamt. Sie vermutet, dass nur zu einem Teil wirklich ein neuer Trend zum Kinderkriegen hinter der wachsenden Geburtenzahl steckt und zu einem wesentlichen Teil die Jahrgangsstärke der jungen Elterngeneration. "In den Jahren 1981 bis 1991 gab es einen kleinen Babyboom in Deutschland, damals stieg die Zahl der Geburten stark", so Conradi-Freundschuh. "Das sind die Jahrgänge, die jetzt selber Kinder bekommen."
Der Beitrag der Flüchtlinge zum Kindersegen ist jedenfalls klein
Zumindest ein wenig scheint die Gebärfreude aber gewachsen zu sein; darauf deutet auch die im Dezember verkündete höhere Geburtenziffer hin, wonach Frauen in Deutschland nun durchschnittlich 1,47 Kinder bekommen statt, wie noch 2013, 1,37. Und es sind, anders als man vermuten mag, nicht die Flüchtlinge, die den Baby-Boom befördern. "Die Zuwanderung ist ein Beitrag, aber er ist eher klein", sagt Sebastian Klüsener, Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock. Er vermutet, dass die jüngere Familienpolitik zwischen Elterngeld und Kita-Ausbau ihre Wirkung zeigt. "In unseren Nachbarländern im Norden und Westen, die derartige Maßnahmen früher einführten, sehen wir direkt hinter der Grenze deutlich höhere Geburtenraten als bei uns", sagt er, "da muss es - wie an der Grenze zum deutschsprachigen Teil Belgiens - nicht einmal Sprachunterschiede geben. "Jetzt nähern wir uns diesen Ländern wieder an", sagt Klüsener.
Politische Maßnahmen richten es aber wohl nicht allein. Es müsse sich auch etwas in den Köpfen ändern, sagt Norbert Schneider, Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung. Die mehr als 150 verschiedenen Zuwendungen, die Familien in Deutschland aus öffentlichen Töpfen erhalten können, änderten nur wenig an der Freude am Elternsein, wenn nicht zugleich an Einstellungen gearbeitet werde, so Schneider: Er beklagt, dass es "keine positiv besetzten Familienleitbilder in Deutschland" gibt. Die nicht berufstätige Mutter ist als Heimchen hinterm Herd verschrien; die berufstätige Mutter aber ebenso negativ besetzt. Würden beide Lebensentwürfe positiver gesehen, wäre die Entscheidung fürs Kinderkriegen leichter.
Es könnte eine neue Entwicklung geben: den Trend zum Drittkind
Aber wer es einmal wagt, der wagt es womöglich auch öfter: Statistische Laien mit persönlich erworbener Expertise in Sandkastenfragen machen jedenfalls bereits einen Trend hin zu größeren Familien aus. Als Einzelkind-Eltern fühle man sich in einer zum Drittkind neigenden Umwelt mitunter fast wie kinderlos, klagen manche. Auch die Demografin Olga Pötzsch vom Statistischen Bundesamt hat Ähnliches schon gehört. "Bislang ist der Anteil an zweiten und dritten Kindern nach unseren Daten aber derselbe geblieben", sagt sie dazu. Allerdings werde dies nur alle vier Jahre erfasst, sodass ein Trend zum dritten Kind womöglich noch nicht erkennbar sei.
Schon heute gibt es jedenfalls in Westdeutschland einen Hang zum Ganz oder Garnicht. "Hier sehen wir eine starke Polarisierung", sagt Pötzsch. "Entweder bekommen die Frauen kein Kind oder mindestens zwei." In den neuen Bundesländern gehören Kinder immer noch stärker zum Leben dazu. Es gibt weniger Kinderlosigkeit (14 Prozent gegenüber 22 Prozent im Westen), aber auch mehr Mütter, die nur ein Kind haben (39 Prozent gegenüber 29 Prozent im Westen). Trotz des kleinen Babybooms könnte es also durchaus sein, dass die Kluft zwischen Eltern und Kinderlosen derzeit größer wird. Und trotz des Babysegens gilt es, eine Freude zu dämpfen: Die Deutschen werden nicht mehr. Denn 2015 gab es nicht nur besonders viele Geburten, sondern mit 925 000 auch eine hohe Zahl an Sterbefällen. Und der "Sterbeüberschuss" zwischen Todesfällen und Geburten, wie Statistiker das ungerührt nennen, ist im Vergleich zu 2014 sogar größer geworden.