Folge 10 der Serie "Deutschlandreise":Die Vorgänge im Nordend

"Die Vollidioten" gehört zu den Klassikern der komischen Literatur. Schauplatz ist Frankfurt 1972. Mit Eckhard Henscheid beim Stadtspaziergang.

Von Hilmar Klute

Man muss ja eigentlich schon dankbar sein, wenn ein Roman mehr als eine Buchsaison lang im Gespräch bleibt. Wer das weiß, darf es wohl als Gnade ansehen, dass es manchen belletristischen Arbeiten tatsächlich vergönnt ist, Teil eines Kanons zu werden, also dermaßen aufgepumpt durch die Lesergenerationen wandern zu dürfen, dass alle sagen: Sieh an, ein echter Klassiker!

Eckhard Henscheids Sittengemälde "Die Vollidioten" ist so ein Buch. Allerdings wird es vorzugsweise in den Kanon der komischen Literatur eingeordnet und nicht so gerne in den für zeitkritische Romane. Hat das wohl damit zu tun, dass in Deutschland Bücher, welche die Gegenwart entspannt oder gar komisch spiegeln, dem Verdacht mangelnder Seriosität ausgesetzt sind? Oder trägt Eckhard Henscheid, der ja von Natur aus nicht gerade ein Ballflachhalter ist, selbst dazu bei? Indem er nämlich bei den "Vollidioten" selbst eher Entwarnung gibt, wenn sehr ernste Exegeten meinen, in dem Text eine Art Prisma der früheren Siebzigerjahre zwischen Studentenrevolte und neuer Innerlichkeit zu sehen. "Ein bisschen übertrieben", sagt Henscheid dazu in seinem schweren oberpfälzischen Zungenschlag, der seine auch in der mündlichen Rede gut geschliffenen Sätze ein wenig ausbremst.

Es gibt eine weitere Seltenheit an den Vollidioten zu bestaunen, und hier kann man schon mal den Brückenschlag zum Handlungsort des Romans machen: Es zeigt sich nämlich eine Stadt nach vierzig Jahren dankbar dafür, dass ein Schriftsteller ihr in seinem Roman ein Denkmal gesetzt hat. Vor zwei Jahren war die schöne volksbildende Einrichtung "Frankfurt liest ein Buch" eben jenen Vollidioten und ihrem Autor gewidmet. Die andere Seltenheit ist vielmehr eine Einmaligkeit: Als einzigem lebenden Schriftsteller wurde Henscheid der Spaß zuteil, dass ein Wirtshaus nach ihm benannt wurde, eben das "Henscheid" im Frankfurter Nordend, wo der Roman spielt.

Ein Tag im Januar mit ekligem Starkregen: Eckhard Henscheid ist mit dem Zug aus seiner Heimatstadt Amberg nach Frankfurt gekommen. In Amberg lebt er seit ein paar Jahren wieder; das hat auch damit zu tun, dass viele der alten Freunde aus der Frankfurter Vollidioten-Zeit nicht mehr am Leben sind: Robert Gernhardt, Friedrich Karl Waechter und Chlodwig Poth. Er sagt es auch gleich entschuldigend: In Frankfurt kenne er sich nicht mehr so gut aus. Aber das Viertel, wo die Vollidioten ihren ins Fastnichts gesteuerten Aktionismus auslebten, würde er schon noch finden.

In der U-Bahn dann erst einmal das freundliche Henscheid'sche "Was steht an?" Dazu das konzentrierte Henscheid-Gesicht, Mund leicht geöffnet, damit er nach dem Zuhören sofort weiterreden kann. Natürlich auch von seinem neuesten Vollidioten-Projekt - einem Essay über den evangelischen Landesbischof in Bayern, Bedford-Strohm, dem Henscheid dringend eins mitgeben muss. Eckhard Henscheid wird dieser Republik vermutlich bis zu seinem letzten Atemzug erklären, wer hier alles einen an der Murmel hat und warum.

U-Bahn-Station Bornheim-Mitte. Hier fängt die Vollidioten-Begehung an, weil vor dem Weg ins Nordend zumindest ein Foto vor dem "Henscheid" gemacht werden muss - die Kneipe hat zu dieser frühen Stunde noch geschlossen. Allerdings, das hat Henscheid gleich vorausgeschickt: Viel ist nicht übrig geblieben von den Schauplätzen seines allerersten Romans. Und das Wenige, das noch erhalten ist, erinnert auch nicht mehr so richtig an die tolle Atmosphäre damals, als jene Kapriolen stattfanden, die in Henscheids Roman diskret "Vorgänge" genannt werden.

Worum geht es eigentlich? Um eine Handvoll Männer und Frauen, die Anfang der Siebziger im Frankfurter Nordend eine Art Wettbewerb ausfechten, wer mit wem am besten zusammenpasst, wer wem Geld leiht, wer wem Briefe schreibt und wie es sich überhaupt so leben könnte zwischen der ausklingenden Studentenrevolte und den beginnenden Siebzigerjahren. Im Mittelpunkt steht Herr Jackopp, der es sich zur Aufgabe gesetzt hat, vorzugsweise das Fräulein Eva-Maria Czernatzke, im Bedarfsfall aber auch das Fräulein Birgit Majewski "flachzulegen".

Folge 10 der Serie "Deutschlandreise": undefined

Flankiert wird das ehrgeizige Unternehmen von einer Gruppe beobachtender und gelegentlich beratender Zeitgenossen; der gediegene Herr Domingo ist unter ihnen, der zu gigantischen Frühstücksgelagen einladende Herr Rösselmann und natürlich der Erzähler selbst, der als Eckhard Henscheid durch den Roman führt: "Die Sonne war schon prächtig auf und Frl. Majewski ohne Dank und alles weggegangen, auch von Fr. Czernatzke keine Spur, so dass sich die bange Frage stellte, wer mir ein Frühstück bereiten würde. Na wer denn! Natürlich der beste Frühstücker aller Zeiten, Herr Rösselmann, der gleich schräg gegenüber wohnte! Es ist überhaupt ein Merkmal unserer Gruppe und erklärt vielleicht manches, dass wir fast alle irgendwie schräg gegenüber wohnen."

Schräg gegenüber im Oberweg respektive in der Hebelstraße, sollte man komplettieren, wenn man die topografischen Parallelen ziehen möchte. Eckhard Henscheid zeigt auf den tadellosen Altbau, in welchem Rösselmann gewohnt hat; dabei war er sich lange Zeit selbst nicht sicher, ob die Majewski hier und die Czernatzke dort . . . - jedenfalls haben ihm kürzlich versierte Frankfurt-liest-ein Buch-Frankfurter die korrekten Adressen eingeflüstert. Es ist ja eigentlich ein überschaubares Karree, in welchem die Vollidioten ihrem Tag- und Nachtwerk nachgingen.

Im Lauf der vergangenen vier Jahrzehnte ist dieses Karree immer überschaubarer geworden. Das Café Härdtlein ist weg - hier war es, wo die Runde beschloss, dass sich Herr Jackopp dem Fräulein Czernatzke brieflich annähern sollte. Weg ist leider auch die Kneipe "Bei Mentz", in der sich eigentlich der Großteil der Romanhandlung abspielt und wo der Gesellschaftstheoretiker Max Horkheimer sich am Spielautomaten versuchte, verspottet und beschimpft vom cholerischen Wirt.

Folge 10 der Serie "Deutschlandreise": "Der Tag, an dem ich nach Frankfurt kam, war der Todestag von Adorno. So habe ich die Studentenbewegung vom ersten Tag an überwunden." - Eckhard Henscheid

"Der Tag, an dem ich nach Frankfurt kam, war der Todestag von Adorno. So habe ich die Studentenbewegung vom ersten Tag an überwunden." - Eckhard Henscheid

(Foto: Bert Bostelmann/bildfolio)

Die Stätten des hedonistischen Soziotops von damals sind versunken wie Vineta. Anstelle des Mentz ist ein Reisebüro am Eck, und im früheren Cafe Härdtlein ist eine physiotherapeutische Praxis eingezogen. Was aber noch steht, ist jenes Hochhaus mitten im Altbauviertel, von dem aus Herr Jackopp, so erwarteten es die Vollidoten, aus Liebe zum Fräulein Czernatzke in den Tod stürzen sollte, was natürlich nicht geschah. Es handelt sich im echten Leben wohl um das Haus, in welchem Ende der Sechziger die Pardon-Redaktion untergebracht war. Pardon war die erste große und wirkmächtige Satire-Zeitschrift der eigentlich damals noch einigermaßen jungen Bundesrepublik. Hans A. Nikel hatte das Magazin gegründet und die großen komischen Meister dieser Zeit als Paten gewonnen: Erich Kästner, Werner Finck und Loriot, der das Titelblatt der ersten Ausgabe zeichnete: Ein Knollennasenmännchen, das einen Blumenstrauß präsentiert, in dessen Mitte eine Bombe mit brennender Zündschnur liegt.

Eckhard Henscheid absolvierte damals ein Zeitungsvolontariat in Regensburg und hatte eigentlich nur spaßes- und probehalber einen Text an Pardon geschickt. Die Redaktion machte ihn im Handumdrehen zum Redakteur. Im Rückblick sagt er: "Die Zeit war nicht lustig, sie war auch mit viel Ekel verbunden." Weil Nikel seine Redakteure ziemlich gnadenlos in die Arbeitsgaleere gespannt habe. "Der Tag, an dem ich nach Frankfurt kam, war der Todestag von Adorno", sagt er. Also, der 6. August 1969, als der Mitbegründer der "Frankfurter Schule" starb. Theodor W. Adornos Gesellschaftskritik war das theoretische Futter für die Achtundsechziger. Die waren dem kulturkonservativen Adorno aber zu unkultiviert. Henscheid sagt: "So habe ich die Studentenbewegung vom ersten Tag an überwunden." Später nannten sich die Satiriker der Pardon-Generation in bewunderndem Spott "Neue Frankfurter Schule".

Eckhard Henscheid steht jetzt an der heute wie damals viel befahrenen Eckenheimer Landstraße. Und zwar direkt gegenüber dem elenden Waschbetonhaus, wo er ein Appartement bewohnte - im Erdgeschoss: "Man konnte dort eigentlich nur schlafen." Zu klein, zu eng muss es gewesen sein, man ahnt es, wenn man in die blinden Fenster schaut, vor die der Eigentümer irgendwann einen kleinen Balkon gezimmert hat, der wie ein ironischer Kommentar aussieht.

Jetzt also in das kleine italienische Restaurant neben dem Buchladen; Eckhard Henscheid bestellt Salat und Wasser, man möchte gerne von ihm wissen, wie er seinen Romanerstling heute, nach vierzig Jahren, beurteilt. "Es ist ein Meisterwerk mit Abstrichen", sagt er. Figurenkonstellation, Dramaturgie - alles bestens. Und die Abstriche? "Ein paar Anfängerfehler würde ich heute nicht mehr machen, auch die Zeitgeistwörter und die Parodie sind nach vierzig Jahren nicht mehr so toll."

Mag sein, aber der Roman ist eigenartig frisch geblieben, auch wenn er an Orten spielt, die man 2016 im Nordend vergeblich sucht. Das liegt auch daran, dass die Zeitläufte von damals in den Vollidioten höchstens am Rande vorkommen, obwohl die Vorgänge" um Herrn Jackopp und das Fräulein Czernatzke, wie Henscheid sagt, "mitten im Frankfurter Unheil" stattfinden. "Die Kaufhausbrände und all dies - es hat nicht so eine große Rolle gespielt, wie man denken möchte", sagt Henscheid. "Wenn das jemand im Buch vermisst, hat er recht."

Er sollte ja auch eigentlich ein kleines Experiment sein, dieser Roman - die Beschreibung einer Gruppe von reichlich verpeilten Leuten, die am Weltgeschehen vorbei ihren Verlustgeschäften nachgehen. Henscheid brachte die Vollidioten im Selbstverlag heraus, Freunde finanzierten den Druck; sie taten es natürlich auch deshalb, weil sie im Romangeschehen teils unter Klarnamen, teils mit Pseudonymen auftauchten. Aber dass der Herr Domingo selbstverständlich der spätere Schriftsteller und Georg-Büchner-Preisträger Wilhelm Genazino und das Fräulein Czernatzke die bekannte Journalistin und Biografin Elsemarie Maletzke sind, all dies ist ja inzwischen sauber entschlüsselt. Ein Roman, sagt Eckhard Henscheid, "hat ja seine eigenen Gesetze. Das bedeutet, dass Leute, die im Leben eher Niedergänger sind, im Roman plötzlich als Helden auftauchen."

Der Erfolg kam erst neun Jahre später. Da begannen die Verlage um das Buch zu buhlen, einige von ihnen boten gigantische Vorschusssummen; "die Vollidioten" waren zum modernen Klassiker geworden. Das Wort Kultroman schätzt Henscheid nicht so besonders. Und dass es ein politischer Roman über die Siebzigerjahre sein soll, findet er übertrieben. Aber ihm gefällt offenbar ganz gut, was Hans Wollschläger zu den Vollidioten gesagt hat, nämlich dass die Nichtigkeit und Banalität der ganzen Welt in ihnen Platz gefunden habe.

Jetzt, im Ausklang der Vollidioten-Wanderung, ist Henscheid an jener Ecke angekommen, wo früher das Gasthaus Mentz war und heute eigentlich so gut wie nichts Vollidiotisches mehr zu sehen und zu erleben ist. Man geht heute durch dieses Viertel und wundert sich, dass ausgerechnet hier das Boheme-Quartier Frankfurts gewesen sein soll. Sicher, es stehen fabelhafte Gründerzeit-Häuser in den schmalen Straßen, gute Restaurants und Kneipen gibt es sowieso. Aber an den Rändern fasert es aus, hier zwischen Oberweg und Mittelweg hat sich die Drogeriemarkt- und Häkelshop-Kultur ausgebreitet. Wie sich Stadtteile halt so ändern mit der Zeit.

"Es war damals tatsächlich ein bisschen wie Schwabing", sagt Eckhard Henscheid. Und jetzt taucht plötzlich ein älterer Mann mit langen weißen Haaren auf. Er schiebt einen Kinderwagen, und Eckhard Henscheid glaubt, dass dieser Herr in den frühen Jahren der nach Henscheids Empfinden allenfalls halblustigen Frankfurter Zeit einer von den Vollidioten gewesen ist.

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