Fehlende Selbstliebe:"Viele Menschen spüren sich kaum"

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Fehlende Selbstliebe: Bodo K. Unkelbach ist Chefarzt der Klinik für Suchtmedizin und Psychotherapie im Zentrum für Seelische Gesundheit Marienheide.

Bodo K. Unkelbach ist Chefarzt der Klinik für Suchtmedizin und Psychotherapie im Zentrum für Seelische Gesundheit Marienheide.

(Foto: Nils Jordan)

Psychiater Bodo Unkelbach spricht über die Grenzen zwischen Selbstliebe, Egozentrik und Narzissmus. Und erklärt, warum manche stärker unter Liebeskummer leiden als andere.

Interview von Lars Langenau

Bodo K. Unkelbach, 46, ist Psychiater, Psychotherapeut und Chefarzt der Klinik für Suchtmedizin und Psychotherapie im Zentrum für Seelische Gesundheit Marienheide. Der Klinikleiter hat das zuvor veröffentlichte Protokoll über die Magersucht gelesen. Er glaubt, dass die junge Frau die Krise noch nicht überwunden hat, aber ihre "ungeschminkte Ehrlichkeit" imponiert ihm. "Auf mich als Leser wirkt das erschreckend, gleichzeitig aber auch bewundernswert, wie sie sich schonungslos die Maske vom Gesicht zieht. Sie ist eine mutige Frau." Es folgt ein Gespräch über Sucht, Egozentrik, Narzissmus und fehlende Selbstliebe. Im Spätsommer 2016 erscheint sein Buch über "Selbstliebe lernen und leben" im Claudius Verlag.

SZ.de: Mich berührt die Intensität, mit der die junge Frau die Auswirkungen ihrer Magersucht schildert. Sehen Sie eine Chance, dass sie aus ihrer Krankheit ausbrechen kann?

Bodo K. Unkelbach: Es ist ihr ja schon gelungen, sich vom radikalen Hungern abzuwenden und zumindest in Gemeinschaft wieder zu essen. Glücklich ist sie damit noch nicht, aber ihre Situation hat sich etwas entschärft. Damit hat sie sich selbst bewiesen, dass Veränderungen möglich sind. Das ist gut und stärkt die Hoffnung. Sie leidet unter selbstzerstörerischen Anteilen, aber da ist auch ein unbändiger Lebenswille. Sie profitiert von ihrer Krankheit, aber es zeichnet sich auch eine große Unzufriedenheit ab. Diese Unzufriedenheit ist gut. Sie kann als hervorragender Motor für Veränderungen dienen. Um aus der Krankheit herauszukommen, kann ich nur empfehlen, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

In diese Richtung denkt sie ja. Sie sagt: Es gibt Hilfe, ich muss sie nur annehmen, ich muss es nur wollen.

Damit drückt sie genau den Zwiespalt aus, in dem sie steckt. Zwischen Müssen und Wollen. Müssen ist etwas, was von außen, von anderen, kommt. Damit wurde ihre Krankheit angestoßen. Sie verfolgte das Ziel, sich vollständig an den Maßstäben von anderen auszurichten. Wenn ich sage, ich muss, dann tue ich etwas, was andere von mir wollen. Wenn ich sage, ich will, dann tue ich es, weil es meine Entscheidung ist. Ein riesiger Unterschied.

Aber gibt es nicht auch fließende Übergänge zwischen Müssen und Wollen?

In vielen Bereichen schon. Im Zusammenhang mit der Essstörung ist die Frage, ob die junge Frau sich entscheidet, sich wieder in einem positiven Sinne um sich selbst zu kümmern, eine Überlebensfrage. Wenn sie sich entscheidet, etwas Gutes für sich zu wollen, dann ist das etwas, was von ihr stammt. Wenn sie Hilfe annehmen muss, dann wird sie scheitern. Denn dann wird sie nur etwas tun, was andere für richtig halten, ohne selbst dahinterzustehen. Wenn sie Hilfe annehmen will, dann ist das ihre Entscheidung. Wenn sie diesen Weg geht, wird kein Mensch auf dieser Welt sie davon abhalten können. Je stärker sie sich mit ihrem Überlebenswillen verbündet, desto eher wird es ihr gelingen, aus dem Teufelskreis ihrer Erkrankung auszubrechen.

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