Finanzkrise in Spanien:Bleierne Leere

In Spanien stehen ungefähr zwei Millionen Immobilien leer. Gleichzeitig fliegen täglich Familien aus ihren Wohnungen und Häusern. Wie kann das sein? Eine Reise durch Ruin und Ruinen.

Eine Reportage von Alex Rühle

Als stünde man in einem gigantischen Filmset für einen Science-Fiction. Die Welt nach der Menschheit: Straßen, so weit das Auge reicht, hügelauf, hügelab, schwarz glänzender Teer. Ordentlich mit Parkbuchten, Laternenmasten, Straßenschildern, Zebrastreifen. Schatten wurde auch mitgeliefert, alle 20 Meter ein Ahorn, im Herbstwind rauschen die Blätter. Ja, sogar an behinderte Mitbürger ist gedacht, in jeder Straße ist eine der Parkbuchten himmelblau bepinselt, darin ein akkurates Rollstuhlpiktogramm. Und neben jedem zweiten Ahorn ein Stromkasten, komplett mit Anschlüssen und Kabeln, klar, jedes Haus braucht Strom.

Es gibt bloß keine Häuser. Menschen sowieso nicht. Hier sind nur Sand, Wind und Büsche. Das Ganze ist nichts als strukturierte Leere, mitten in der Mancha, der Gegend, in der Don Quijote einst durch seinen Wahnsinn ritt. Papierkörbe, Gullydeckel, und alle 300 Meter ein Kreisverkehr, der im gleißenden Nachmittagslicht auf Autos wartet.

Als würde man durch den Traum eines Architekten laufen: endlos viel Raum, beliebig bespielbar. Nur dass der Architekt anscheinend aus seinem Traum geweckt wurde, bevor er ihn zu Ende träumen konnte. Surreal Estate.

Eine Wette auf die Zukunft und das ganze Land macht mit

Die Straßen haben himmlische Namen, Calle Jupiter, Avenida de las Perseidas, Calle de la Via Lactea. Passt ja. Schließlich haben die Spanier hier nach den Sternen gegriffen. Immer weiter, immer höher, eine Wette auf die Zukunft, und das ganze Land macht mit: Zwischen 2000 und dem Ausbruch der Krise wuchsen in Spanien 700.000 Häuser aus dem Boden. Pro Jahr. Tag für Tag wurden 75 Hektar Land bebaut. Über fünf Jahre hinweg. Mehr als in Großbritannien, Frankreich und Deutschland zusammen.

Gleichzeitig kletterten die Grundstückspreise zwischen 2000 und 2007 jährlich um mehr als zehn Prozent. Spanien wurde gelobt für seine gigantischen Bauprogramme. Von der Weltbank. Von Brüssel. Jetzt stehen überall Orte wie dieser herum, Valdeluz, geplant für 30.000 Menschen. Inklusive 18-Loch-Golfplatz und ICE-Bahnhof. Beides fertig. Nur die 30.000, die fehlen.

Tatsächlich leben hier nur eine Handvoll Menschen. Drüben, am Rand dieser potemkinschen Siedlung, da wo sie die uniformen Wohnklötze und Legohausreihen, die dieses ganze Areal überziehen sollten, noch fertiggekriegt haben.

Kümmert euch um Valdeluz

Am Dorfeingang ein riesiger Kreisverkehr, darauf thronten bis vor einem Jahr 14 große Buchstaben: Ciudad Valdeluz. Eines Nachts haben die Bewohner ein paar Buchstaben umgestellt und das Ganze bunt angemalt. Jetzt steht da "Cuida Valdeluz". Kümmert euch um Valdeluz.

Aber wie? Spanien ist pleite, und es stehen ja Tausende solche Geistersiedlungen und Nicht-Orte in der Gegend herum. Flughäfen, auf denen niemals ein Flugzeug gelandet ist. Gigantische Feriensiedlungen, 150 Kilometer vom Meer entfernt. Areale, so groß, dass man ihre jeweilige monotone Struktur am besten auf Satellitenbildern erkennt.

Die Grundschule hat wieder geschlossen

Auf dem Bürgermeisteramt, einem eingeschossigen Containerwürfel in einer Nebenstraße, sagen die beiden jungen Angestellten, es seien mittlerweile 2000 Menschen hier gemeldet, das sei doch schön. Yoli, die Besitzerin des Café Moon am Rande der Siedlung, schüttelt skeptisch den Kopf: "2000, ich weiß ja nicht . . ." Was sie weiß: Im August haben sie die Grundschule wieder geschlossen. Eine Privatschule, die viel zu teuer war. Alle Leute mit Kindern müssen also täglich zweimal ins elf Kilometer entfernte Guadalajara fahren. Und noch eines weiß sie: Die, die Geld haben, verschwinden alle wieder, es blieben nur die Kleinsparer: "Das Einzige, was die Menschen hier wirklich haben, sind Schulden. Schulden und viel Platz."

Tausende Zwangsräumungen seit 2008

Am selben Abend mitten in Madrid. Die "Plataforma por una Vivienda Digna" (Plattform für würdiges Wohnen) hat abends zu ihrer wöchentlichen Gesprächsrunde eingeladen. Circa 40 Leute sind diesmal gekommen, 40 Menschen, die alle ihre Hypothekenkredite nicht mehr zurückzahlen können. Graue Gesichter, zitternde Hände, Verträge, die aus Klarsichtfolien geholt und rumgereicht werden. Und Geschichten wie die von Matilda: Matilda ist 62. Ihre Tochter hat eine Wohnung gekauft. Matilda hat damals gebürgt. Warum auch nicht. Damals, das ist fünf Jahre her und war doch in einer anderen Epoche, damals also gab es Jobs und eine Zukunft. Die Krise kam, Matildas Schwiegersohn ging und ließ die Tochter mit den Kindern sitzen. Die kann jetzt nicht mehr so viel arbeiten wie früher, wegen der Kinder, und somit die Kreditraten nicht bedienen.

Wenn man in Spanien eine Rate seiner Hypothek nicht rechtzeitig zahlt, kann die Bank den Vertrag für nichtig erklären und das gesamte Darlehen auf einen Schlag zurückfordern. Welcher Kreditnehmer kann das leisten? Die Bank kann dann die Zwangsräumung veranlassen und die Wohnung zum aktuellen Preis zurückkaufen. Der aber beträgt nur noch die Hälfte von damals. Also muss nicht nur die Tochter, sondern auch Matilda ihre Wohnung verkaufen und räumen. Schließlich hat sie gebürgt.

Die Bank beknien? Oft versucht.

Wie gesagt, sie ist 62 Jahre alt. Ihr Mann ist durch die ganze Geschichte, die sich seit drei Jahren hinzieht, schwer krank geworden, Matilda muss ihn pflegen. Ihre Stimme klingt so gepresst, als sitze sie in einem tiefen, engen Schacht, immer wieder müssen sich einige der Zuhörer stellvertretend räuspern. Wenn jemand eine Frage stellt, winkt sie ab: die Bank beknien? Oft versucht. Woanders Geld leihen? Hab ich, jetzt hängt meine Schwester mit drin. Sie hat einen Anwalt genommen und den Prozess gegen die Bank verloren. Macht zusätzliche 30.000, die sie nicht zahlen kann. Soeben kam der Räumungsbescheid.

Das ist das Verrückteste an Spanien: Auf der einen Seite stehen 1,9 Millionen Wohnungen leer. Gleichzeitig aber wurden seit 2008 landesweit viele Tausend Verfahren zur Zwangsräumung eingeleitet. Die meisten dieser Immobilien stehen zwar leer oder sind Garagen und ähnliche Zweckbauten. Aber viele Wohnungen wurden tatsächlich geräumt. Die Leute der Plataforma sprechen von 40.000, die spanische Notenbank von 2405 im Jahr 2012. Die Wahrheit dürfte irgendwo in der Mitte liegen.

Matilda knetet das ganze Gespräch über ihre Hände so fest, als seien gar keine Knochen darin. "Ich schlaf nicht mehr. Ich schau nachts in dieses schwarze Loch und krieg keine Luft mehr."

Arbeitern steht das Wasser bis zum Hals

Es werden an diesem Abend acht ganz ähnliche Geschichten erzählt. Hoffentlich stehen sie nicht pars pro toto für das ganze Land. Schließlich haben sich 6,1 Millionen Spanier auf Pump eine Immobilie zugelegt. Bislang können die meisten zahlen. Und vielleicht ist der Tiefpunkt der Krise auch vorüber? Die Wirtschaft ist im drittes Quartal leicht gewachsen, die horrenden Arbeitslosenzahlen steigen zumindest nicht weiter an. In einigen Gebieten ziehen auch die Wohnungspreise wieder an.

Der Internationale Währungsfonds geht allerdings davon aus, dass die Preise im Durchschnitt weiter fallen werden. Vielen Banken und Sparkassen, die seinerzeit selbst einfache Arbeiter zu riesigen Krediten animiert haben, steht das Wasser bis zum Hals. Ein halbes Dutzend marode Sparkassen wurde verstaatlicht und musste mit EU-Krediten gerettet werden. Die Banken geben diesen Druck weiter an die Schuldner. An Leute wie Matilda.

Noch so ein Denkmal des Größenwahns

Seseña. Noch so ein Denkmal des Größenwahns, eine Siedlung im Nichts, 50 Kilometer südlich von Madrid. Geplant für 20.000 Menschen. Brutalistische Klötze, dunkelbraune Plattenbautristesse. Ganze Fassaden mit runtergelassenen Fensterläden. Plätze und Straßen, die in ihrer Symmetrie wahrscheinlich am Reißbrett was hermachen, in der Realität aber so unwirtlich sind wie Autobahnraststätten, Aufmarschplätze oder Flughafenterminals: Die Straßen viel zu breit, die Plätze kahl und leer, nur der Wind fühlt sich hier zu Hause. Alle Menschen wirken in diesem Setting viel zu klein.

Mittlerweile ist in Seseña rund ein Viertel der Wohnungen belegt. Ana und Elena zählen zu den Pionieren, die beiden Schwestern aus Madrid haben 2008 gekauft, auf dem Gipfelpunkt des Wahnsinns, als das ganze Land ein Immobilienspielcasino war. "Als wir sahen, dass die Wohnung unserer Nachbarn innerhalb von nur einer Woche 5000 Euro teurer geworden war, haben wir beschlossen, mitzumachen bei diesem Roulette."

Tja, und so haben sie gemeinsam eine Wohnung hier draußen bezogen. 80 Quadratmeter, 180 000 Euro. Die Rechnung klang gut: "In fünf Jahren verdoppelt sich der Preis, wir verkaufen und kaufen uns von dem Geld dann beide eine eigene Wohnung", sagt Elena. Der Preis hat sich dann doch nicht verdoppelt, im Gegenteil, dieselben Wohnungen kann man jetzt für 60 000 kaufen. "Ich konnte damals nachts um drei Geige spielen", sagt Ana. "Es war ein Traum. Jetzt ist es ein Albtraum."

Ana arbeitet in Madrid, im Parque de Atracciones. Das war mal ein Studentenjob, aber mittlerweile geht sie auf die 40 zu und ist einfach nur froh, Arbeit zu haben, auch wenn sie heute 20 Prozent weniger bekommt als vor zwei Jahren. Sie drückt die Knöpfe für die Achterbahn, "deutsche Wertarbeit, die fährt und fährt und fährt. Die kleineren Fahrgeschäfte werden in Italien gebaut, das geht alles dauernd kaputt. Wie macht ihr Deutschen das nur. Alles so perfekt." Ihre Achterbahn heißt Abismo. Abgrund. Sie lacht: "Tagsüber herrsche ich über den Abgrund. Nachts schau ich rein."

Nirgendwo gab es mehr Hauseigentümer als in Spanien

Elena hat Biologie studiert. "Alle meine Kommilitonen sind gegangen. Nach Deutschland, in die USA, weg, weg, weg. Ich bin die einzige, die hier einen Job gefunden hat." Als Biologin? "Ach was, nein, in der Stadtverwaltung." Und warum wollten die beiden so unbedingt eine Wohnung kaufen? "Weil das in unserer spanischen DNA drin ist", sagt Elena.

Der Wirtschafts- und Politikwissenschaftler Vicenç Navarro erklärt den unbedingten Wunsch der Spanier nach einer eigenen Immobilie durch die Franco-Jahre: Nach dem Krieg setzte im ganzen Land aufgrund der großen Armut eine Landflucht ein. Die Regierung schob ein gigantisches Bauprogramm an und warb gleichzeitig dafür, dass die Bevölkerung mit staatlich geförderten Krediten all die neuen Wohnungen kaufen solle. Der Wohnungsbauminister José Luis Arrese erfand Ende der Fünfzigerjahre den berühmten Slogan, dass aus allen proletarios propietarios werden. Das Wortspiel beinhaltet das Versprechen, durch den Kauf einer Wohnung auch sozial aufzusteigen, sich aus dem Proletariat qua Eigentum herauszuheben. Was es aber kaschierte: Die vermeintlichen Besitzer blieben lebenslang Schuldner.

Das funktionierte, solange es bergauf ging. Und die Banken hatten ein herrliches Geschäftsmodell gefunden: Noch dem einfachsten Hilfsarbeiter wurden riesige Kredite hinterhergeworfen, Spanien wurde das Land mit dem höchsten Anteil von Hauseigentümern in der EU. Eines Morgens aber wachten all diese Menschen auf und merkten, dass sie gar keine Eigentümer waren.

Nachbarn protestieren mit Trillerpfeifen und Transparenten

Am nächsten Morgen um acht, in der Calle Sierra de Palomeras. Sozialer Wohnungsbau im Südosten von Madrid, ein Klinkerblock. Im vierten Stock tigert Ahmed el Jaidi durch seine kleine Wohnung. Er hat vier Kinder, sie sind gerade alle aus dem Haus, die großen in der Schule, die kleine Tochter ist mit der Mutter zu Verwandten gegangen, sie soll nicht mitbekommen, was heute passiert. "So was läuft ja oft rabiat ab", sagt Jaidi. Mit "so was" meint Jaidi die vielen Tausend Räumungen, die in Spanien stattfinden: Ein Gerichtsvollzieher kommt in Begleitung der Polizei und wirft die Familie auf die Straße, ein Schlüsseldienst tauscht die Schlösser aus, das war's.

Das Haus, in dem Jaidi lebt, wurde vor einem Jahr privatisiert, die Miete hat sich seither verdoppelt. Im Januar wurde Jaidi nach 20 Jahren als Reinigungskraft entlassen. Er sagt, die Firma schulde ihm eine Abfindung. Jetzt hat er 8000 Euro Mietschulden. "Was soll ich machen, entweder die Kinder werden satt, oder ich zahle Miete." In der Küche steht ein gepackter Koffer, für den Fall, dass sie nachher tatsächlich räumen.

Vor dem Haus stehen sechzig, siebzig Leute mit Transparenten, Trillerpfeifen: Studenten, Rentner, Nachbarn. Auf der anderen Straßenseite scheinen vier Polizisten auf Verstärkung zu warten, nervös schauen sie die Straße auf und ab. Hier oben, vor Jaidis Wohnungstür, haben sich 15 Leute mit einer schweren Eisenkette aneinandergebunden. Zwei Frauen verriegeln von innen die Treppenhaustür, sie singen "No pasaran!"

Dem Gerichtsvollzieher einen Schritt voraus

Einer zeigt seine blauen Flecken her, in der Nierengegend, an den Oberarmen: eine Entmietung vor drei Tagen. Zuweilen greift die Polizei hart durch. Die meisten, die hier im Treppenhaus sitzen oder vor der Haustür stehen, haben schon einige solcher Aktionen hinter sich: Sie alle sind Aktivisten der Plataforma de Afectados por la Hipoteca (PAH, Plattform der Hypothekengeschädigten), eines Vereins, der sich zum Ziel gesetzt hat, einzelne Räumungen zu verhindern und die Räumungen generell politisch verbieten zu lassen. Auf der Webseite der Plattform kann man sehen, wo der Gerichtsvollzieher mit Polizei im Schlepptau an diesem Tag klingeln wird.

Wo sind die Vertriebenen alle hin? Und wo soll Ahmed nun hin? Die meisten schlüpfen bei Verwandten unter. Ahmed zuckt mit den Schultern. "Ich habe Geschwister, aber Platz für fünf Leute hat keiner von denen."

Vor zwei Tagen hat sich ganz in der Nähe von Ahmeds Wohnung eine Frau das Leben genommen, nachdem sie die Räumungsankündigung im Briefkasten gefunden hatte. Sie hinterlässt sechs Kinder. Und 957 Euro Mietschulden.

Serie von Selbstmorden

Als es losging mit den Selbstmorden, sagten die Banken, das seien psychisch labile Menschen, die mit ihren Depressionen halt zum Therapeuten hätten gehen sollen. Aber die Fälle häuften sich. Oder berichten nur die Medien mehr darüber? Die PAH führt auf ihrer Website eine "Liste der Selbstmorde aufgrund der Krise". Die letzten drei Einträge stammen vom 10., 17. und 27. September. Auch Matilda, die 62-jährige Schuldnerin aus dem Stuhlkreis, hat versucht, sich umzubringen. Andererseits stehen auf der Liste gerade mal 15 Fälle aus fünf Jahren. Und es ist sehr schwer, solche Taten monokausal zu begründen.

Vor dem Haus wird es laut: Vier Mannschaftswagen der Polizei rollen an, die Männer, die aussteigen, sind in voller Kampfmontur, Helme mit Plastikvisieren, Knieschützer, Stiefel. Die Demonstranten ziehen sich in den Hauseingang zurück, sie halten ihre Spruchpappen wie Schutzschilder vor sich: "Vecino, despierta, desahucian en tu puerta!" Nachbar, wach auf, sie räumen vor deiner Tür.

Vor dem Haus verhandelt ein Anwalt der Plattform mit dem Gerichtsvollzieher: Ahmeds ehemaliger Arbeitgeber schuldet ihm noch eine Abfindung, er war 20 Jahre bei der Firma angestellt. Der Anwalt kann es beweisen, er hat eine Kopie von Ahmeds altem Arbeitsvertrag dabei. Der Gerichtsvollzieher, dem die ganze Situation unangenehm ist, sieht sich das Schreiben an, schaut kurz zu den Demonstranten rüber, winkt ab und einigt sich dann mit dem Anwalt. Die Polizisten, die schon die Visiere runtergeklappt und nur noch auf ihren Einsatzbefehl gewartet haben, steigen wieder in die Mannschaftswagen ein. Die Menge jubelt, die Leute umarmen einander, einer ruft den Polizeiwagen hinterher: "Wie viele wollt ihr noch umbringen?!" Jaidi dankt allen per Megafon. Es ist ein Jubel, als hätte Jaidi gerade seine Wohnung überschrieben bekommen.

Sieg auf Zeit

Wie gesagt, Ahmed el Jaidi hat Mietschulden von 8000 Euro. Wie er bis zum 6. November das Geld auftreiben soll, weiß keiner. Da wird dann endgültig geräumt. Was macht er dann? El Jaidi zuckt mit den Schultern. "Ich hol' jetzt erst mal meine kleine Tochter nach Hause." Und die Demonstranten? Was machen die? "Wir kommen am 6. November wieder."

Alleinerziehende Mütter und Autonome teilen sich eine Küche

Flora. Aroa. Viqui. Drei Hausbesetzerinnen. Sie sitzen in Floras Wohnzimmer. Der Linoleumboden ist so blitzblank gewienert, dass sich die Sonne drin spiegelt. Ein Sofa. Ein Tisch. An der Wand lehnt ein großes Bleistiftporträt von Lionel Messi. Warum sie das nicht aufhängt? "Keine Nägel in die Wand!", sagt Flora apodiktisch. Die Heizung ist noch eingeschweißt in der Original-Plastikfolie: "Das Haus gehört ja der Bank. Ich will ihnen nicht schaden. Ich kann nur nicht mit zwei Kindern draußen schlafen."

So stellt man sich keine Hausbesetzer vor. Die drei Frauen sind alle um die 40. Sie sind alleinerziehend. Und sie leben seit April in der Corrala La Charca, einem fünfstöckigen Wohnhaus in Carabanchel, einem Wohnviertel im Südwesten von Madrid. Das Haus stand zuvor mehrere Jahre leer, es gehört der Banco Popular. Flora, die aus Äquatorial-Guinea stammt und bei Lidl an der Kasse arbeitet, sagt, sie wolle die Aktion sicher nicht verklären, das sei alles aus schierer Not geboren, aber es sei schon ein sehr interessantes Experiment für sie: "Hätt' ich nicht gedacht, dass ich mir mal mit Autonomen eine Küche teile." Und Aroa, eine eigentlich sehr bodenständige Frau, die ihr Geld als Aushilfskraft in einer Kantine verdient, sagt: "Wenn man nichts mehr hat, ist man plötzlich frei."

Das Gute an Krisen: Es bewegt sich was. Es ist in den vergangenen zwei Jahren ziemlich viel bürgerschaftliches Engagement in Spanien entstanden. Die Bewegung M15 ist zu einem beeindruckend großen Netzwerk verschiedener Polit-, Solidaritäts- und Aktionsgruppen gewachsen.

Richter wollen nicht mehr richten, Schlosser verweigern Aufträge

Im Herbst vergangenen Jahres schlossen sich 47 Richter zusammen, weil sie sagten, dass sie die Unterzeichnung der Zwangsräumungen nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können. Sie erklärten öffentlich, keine Räumungsordnungen mehr zu unterzeichnen, und forderten die Politik auf, endlich das harte Hypothekenrecht abzumildern. Kurz danach setzten mehrere Schlosserei-Innungen Listen auf, in die sich jeder Schlosser eintragen lassen konnte, der sich weigerte, weiterhin bei den Räumungen die Schlösser auszutauschen. Als dann auch noch die Selbstmorde zum Thema wurden, änderte die Regierung tatsächlich das Hypothekengesetz. Mittlerweile werden besonders bedürftige Familien zwei Jahre lang vor einer Räumung geschützt.

Und dann gibt es die Corralas. Hausbesetzungen haben in Spanien eine lange Tradition. Seit Ausbruch der Krise aber ist ihre Zahl stark gestiegen: 2012 waren circa 10.000 Häuser besetzt, nun sind es angeblich 12.000, fast alle klammheimlich, es war tabu, darüber zu reden. Bis am 15. Mai 2012 in Sevilla 36 Familien, die alle von Zwangsräumung bedroht waren, ein Haus besetzten und sofort an die Presse gingen. Sie erklärten das Haus, das zuvor fünf Jahre leer gestanden hatte, für rechtmäßig besetzt, tauften es "Corrala Utopia" und beriefen sich auf den Artikel 47 der spanischen Verfassung, den sie auch gleich groß auf die Fassade sprühten: "Jeder Spanier hat das Recht auf eine würdige Wohnung."

"Wir wollen keine Schmarotzer sein"

Im Grunde haben sie in La Charca dasselbe gemacht: Einige Familien leben hier, alleinerziehende Mütter mit ihren Kindern, und eine Handvoll Punks und Autonome, die unterm Dach wohnen. 90 Leute. Sie haben im Erdgeschoss eine Gemeinschaftsküche, und dann hat jeder noch einen Campingkocher in der eigenen Wohnung. Und sie haben draußen einen Gemeinschaftsgarten angelegt. "Wir wollen keine Schmarotzer sein", sagt Aroa. "Wir wollen Miete zahlen. Aber zu Krisenkonditionen."

Anfangs wurden sie angefeindet. "Aber seit immer mehr Familien hier leben, werden wir akzeptiert", sagt Flora. "Die Leute wissen alle selber, wie schwer es ist." Sie sieht bei Lidl an der Kasse, wie eisern mittlerweile auch Lehrer oder Ärzte sparen müssen. Gleichzeitig ist da diese alte Frau. "Ich glaube nicht, dass die reich ist, aber jede Woche kauft sie drei Einkaufswagen voll und verteilt das dann an die Armen."

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