Geburt in der Öffentlichkeit:Atmen! Pressen! Twittern!

Live aus dem Kreißsaal: Immer mehr werdende Eltern dokumentieren intime Details über die Geburt ihres Kindes im Netz, noch bevor es richtig auf der Welt ist. Warum nur? Und wer will das wissen?

Titus Arnu

"Morgen! Die Wehen sind da!" Welch ein Glück. Die werdende Mutter spürte allerdings nicht nur starke Kontraktionen der Gebärmutter, fast noch heftiger war ihr Mitteilungsdrang. Die Nachrichten über die biologischen Vorgänge im Kreißsaal richtete sie an 484.707 Menschen. So viele Follower hat "Fatbellybella" alias Erykah Badu bei Twitter. Die Fans folgen der amerikanischen Soul-Diva überallhin, sogar bis zur Live-Entbindung ihres dritten Kindes.

Harper Seven Beckham

"Sie ist so ruhig, so ladylike, so feminin!" Victoria und David Beckham schwärmten kurz nach der Geburt ihrer Tochter Harper Seven im Internet über das neue Familienmitglied. Und Papa David stellte umgehend dieses Babybild auf seine öffentliche Facebook-Seite.

(Foto: AP)

"Erst mal durchatmen", tippte Erykah Badu in einer Pause zwischen den Wehen. Während des finalen Geburtsvorgangs konnte sie das iPhone dann doch nicht mehr halten. Der werdende Vater übernahm die wichtige Aufgabe des Twitterns: "Massiere ihr gerade die Füße", schrieb er, und kurz darauf: "Ich sehe den Kopf! Viele Haare!" Frau Fatbellybella sendete dann eine Art Geburtsanzeige, ebenfalls per Kurzmitteilung: "Es ist ein Mädchen." Das Töchterchen heißt Mars Merkaba. Es freuen sich: Vater Jay Electronica, Bruder Seven Sirius Benjamin und Bruder Puma Sabti Curry.

Was lernen wir daraus? Als modernes Baby von Welt muss man einen speziellen Namen haben, etwa Harper Seven Beckham oder Zahara Marley Jolie-Pitt - und man braucht dringend einen privaten Pressesprecher, der jeden Pups sofort in die Öffentlichkeit bläst. Familieninterna gelangen auf diese Weise fast schneller ans Licht der Welt als das Baby selbst.

Nicht nur Hollywoodstars, Popmusiker und Models verbreiten aus eigenem Antrieb intimste Details zu ihren Fortpflanzungsbemühungen und den entsprechenden Ergebnissen, auch immer mehr Privatleute machen ihr Privatleben von der ersten Schwangerschaftswoche an bis zur Niederkunft öffentlich. Früher bekamen Verwandte und enge Freunde eine gedruckte Geburtsanzeige, heute posten werdende Mütter die Ultraschallbilder ungeborener Familienmitglieder auf Facebook. Per Twiddeo lassen sich in Sekundenschnelle die ersten kurzen Filme des Babys verbreiten, und auf Audioboo gibt's den ersten Schrei zu hören.

Warum eigentlich? Und wer will das alles wissen?

3.219.801 Menschen wollen das wissen, zumindest im Fall von "Mrs. LRCooper", besser bekannt als Lily Allen. Die 26-jährige britische Popsängerin twittert gerne Fotos von schlafenden Hunden, prallvollen Einkaufstüten oder verstopften Waschbecken - Ehrensache, dass sie gemeinsam mit ihrem Mann Sam Cooper Ende November die Geburt ihrer Tochter (Spitzname: Mini-Cooper) auf ihrem Lieblingsmedium kommentierte: "absolut fantastisch!"

Dass Prominente so etwas verkünden, hat sicher auch mit Selbstschutz zu tun. Denn sobald bekannt wird, dass Stars wie Victoria Beckham oder Carla Bruni ein Kind erwarten, umzingeln Paparazzi die Familie. Twitter und Facebook sind aus Sicht vieler Stars daher Mittel, um die Neugier des Publikums zu kanalisieren - und zu kontrollieren.

Imagepflege auch für Nicht-Prominente

Das beantwortet aber nicht die Frage, warum auch immer mehr nichtprominente Eltern die Geburt ihrer Kinder per Facebook, Twitter und SMS bekanntgeben. Soziologen, die sich mit der Auswirkung von sozialen Netzwerken befassen, sprechen von "Identitätsmanagement". Mit Hilfe von Blogs, Pinnwand-Einträgen und Kurznachrichten lässt sich das eigene Image wunderbar frisieren. Die Frage ist nur, was an diesem öffentlich zugänglichen Konstrukt echt ist und was Show. Wenn der Grünen-Politiker Cem Özdemir auf seiner Facebook-Seite schreibt, dass er "mächtig stolz" auf die Geburt seines zweiten Kindes sei und öffentlich der Hebamme dankt, dient das sicherlich auch der Imagepflege.

"Liebes Twitter, meine Fruchtblase ist gerade geplatzt. Nun time ich meine Wehen mit einer iPhone-Anwendung", teilte Sara Morishige Williams der Weltöffentlichkeit mit, als sie im Sommer 2009 mit ihrem Sohn niederkam. Die live ins Internet übertragene Geburt war eine Eigenwerbung, denn bei der werdenden Mutter handelte es sich um die Frau des Twitter-Gründers Evan Williams. Die Handy-Software namens Contraction Tracker konnte sie allerdings nicht allzu lange verwenden. Denn eine Stunde später twitterte Sara Morishige Williams: "Die Wehen zu messen, machte Spaß - bis sie anfingen, richtig zu schmerzen."

Frisch gebackene Eltern betwittern sich gerne auch gegenseitig, um zu betonen, wie groß die Harmonie ist. Nach der Geburt ihrer Tochter Willow Sage (Weide Salbei) schrieb die Sängerin Pink im vergangenen Juni: "Sie ist umwerfend, genau wie ihr Daddy." Carey Hart, der umwerfende Daddy, zwitscherte umgehend zurück: "Sie ist hinreißend, genau wie ihre Mama." Nach der Geburt von Harper Seven im Juli vermeldete Victoria Beckham das perfekte Familienglück auf Twitter, und David Beckham schwärmte über die Tochter: "Sie ist so ruhig, so ladylike, so feminin", schrieb er, "wie sie atmet, lacht, Geräusche macht - alles ist so unglaublich!"

Privatleben auf 140 Zeichen

Die Grenzen zwischen den echten Beckhams und den künstlichen Beckhams verschwinden. Der New Yorker Internet-Experte Jeff Jarvis vertritt den Standpunkt, dass es sowieso keinen Unterschied mehr gibt zwischen dem analogen und digitalen Leben. Er fordert mehr Privates in der Öffentlichkeit, denn dies sei eine Voraussetzung für Fortschritt: "Privates und Öffentliches sind nicht im Krieg. Wir brauchen beides."

Der Fortschrittswert von Twitter ist allerdings begrenzt - auf 140 Zeichen pro Nachricht. Viel zu wenig, um komplexe Gedankengänge auszudrücken, so dass es meist bei plakativen Äußerungen bleibt: "Wir freuen uns sehr, die Geburt unseres Babys Hattie Margaret McDermott bekannt zu geben. Xoxo", twitterte Schauspielerin Tori Spelling nach der Geburt ihrer Tochter im Oktober. Dazu veröffentlichte sie ein Foto von den Füßchen ihres Kindes; Xoxo bedeutet übrigens "Umarmung und Küsschen".

Dienste wie Facebook und Twitter wollen zum digitalen Abbild des Lebens ihrer Nutzer werden, und das scheinen viele Leute wörtlich zu nehmen. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg hat kürzlich definiert, was er vom vernetzten Bürger erwartet: Dass dieser "die ganze Geschichte seines Lebens auf einer einzigen Seite erzählt". Die psychologischen Hürden, sich eines Tages von Facebook abzumelden, würden dadurch immer höher, wie Internet-Guru Jeff Jarvis schreibt - durch die Abnabelung von Facebook verlöre man dann quasi sein Leben.

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