SZ: Herr Öllinger, bitte beschreiben Sie Ihre Arbeit!
Kinder werden oft unterschätzt, sagt Michael Öllinger.
(Foto: Foto: dpa)Michael Öllinger: Ich bin Kognitionspsychologe. Ich untersuche die vermittelnden Mechanismen zwischen Wahrnehmung und Verhalten. Die Idee ist, wie immer bei Psychologen, menschliches Erleben und Verhalten zu erklären. Ich beschäftige mich speziell mit der Frage, wie sich das menschliche Denken entwickelt.
SZ: Klingt recht theoretisch.
Öllinger: Im Gegenteil. Wir gehen direkt in die Kindergärten. Da treffen wir Kinder in dem Alter, in dem sich vermutlich die grundlegenden Denkoperationen entwickeln. Gleichzeitig sind diese Kinder von ihrem Einsichtsvermögen her bereits weit genug, um für unser Denktraining offen zu sein.
SZ: Seit wann wird frühkindliches Lernen erforscht?
Öllinger: Damit beschäftigt man sich seit fast hundert Jahren. Da gab es beispielsweise die Idee, Kinder wie kleine Erwachsene zu behandeln, ihr Kindsein zu ignorieren. Oder Versuche, Kinder militärisch zu drillen. Leute wie Vygotzkij und Piaget haben versucht zu verstehen, wie kindliches Denken sich entwickelt. Das Dilemma ist: Man weiß immer noch nicht, was davon für die praktische Förderung des Denkens nützlich ist.
SZ: Was ist nun Ihr Ansatz, das Denkvermögen der Kinder zu fördern?
Öllinger: Wir beobachten, wie Kinder zwischen drei und fünf Jahren mit Problemstellungen umgehen. Wir haben Aufgaben und Spiele entwickelt, die den Kindern Spaß machen. Wir versuchen festzustellen, ob und wie sie bei solchen Aufgaben das Denken lernen.
SZ: Was müssen die Kinder dabei machen?
Öllinger: Es gibt eine Handvoll kognitiver Operationen, die sie bewältigen müssen: vergleichen, was kleiner und was größer ist, Entscheidungen treffen, Dinge Kategorien zuordnen, logische Schlüsse ziehen. Sie sollen andere Perspektiven übernehmen, Zusammenhänge von Ursache und Wirkung erkennen, Hypothesen darüber formulieren, wie die Welt funktioniert, aus einer Information extrahieren, was daran wichtig ist.
SZ: Ist das nicht zu schwierig?
Öllinger: Kinder werden oft unterschätzt. Kinder können ganz schön viel.
SZ: Was sind das für Aufgaben?
Öllinger: Bei einem Spiel geht es darum, einen Luftballon auf einer Kirchturmspitze zu befestigen. Wir fragen: Wie kann man das machen? Da kommen Kinder auf die tollsten Ideen. Wir wollen wissen, wie ein Vierjähriger auf so eine Problemstellung zugeht, welche Ansätze er benutzt, um das Problem zu lösen. Es ist ungeheuer spannend zu sehen, wie kreativ Kinder sind.
SZ: Und was haben die Kinder davon?
Öllinger: Unsere Idee ist: Man muss selbstständiges Denken fördern.
SZ: Geschieht das zu wenig?
Öllinger: In der heutigen Gesellschaft ist es kein Problem mehr, an Wissen heranzukommen. Man geht ins Internet und hat dort alles zur Verfügung. Man wird zum Sucher, nicht mehr zum Denker. Man glaubt, was man im Internet serviert bekommt. Da sind viele Lösungen für Probleme schon vorhanden, über die muss man dann selber nicht mehr nachdenken.
Aber selbst nachzudenken, selbst Lösungen zu finden, ist eine Basiskompetenz, die man überall im Leben braucht. An dieser Basiskompetenz sind wir interessiert. Wichtig ist dabei: Die Kinder merken, dass sie selbst denken können, und dass es Spaß macht, selbst zu denken. Die Entdeckung "Ich verstehe, was um mich herum vorgeht" ist doch in einer zunehmend komplexen Informationsgesellschaft eine sehr tröstliche Feststellung, die Geborgenheit gibt und Selbstvertrauen.
SZ: Glauben Sie, dass sich diese Basiskompetenzen so früh entwickeln?
Öllinger: In den ersten drei bis fünf Jahren entwickelt sich die Fähigkeit, Perspektiven von anderen Personen zu übernehmen, was für viele Aufgaben eine Schlüsselfunktion darstellen könnte. Wir versuchen, diese Annahme mit Spielen gezielt zu fördern.
Auch geht man davon aus, dass schon vor der Geburt in unserem neuronalen Apparat sehr viel passiert. Wenn wir zur Welt kommen, haben wir eigentlich schon alle Neuronen. Durch Lernen kommt es zur Differenzierung neuronaler Strukturen und zur Veränderung von neuronalen Verbindungen.
SZ: Es kommt also nicht auf die Menge der Neuronen an, sondern auf deren Verbindungen?
Öllinger: Ja. In einer stimulierenden Umwelt bilden sich mehr neuronale Verknüpfungen aus als in der Isolation. Jetzt könnte man fälschlicherweise daraus folgern: Je mehr Anregungen man Kindern bietet, desto mehr Verknüpfungen entstehen im Gehirn und desto intelligenter werden sie.
Darum glauben manche Forscher, man muss besonders früh anfangen mit dem Lernen, sonst werden Türen zugemacht und dann können die Kinder nie wieder aufholen, was sie da verpasst haben. Das stimmt sicherlich zum Teil. Wenn man zum Beispiel jungen Katzen ein Auge zuklebt, wenn also über einen bestimmten, engen Zeitraum keine visuelle Stimulierung da ist, dann sehen die später nicht richtig. Das kann auch nicht mehr erreicht werden.