Friedhofs-App "Wo sie ruhen":Geschichtsstunde zum Durchspazieren

Friedhofs-App

Johannes Heesters hat auf dem Nordfriedhof seinen eigenen kleinen Garten.

(Foto: Lena Jakat)

Wollten Sie schon mal Arthur Schopenhauer begegnen? Oder einfach nur ein paar vergessene Berühmtheiten Ihrer Stadt kennenlernen? Mithilfe einer neuen App verwandelt sich der Friedhof um die Ecke in eine Geschichtsstunde zum Hindurchspazieren. Eine Erkundung.

Von Lena Jakat

Eine Faschingsmaske, eingeritzt in eine kleine quadratische Metallplatte, ziert als einziges Schmuckelement den schlichten Grabstein. Darunter liegt Peter Paul Althaus. Der Dichter und Dramaturg hinterließ bei seinem Tod 1965 nicht nur eine wiedererweckte Künstlerszene in Schwabing, um die er sich nach dem Zweiten Weltkrieg verdient gemacht hatte, sondern auch einen Entwurf für die eigene Grabrede. "Einstweilen Addio! - Werft Eure Schaufeln und streut Eure Blumen", heißt es da. "Und dann geht in die 'Seerose'. Ich habe dort hundert Mark hinterlegt. Die könnt ihr auf mein jenseitiges Wohl versaufen!"

Die meisten Besucher des Münchner Nordfriedhofs würden an der unscheinbaren Ruhestätte wohl einfach vorbeilaufen. Genauso, wie viele ahnungslose Spaziergänger auf dem Frankfurter Hauptfriedhof die schlichte Grabplatte links liegen lassen dürften, unter der Arthur Schopenhauer ruht. Oder auf dem Stadtfriedhof in Tübingen die schlichte Säule, die an Friedrich Hölderlin erinnert.

Das will eine neue App ändern. Herausgegeben von der Stiftung Historische Kirchhöfe und Friedhöfe in Berlin-Brandenburg, finanziert vom Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, führt "Wo sie ruhen" virtuell über 37 Friedhöfe in allen Bundesländern. Zu insgesamt 1007 Gräbern und den darin ruhenden Persönlichkeiten bietet die kostenlose App Informationen - als Web-App oder als Download für Android-Geräte. Wer sich die kurzen Texte von Schauspieler Hans-Jürgen Schatz vorlesen lässt, kann den Blick unbehelligt über die Gräber wandern lassen.

So lässt sich an einem Nachmittag, wenn der Novemberregen Pause macht und die Sonne das Herbstlaub an den Bäumen golden bepinselt, mit dem Handy in der Hand der Friedhof in der eigenen Stadt erkunden.

Initiiert hat das aufwändige Projekt der Hamburger Bundestagsabgeordnete Rüdiger Kruse, als "Angebot für Geschichts- und Ortserkundung", als "Aktion für persönliche Besinnung und Erfahrung, gegen das Vergessen". Der zeitgeschichtlich interessierte Friedhofsbesucher soll diskret Wissenswertes erfahren, wo große Infotafeln nur stören würden. Es sei "spannend zu erfahren", wem wo wie gedacht werde, sagt Initiator Kruse.

Einen Gedanken, den wohl jeder nachvollziehen kann, der schon einmal über den Friedhof geschlendert ist und sich gefragt hat, warum dieses eine Grab, in dem vor vier Jahrzehnten der Letzte beigesetzt wurde, noch immer so liebevoll gepflegt ist, oder warum die Hinterbliebenen einen Verstorbenen ausgerechnet mit dieser oder jener Grabinschrift bedachten.

Der Dorotheenstädtische Friedhof in Berlin zum Beispiel diente nach seiner Gründung im 18. Jahrhundert vornehmlich als Ruhestätte für die ärmere Bevölkerung, bevor er für die dort begrabenen Künstler berühmt wurde. Dort kann man auf diese Weise 24 Berlinern begegnen, manche von ihnen stadt-, manche weltbekannt und manche, die sich dem Besucher erst Jahrzehnte nach ihrem Tod vorstellen.

Die Kopfhörer auf den Ohren oder den Blick auf dem Display, erfährt der Besucher zum Beispiel, dass Heinrich Mann erster Präsident der Deutschen Akademie der Künste der DDR hätte werden sollen, bevor er 1950 im kalifornischen Exil verstarb. Dass unter dem schlichten Stein mit dem eingeritzten "H" der Künstler John Heartfield liegt, nach dem Ersten Weltkrieg ein wichtiger Vertreter des Dadaismus. Oder dass die Autorin Anna Seghers eigentlich Netty Radványi hieß und im mexikanischen Exil lebte.

Zwar ist die App technisch nicht sonderlich ausgereift. Der versprochene "Rundgang", die Navigation zu den aufgeführten Gräbern, verkommt auf dem Münchner Nordfriedhof eher zur herbstlichen Schnitzeljagd. Aber dank der Fotos und der Lagehinweise zu jeder aufgeführten Ruhestätte, findet sich der Nutzer trotzdem zurecht zwischen alten und ganz frischen Gräbern, zwischen aufgewirbeltem Laub und gelben Astern.

Die tiefe, warme Stimme aus der App erklärt, wie der Architekt Manfred Eickemeyer den Geschwistern Scholl sein Atelier für den Widerstandskampf zur Verfügung stellte oder wie der Maler Carl Theodor von Piloty für seine pathetischen Landschaftsmalereien berühmt wurde. Doch warum liegen Otto und Gertrud Piloty nicht beim Rest der Familie unter dem imposanten Obelisken der Familie begraben, sondern unter einem grob behauenen Stein ein paar Meter weiter links? Fast möchte man sich zu dem virtuellen Friedhofsführer umdrehen und ihn fragen.

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