Süddeutsche Zeitung

Fastenzeit:Die neuen Bußprediger

Kein Alkohol! Nur gute Gedanken! Die Fastenregeln sind in der säkularen Welt strenger als in jedem Kloster.

Kommentar von Petra Bahr

Keine Schokolade, kein Netflix und keine negativen Gedanken. "Sieben Wochen ohne" passen zum Partytalk und an den Rand des Elternabends. Manche Gespräche klingen wie ein Bieterwettbewerb. Fasten zwischen Aschermittwoch und Ostern ist zur Mode geworden, ein selbstauferlegter Rigorismus mit unheiligem Ernst. Es geht nicht mehr nur um Konsum, Kalorien und Komfort. Es geht um Lebenssteigerung, ja Erlösung. Viel ist vom Ich die Rede, das unter der Lebensstil-Adipositas des "Zuviel" ächzt. Die Fastenzeit gehört in dieser Deutung dem abgelenkten, schwachen, faulen, schwerfälligen Geist. Das Ich muss leiden.

Die wechselseitige Kontrolle der Fastenprogramme in Freundeskreisen hat bisweilen etwas Sektiererisches. "Wie, du fastest nicht?", bekommt zu hören, wer fröhlich zum Weinglas greift. Die Offenheit, mit der über die Fastenprogramme geredet wird, scheint proportional zur artikulierten Kirchenfremdheit zu wachsen. Kaum ist der Mensch der Kirche als vermeintlicher Moral- und Strafanstalt mit großer Geste entkommen, wird die Bestrafungsapp fürs Smartphone zum maßgeschneiderten Strafgericht. Bei Fehltritten wird Geld auf ein soziales Projekt gebucht. Ablass mit einem Wisch.

Der Abschied vom Christentum hinterlässt eine diffuse Sehnsucht nach Lebensintensivierung und ein neues Flagellantentum im Namen der gesteigerten Selbstwahrnehmung. Hart und unerbittlich wird der alte zum neuen Menschen perfektioniert, Fasten ist die neue Bußübung. Buße ist ein Wort aus der abgelegten Welt des Christentums, das der Sache nach aber seine beste Zeit noch vor sich hat. Das Christentum stört nämlich die Selbsterlösungshoffnungen, welche die neuen Bußprediger schüren, die sich heute Life-Coaches nennen. Buße meint: weniger bequem, weniger satt, weniger abgelenkt von den zentralen Lebensfragen zu sein. Wer will ich sein, wer könnte ich sein, was ist aus mir geworden? Buße als Übung muss nicht in gedrückter Stimmung passieren, mit Chorälen in Moll und verordneter Traurigkeit. Die Zeit vor Ostern ist kein auf Dauer gestellter Karfreitag, keine Zeit der Angstlust, die sich aus sicherer Distanz in wohligem Schauer dem Bild des gefolterten Christus aussetzt.

Allerdings gehört zu diesen Wochen sehr wohl eine Übung im Mitleidenkönnen. Deshalb ist das christliche Europa von Bildern eines hilflos Leidenden am Kreuz geprägt. Dieses Bild auszuhalten, sich vom Leiden anderer anrühren zu lassen, ist mindestens so sehr das große alte Thema der Passion wie die Selbstbesinnung. Es hat sich erst erledigt, wenn sich das Leiden von Menschen erledigt hat.

In den Wochen vor Ostern ist die Farbe im Gottesdienst nicht grau, sondern violett. Die Buße trägt die Farbe des Möglichkeitssinns. Der Sinn für die Möglichkeiten des Lebens aber erwacht erst, wenn die Fixierung auf das gekränkte, vollgestopfte, abgelenkte Ich unterbrochen wird, wenn es von sich selbst wegsieht auf das verborgene Andere, von woher im Tiefsten Hilfe kommt.

Selbsterlösung ist im Christentum unmöglich. Deshalb sind Bußzeiten Zeiten der Gnade, nicht der selbstverordneten Gnadenlosigkeit. Wer in christlichem Geist fastet, genießt die Ausnahmen von den Regeln: auf Reisen, bei Festen, in Trauer oder am Sonntag. Die säkular-religiösen Fastenregeln sind da viel strenger als jede klösterliche Vorschrift.

Petra Bahr, 52, ist in Hannover evangelische Landessuperintendentin.

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SZ vom 16.03.2019/ick
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