Für Angehörige von Verbrechensopfern ist ein Gerichtsprozess oft die einzige Möglichkeit, mit der Tat abschließen zu können. Nichts ist für sie schlimmer als eine Tat, die nicht aufgeklärt werden konnte. Außer vielleicht: ein Verbrechen, das nicht gesühnt wird, obwohl es eindeutige Beweise für die Schuld des Täters gibt.
Einen solchen Fall recherchierte ich 2010. Es ging um einen Mord in einer Videothek Anfang der Neunzigerjahre. Eine junge Mitarbeiterin war damals von einem Räuber so brutal geknebelt worden, dass sie erstickte. Der Täter wurde gefasst, man fand einen Fußabdruck und Faserspuren seiner Jacke am Tatort, er besaß eine Waffe und hatte eine Fußverletzung, die er sich offenbar bei der Flucht zugezogen hatte. Doch im Prozess gaben ihm seine Schwester und seine Nichte ein Alibi, der Mann wurde im Zweifel freigesprochen.
Ich kann mich noch gut an den Witwer erinnern, den ich in seinem Haus in Norddeutschland besuchte. Ein Dreher bei Mercedes, Vater von drei Kindern, der nach dem Mord an seiner Frau so schwer traumatisiert war, dass er sich kaum mehr aus dem Haus traute und von den Playmobil-Figürchen seiner Kinder die Waffen entfernt hatte.
Weil Mord nicht verjährt, wurden die Spuren der Tat 2006 noch mal mit der neuesten Technik untersucht. Und tatsächlich: Am Knebel der getöteten Frau fand sich eine DNA-Spur des Freigesprochenen. Damit könnte die Geschichte nun eine gute Wendung haben, die Familie mit der Tat abschließen. Aber nicht nach gängigem Recht. Wer einmal freigesprochen wurde, dem darf nur in absoluten Ausnahmefällen noch mal der Prozess gemacht werden. Etwa, wenn der Täter ein Geständnis ablegt. Ne bis in idem, nicht zweimal in der derselben Sache, heißt der Grundsatz, den es in allen Rechtsstaaten gibt. Was aber, wenn nachträglich ein eindeutiger Beweis für die Schuld des Freigesprochenen gefunden wird?
Die Frage beschäftigt seit dem Mord in der Videothek Justiz und Politik, immer wieder gab es Vorstöße, das Strafrecht zu reformieren. 2021 dann der Durchbruch: Die große Koalition änderte einen Paragrafen der Strafprozessordnung, sodass die Wiederaufnahme eines Verfahrens in einem solchen Fall möglich sein sollte. Anlass war der Mord an der Schülerin Frederike von Möhlmann in den Achtzigerjahren. Der mutmaßliche Täter war freigesprochen worden, viel später hatte man seine DNA an der Kleidung des Opfers entdeckt.
Hier könnte die Geschichte nun ein gutes Ende haben. Doch im vergangenen Jahr erklärte das Bundesverfassungsgericht die neue Regelung für rechtswidrig. Sie widerspreche dem Grundgesetz, dass niemand zweimal wegen derselben Tat verfolgt werden darf. Für den Familienvater aus Norddeutschland hätte das nichts mehr verändert. Der mutmaßliche Mörder seiner Frau war bereits 2009 an Krebs gestorben.