La Boum:Die Zeit der Kirschen

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(Foto: Steffen Mackert)

Viele Franzosen wählen rechtsextrem. Die Nachbarn unserer Kolumnistin in Paris sehen sich aber lieber als Nachfahren der Revolution.

Von Nadia Pantel

Weil Sie ja nicht unter einem Stein leben, haben Sie mitbekommen, dass die Franzosen gerade mal wieder ihren Präsidenten wählen. Oder zum ersten Mal eine Präsidentin. Das wäre dann Marine Le Pen. Die erste Runde der Wahl ist durch, und bis zum 24. April hat Frankreich nun Zeit, sich zu überlegen, wen von den beiden es lieber mit dem Atomkoffer herumlaufen lassen will. Zwei Wochen, in denen man täglich abwägen kann: Hmm, will ich eine Frau im Élysée-Palast, die von ihrem Vater eine offen faschistische Partei geerbt hat? Oder lieber nicht? In den Talkshows diskutieren sie nun: Ist Marine Le Pen rechtsextrem? Mir ist unklar, was dagegen spricht, ich musste den Ton runterdrehen, weil diese Kolumne gleich fertig sein muss.

Sicher ist nur: Um mich herum muss ich niemanden fragen. Auf diesen Wahlkarten, die zeigen, wer sich wo für wen entschieden hat, ist mein Arrondissement tiefrot. In meiner Nachbarschaft haben 47 Prozent den Linksradikalen Jean-Luc Mélenchon gewählt. Eine Historikerin hat dieses Wahlergebnis neben eine Karte aus dem 19. Jahrhundert gelegt. Und siehe da: Dort wo zu Zeiten der Pariser Kommune im Frühjahr 1871 die meisten Straßenbarrikaden errichtet wurden, hat Mélenchon heute die besten Ergebnisse. In Paris lieben sie solche Kontinuitäten. Im Osten der Stadt leben die Nachfahren der Revolutionäre, im Westen die reichen Säcke. Wenn man auf die heutigen Mietpreise schaut, stimmt das zwar nicht mehr so ganz, man muss wohnortunabhängig ein reicher Sack sein, um in Paris gut zu leben. Aber im Osten der Stadt haben die Buchhändler die Regale mit marxistischer Literatur viel besser sortiert.

Noch linker als jetzt nach der Wahl erschien mir mein Viertel, als die erwähnte Pariser Kommune vergangenes Jahr Geburtstag feierte. Tausende kamen auf den Friedhof Père Lachaise, um dort gemeinsam "Le temps des cerises" zu singen. Ein Lied über Kirschen und Liebe und die Hoffnung auf glücklichere Tage. Was für eine bemerkenswerte Revolution, die so ein zartes Lied zu ihrer Hymne macht. Bei den Meetings von Mélenchon singen sie übrigens schon längst nicht mehr "Le temps des cerises", sondern immer und jedes Mal die französische Nationalhymne.

Es war jedenfalls Mai, die Kommune hatte Geburtstag, und alle sammelten sich vor der "Mauer der Föderierten", wo vor 150 Jahren die letzten Kämpfer der Kommune von der französischen Armee erschossen wurden. Die netteste Nachbarin der Welt hatte zu Hause bleiben müssen, um über den Mittagsschlaf ihres Sohnes zu wachen, aber die Menschen sangen "Le temps des cerises" so laut und klar, dass es bis in ihr Fenster geweht wurde. Bei der "Internationalen" kam es dann zu Dissonanzen, weil die vier anwesenden Revolutionschöre sich nicht einigen konnten, gemeinsam anzufangen. Aber ein Mann trug seine Tuba durch die Reihen der Grabsteine, und sie glänzte in der Sonne, und jemand machte eine Flasche Rotwein auf, und ich habe schon schlechtere Tage erlebt.

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