Süddeutsche Zeitung

Familientrio:Voll getestet

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Die neunjährige Tochter von Jessica R. aus München hatte in einer Woche schon zwei Tests in der Grundschule. Sie werden nicht bewertet, sind aber trotzdem eine Art Leistungskontrolle. Darf die Mutter ihr dabei helfen?

Meine Tochter, 9, hatte in einer Woche schon zwei Tests in der Grundschule. Sie werden nicht bewertet, heißt es, weil die Drittklässler hier ja noch zu Hause sind. Sie sollen aber für den Test lernen und ihn der Lehrerin zur Korrektur schicken. Also ist es doch eine Art Leistungskontrolle. Meine Tochter vermisst ihre Freunde und kann sich schwer konzentrieren. Darf ich ihr bei den Tests helfen?

Jessica R., München

Margit Auer:

Gerade bestimmen andere, was erlaubt ist und was nicht. Das ist sehr, sehr unbefriedigend und ich verstehe, wieso Ihre Tochter langsam sauer wird. Sie möchte selbst aktiv sein und nicht nur abwarten, was die Lehrerin jetzt wieder von ihr will. Das ist eine sehr gesunde Reaktion für ein neunjähriges Mädchen, finde ich. Zum Test: Rein formal ist es vermutlich egal, wie Sie handeln. Im Moment sind wir alle dabei, uns irgendwie durchzuwursteln. Die Lehrerin kann den Test wohl tatsächlich nicht bewerten, schließlich weiß sie nicht, ob die Mutter, der große Bruder oder der Zwerghamster geholfen haben. Oder das Internet. Nur: Was nutzt es Ihrer Tochter, wenn Sie helfen? Sie hat hinterher nur das Gefühl, wieder irgendetwas nicht geschafft zu haben. Über eine volle Punktzahl würde sie sich vermutlich nicht freuen. Wichtiger ist es, Ihrer Tochter eine Perspektive zu geben und ihr Mut zu machen. In einigen Wochen sieht die Welt schon wieder anders aus. Das wünsche ich mir selbst auch sehr.

Herbert Renz-Polster:

Natürlich ist das eine Leistungskontrolle, und natürlich sollen die Kinder damit bewertet werden - manche aufgewertet und mache abgewertet. Die alte Schule eben, die nun schon 150 Jahre so überlebt hat. Und die wohl auch diese Pandemie überleben wird. Und natürlich werden jetzt manche von den Schulkameraden Ihrer Tochter die Aufgaben locker schaffen und manche scheitern. Und zwar nicht, weil die einen sich anstrengen und die andern faul sind. Sondern zum Beispiel, weil die einen im Leben gerade Rückenwind haben, die anderen aber Gegenwind. Wie Ihre Tochter, die jetzt sicher keine Lernblockade hat, aber eine Blockade gegenüber von außen aufgezwungenem Fremdmaterial. Ich finde in dieser Situation ist alles alles ist erlaubt, damit die Kinder über die hingehaltenen Stöckchen kommen, ich rechne das mit Blick auf sehr viele Kinder in die Kategorie Notwehr. Die deutsche Schule schummelt ja auch. Denn wenn sich die Bildungsforschung in einem einig ist, dann in dem: Ausgezeichnet werden von der Schule immer die gleichen - nämlich diejenigen, die vom Leben schon ausgezeichnet sind. Machen Sie also was Sie wollen, solange Sie die tollen Sachen nicht vergessen, die Ihr Kind jetzt lernen kann, von seinem Herzen aus. Denn das wird Ihr Kind in seinem Leben tragen. Und was könnten auch wir als Gesellschaft jetzt dringender brauchen als beherzte Kinder?

Collien Ulmen-Fernandes:

Wahrscheinlich wird, wenn die Erde irgendwann in einer Atomkatastrophe untergeht, am nächsten Morgen ein Brief der Schule kommen, in dem die Schüler aufgefordert werden, einen Aufsatz über die Apokalypse zu schreiben. Darauf gibt es dann keine Note mehr. Bevor wir alle gestorben sind, wird der Bewertungs- und Benotungszwang dieses verdrucksten Bildungssystems nicht aufhören. Und ich finde es latent peinlich, wie ächzend Schulen und Universitäten sich an das digitale Lernen heran robben. Seit 10, 15 Jahren und ohne Krise hätte man sich darum kümmern müssen. Die Schüler sind selbstverständlich weiter. Bis zur Wiederaufnahme des normalen Schulbetriebs sollten Tricks erlaubt sein. Denke ich. Aber das haben Sie nicht von mir.

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Quelle:
SZ vom 30.05.2020
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