Frühlingsgefühle:Sinn der Sinnlichkeit

"Die Leute sind fast wie verhext, Veronika der Spargel wächst" - so kann man auch umschreiben, was Neurotransmitter machen. Ein frühlingshaftes Gespräch über die Tulpen im Bauch.

Birgit Lutz-Temsch

In der U-Bahn schauen die Menschen morgens fröhlicher, die Biergärten füllen sich mit lachenden Menschen - mit den ersten Sonnenstrahlen scheint ein neues Leben zu beginnen. Psychotherapeutin Walburga Maria Schacht erklärt, warum das so ist, und was wirklich dran ist an den frühlingshaften Schmetterlingen im Bauch.

sueddeutsche.de: Was ist dran an den Frühlingsgefühlen - gibt es sie wirklich?

Walburga Maria Schacht: Natürlich! Das ist keine Einbildung. Literarisch sind Frühlingsgefühle vielfach beschrieben, denken Sie an "Veronika, der Lenz ist da" oder das Gedicht von Eduard Mörike, in dem es heißt: "Frühling lässt sein blaues Band wieder flattern durch die Lüfte ...". Wissenschaftlich befasst man sich mit Frühlingsgefühlen erst seit jüngerer Zeit. Frühling ist die Jahreszeit des Umbruchs, der Wechsel von kalt auf warm löst ganz spezielle Bedürfnisse und Gefühle aus.

sueddeutsche.de: Welche Bedürfnisse?

Schacht: Zum Beispiel nach einem Neubeginn. Man hat plötzlich das Bedürfnis, sich zu schälen, sich frei zu machen, umzustellen, zu verändern. Äußerlich betrachtet, legen die Menschen einige Kleiderschichten ab, aber damit einher gehen oft auch innere Prozesse: Das wachsende Bedürfnis, etwas abzulegen, abzuschließen, etwas Neues zu beginnen.

sueddeutsche.de: Und deshalb verliebt man sich im Frühling leichter?

Schacht: Gestern hat ein Mann zu mir gesagt, es sei doch logisch, wenn man sich im Frühjahr verliebt: Weil sich die Frauen auf einmal alle ausziehen und man wieder mehr Haut sieht. Das ist zwar eine sehr männliche Erklärung, aber es ist schon was dran. Verliebtsein ist ein Ausdruck von Spannung. Bevor man sich verliebt, geht immer eine Zeit voraus, in der man unsicher ist, in der man depressiver ist, in der man Defizite hat. Im Winter lebt man zurückgezogener, arrangiert sich mit Defiziten. Deshalb ist der Frühling nicht unbedingt der Auslöser für das Verlieben, eher kann man vielleicht sagen: Über den Winter ist ein "Stau" entstanden.

sueddeutsche.de: Werden im Frühling mehr Kinder gezeugt als im Herbst?

Schacht: Nein. Das Frühlingsgefühl hat gar nicht so viel mit Sexualität zu tun, sondern eher mit Neubeginn, mit sozialen Bedürfnissen, und mit Verlieben. Irgendwann hat man schlicht genug vom Winter, dann bricht dieses Verlangen, endlich wieder rauszugehen, auf. Kälte ist immer Stress, und Wärme ist Entspannung. Man legt sich zum Beispiel auf eine Wiese und sendet mit solchem Verhalten Reize aus, die Wärme und Körperkontakt signalisieren. Im Winter legt man sich nicht auf eine Wiese, und dann kann auch niemand kommen und nach einer Zigarette fragen - man kommt weniger in Kontakt. Es liegt also eine Spannung in der Luft und deswegen verlieben sich die Menschen einfacher.

sueddeutsche.de: Was ist dann im Frühling anders?

Schacht: Der Frühling ist eine Zeit voller Sinnlichkeit und Spannung: Man hört wieder Vögel zwitschern, man nimmt wieder Gerüche wahr, die Tiere verlieren ihr Winterfell und paaren sich. Und auch der Mensch sucht wieder vermehrt nach sozialen Kontakten, geht wieder hinaus, legt Mäntel ab, trifft sich im Biergarten.

sueddeutsche.de: Merken Sie die Jahreszeiten auch in Ihrer Praxis?

Schacht: Oh ja! Gestern hat mir eine Frau erzählt, die schon lang von ihrem Mann verlassen wurde, dass sie zum ersten Mal wieder geknutscht hat. Die Patienten treffen leichter Entscheidungen, lösen sich eher aus defizitären Beziehungen. Im Winter kommen eher Menschen, die depressiv sind, die Schlafstörungen haben, sich zurückziehen und grübeln, mit weniger großem Veränderungswillen, das ist so meine persönliche Erfahrung.

sueddeutsche.de: Was geschieht im Frühling im Körper?

Schacht: Klar ist: Die Lichtmenge steigt, man hat mehr und helleres Licht, schon morgens. Es gibt im Auge spezielle Rezeptoren, die nur für das Licht zuständig sind, und die die Lichtmenge an das Gehirn melden. Das Licht synchronisiert die innere Uhr - unter anderem über die Melatoninproduktion - das Schläfrigkeitshormon.

sueddeutsche.de: Je mehr Licht, umso fitter fühlt man sich also.

Schacht: Genau. Denn mit dem Licht steigt indirekt die Produktion zum Beispiel von Noradrenalin, Dopamin und Serotonin, das sind unter anderen die Stoffe, die für Aktivität zuständig sind. Das Licht hat also eine antidepressive Wirkung, es steigert die Wachheit und hebt dadurch die Stimmung.

sueddeutsche.de: Warum spüren dann manche Menschen Frühjahrsdepression?

Schacht: Wenn der Frühling kommt, sagen manche: Oh je, jetzt muss ich wieder raus, alle sind verliebt, nur ich nicht. Im Winter hat man oft mit dem schlechten Wetter eine Ausrede für mangelnde Aktivität - das fällt bei schönem Frühlingswetter weg. Diese Menschen spüren dann einen richtigen Druck, selbst auch fröhlich und fit zu sein - und das macht sie noch antriebsloser. Es gibt richtige Frühjahrsdepressionen. Menschen, die darunter leiden, hassen den Frühling.

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